VIII. Ausblicke und Rückblicke: Das Opus 67
Sechzehn Jahre nach dem Opus 29 verfaßte Paul Juon 1920 sein Streichquartett Nr. 4 op. 67, das er dem Geiger Carl Wendling widmete und das, wie die älteren Geschwister, bei Robert Lienau in der Schlesingerschen Buch u. Musikhdlg. erschien. Dem »Thematischen Katalog« zufolge hat der Komponist das Finale durch Kürzungsvorschläge beinahe halbiert: einerseits sicherlich ein Ausdruck dafür, daß er durchaus in der Lage war, praktischen Gesichtspunkten etwas von der eigenen Erfindung zu opfern, andererseits aber auch ein bedenklicher Schritt, der – wenn er denn getan würde – uns ziemlich grausam einen Schlußtanz kupierte, der in seiner kernigen Geradlinigkeit ein ausgezeichnetes Gegengewicht zu den vorherigen Teilen des Werkes bildet.
Generell ist Juons Ton moderner geworden. Nicht aber in einer solchen Weise, daß Walter Niemanns eingangs zitierte Polemik deswegen gerechtfertigt wäre: Unvoreingenommen, hätte er feststellen können, daß durch paar Verbindungslinien von den aktuellen in die älteren Partituren die organischen Zusammenhänge sichtbar werden. Musikalische Longitudinalwellen finden wir im Allegro-Kopfsatz des Opus 67 durch genau dieselbe Art der Verdichtung erzeugt wie früher,
während die seismischen Impulse von Achteln über Triolen zu Sechzehnteln (0’30) zwar konzentrierter geworden, nicht aber »neu-erfunden« sind (in den Mysterien op. 57 zählt eine ganz ähnliche Figur zu den Protagonisten). Dann wird aus der rhythmischen Umgestaltung der ersten Linie ein eigentliches »Hauptthema« gewonnen, zu dem das Cello hier seine verdächtig nach Franz Liszts Faust klingenden Pizzikati spielt: die erste von zahlreichen Andeutungen, die lediglich weniger prall zu Tage treten als beispielsweise im Finale des Opus 11, dafür aber desto reichlicher vorhanden sind. Manch lapidare Floskel erinnert an Leoš Janáček, anderes an das zerbrechliche Rankenwerk, dem Franz Schrekers Kammersymphonie ihren unvergleichlichen Charme verdankt. Doch ob das bewußte Anlehnungen oder atmosphärische Ahnungen sind (»es liegt was in der Luft«), wird fallweise zu entscheiden sein. Schaut etwa das ausgedünnte Hauptthema des Andante, in dem sämtliche Vorgänge auf schlichteste Achtelgrüppchen basieren, absichtlich auf Gustav Mahlers vierte Symphonie, oder ist diese allerdings sehr auffallende Figur (0’34), auf die mich Lehel Donáth hingewiesen hat, wieder eine jener »Koinzidenzen«, über deren Zustandekommen man endlos rätseln könnte? Ist das Allegretto, in dem Juon einige seiner favorisierten Topoi zu einem geisterhaften Reigen bittet (bleich und fahl ist die Passage der Flageoletts und Bariolages), womöglich eine Zerrspiegelung der vorherigen Schwerelosigkeit, die dann im Trio (ab 1’45) um eine beschädigte Version des »Dies irae« kreist? Daß sich dieses »Scherzo« in seinen letzten Takten verflüchtigt, spräche freilich für eine Phantasmagorie – und könnte überdies dem finalen Tanz eine zusätzliche Signifikanz mitgeben: Die kleinen Anflüge des Zauberlehrlings von Paul Dukas, die Lehel Donáth bei 0’45 hört, wirken wahrlich wie eine Fortführung des gespenstischen Reigens in der Hexenküche, und das desto mehr, als bei 3’40 und 3’45 die gespenstische Szene beschworen wird, die Rückkehr des Meisters mit dem spitzen Hut zeigt. Der Besen will freilich nicht in die Ecke, sondern fegt weiter wild umher. Irgendwo liegt von vorhin noch der Kuckuck herum, der sich zu Tode gefall’n hat (2’38), und auch ein paar ruppige Worte auf Tschechisch stören die Harmonie. Vor allem aber rast die ganze Zeit Einer umher, der noch gar nicht »dran« ist: Dmitrij Schostakowitsch, weiland Schüler des ungeheizten Leningrader Konservatoriums, hämmert viele Jahre später in seinem e-moll-Klaviertrio fast dieselbe Totentanzweise, die Juons Quartettisten zu wiederholen nicht müde werden.