V. Zwei frühe Streichquartette
Wir sind demnach auf uns allein gestellt – und auf den collegialischen Gedankenaustausch. Bei der Vorbereitung dieses Textes entwickelte sich eine ausführliche Korrespondenz mit Lehel Donáth, dem Cellisten des Sarastro Quartetts, dem ich an dieser Stelle pauschaliter und szívélyesen für alle Auskünfte, Anregungen und Hilfestellungen danken möchte, die mir beim Umgang mit dem ungemein fesselnden Sujet von größtem Nutzen waren. Er war es auch, der mich sogleich darauf aufmerksam machte, daß das Streichquartett h-moll trotz seiner höheren Opuszahl nicht nach dem D-dur-Quartett op. 5 hätte entstehen können. Die Argumente waren und sind schlüssig. Einmal blieb das Werk, das nach Thomas Badrutts »Thematischem Katalog« am 15. November 1896 in Berlin uraufgeführt wurde, als einziges der vier Geschwister ungedruckt. Des weiteren ist auf dem Etikett des Umschlags sowie auf der ersten Seite des Manuskripts – das übrigens erst 1997 zusammen mit der ersten Symphonie op. 10 wiederentdeckt wurde – die ursprüngliche Opuszahl 4 ausgestrichen und durch eine 11 ersetzt worden (die freie Stelle soll eine verschollene Sonate für Violoncello und Klavier eingenommen haben). Die gewichtigsten Indizien, so Donáth, seien indessen auf stilistischen Ebenen zu suchen – in der Harmonik und vor allem in den unüberhörbaren Zitaten russischer Meister, die das erste Quartett durchziehen: das Nebenthema des Kopfsatzes (tranquillo) ab etwa 1’05 sowie die Diktion des Andante tranquillo, fernerhin im Trio des dritten Satzes ein Anflug des Schwanensee-Walzers, dessen Verfasser schließlich in den letzten Takten des Werkes mit seinem Violinkonzert fröhliche Urständ feiert.
Die Anspielungen und Zitate treten hier schneller ans Licht als in den drei späteren Quartetten, wo sie – wie zu zeigen sein wird – gleichwohl als eines von vielen »suprasegmentalen« Merkmalen vorhanden sind. Dabei beschränken sie sich nicht auf melodische oder rhythmische Querverweise. Auch formale »Zitate« können vorkommen, wie in dem unmittelbar nach dem »Opus 11« in Baku geschriebenen D-dur-Quartett zu sehen ist, dessen anfangs ein wenig überraschende Fünfsätzigkeit nachher doch nichts anderes ist als die Reflexion eines berühmteren Opus 5, das an vierter Stelle gleichfalls mit einem »überzähligen« Intermezzo aufwartet: die dritte Klaviersonate von Johannes Brahms.
Doch verweilen wir zunächst, weil es so schön, bei dem ersten Quartett. Alles ist hier klassisch. Der griffige Haupteinfall, der binnen weniger Takte an Dvořák und an Schubert vorüberweht; der schwelgerische Seitengedanke; nach der doppelten Exposition eine leicht verständliche Durchführung und eine Reprise (7’00), die, mit einer gewissen Freiheit behandelt, in eine H-dur-Stretta einmündet. Darauf das Andante tranquillo im Stile eines russischen Volksliedes, ein schlichtes A-B-A’-B’-A”, worin die einzelnen Varianten durch einige kontrapunktische Zutaten angereichert sind.
Was Juon an seinem Scherzo so mißfallen hat, daß er die vier querformatigen Partiturseiten mit einer dicken Mine ausgestrichen hat, wird sein ewiges Geheimnis bleiben: Weder liegt eine Störung der gesamten Proportionen vor, noch fehlt es der spritzig triolisierten Miniatur an dem nötigen Schwung, um sich als Kontrastfläche von dem anschließenden Finale abzuheben, das nun allerdings die ersten Zweifel am herkömmlichen »Formatierungswillen« des jungen Komponisten weckt. Erst einmal ist als die (zwiefach zu spielende) Exposition in drei deutlich voneinander geschiedene Teile gegliedert. Dem Tanz folgt ab 0’42 eine bordungeprägte Pastorale, die ihrerseits bei 1’23 auf eine »russische« Stretta prallt: Völlig unvermittelt schlägt die ruhige Bewegung in einen triolischen Puls um, der über die nächsten 32 Takte ohne jede Unterbrechung animato mit seiner Umgebung aus regelmäßigen und punktierten Achteln wettstreitet, und, wenn wir ein paar kleine Luftpausen abziehen, sogar 44 Takte des ersten Abschnitts regiert.
Damit aber nicht genug! Bei 1’05 fährt ein unerklärlicher ff-Blitz von drei Takten hernieder, der die Idylle für einen Augenblick in Wallung versetzt – wie man denken könnte, ohne weitere Konsequenzen, zumal wir bei der Wiederholung der Exposition darauf vorbereitet sind. Darauf gefaßt sind wir auch in der Reprise der Pastorale, nicht aber bei 7’42, wo dasselbe Element das più mosso des fragmentierten Tanzthemas erschüttert: als hätte sich ein Stückchen von seinem zuvor eroberten Platze losgerissen und nach einem kurzen Flug eine Notlandung hingelegt, oder als zeigten sich schon hier die »kompositorische Freiheit« und die »herrliche Fabulierlust, die ganz plötzliche Stimmungsumschläge wagt, ohne je ins Chaotische zu geraten«, wie das Thomas Badrutt im Kontext der weitaus jüngeren Flötensonate op. 78 als ein typisches Gestaltungsmittel Juons hervorgehoben hat.
Dieses frühe Indiz wäre kein Wunder, denn schließlich kann einer, so Friedrich Hebbel, immer nur werden, was er schon ist – und ist doch nach den Worten Friedrich Wilhelm Schellings »in jedem Menschen ein […] Gefühl, als sey er, was er ist, von aller Ewigkeit schon gewesen, und keineswegs in der Zeit erst geworden«. Wenn daran etwas Wahres sein sollte, dann müßten wir eigentlich schon in dem ersten Quartett einen Hang zu den »archetypischen Kleinmotiven«, zu den Steinen und Steinchen aus dem reichhaltigen Baukasten diagnostizieren können, mit dem Paul Juon so gern spielte. Und gleich fällt auf, daß das in die Durchführung des Finales eingelassene Fughettenthema (5’00) den Kopf der Tanzweise mit der Triolenbewegung des dritten Expositionsabschnitts kombiniert, obwohl sie eben noch ganz verschiedenen Biotopen angehörten. Dann zeigt sich, daß der Tanz- und Fugenkopf nichts weiter ist als die vom Andante tranquillo herübergereichte, erzrussische Melodie des A-Teils – das Massenspektrometer setzt sich in Gang und fördert eine elementare Fülle an Motiven zu Tage, deren mannigfache Erscheinungsformen zu verfolgen ein pures Vergnügen ist, weil darüber nichts vom Gesamteindruck, von den Mitteilungen des Werkes, von seinen lyrischen, dramatischen, tänzerischen und erzählerischen Inhalte verloren geht. Wie bei jedem Produkt einer wirklich kraftvollen künstlerischen Persönlichkeit – und um diese geht es in letzter Instanz doch immer – werden uns weder die Details von der Landschaft noch diese uns von jenen ablenken. Deshalb halte ich es für ungefährlich, als ein Beispiel das zergliederte Hauptthema des ersten Satzes mit einigen seiner Verwandten auf einem separaten Blatte unterzubringen
und gleichzeitig eine bis dato völlig hypothetische Behauptung zu wagen: ob nicht das Scherzo samt seinem Trio nur deshalb aus dem Verbund gestrichen wurde, weil es sich am weitesten vom Ableitungscharakter der Themen entfernte. Es wäre das die einzige Begründung, die einem Außenstehenden einleuchtete – und das desto eher, als das zirka sieben Jahre jüngere Sextett für Klavier und Streicher c-moll op. 22 mit einer raffinierten Besonderheit aufwartet, die möglicherweise schon das erste Quartett anstrebte: die variative, auf einer tieferen Ebene verankerte Querverstrebung, die dann in dem Sextett dazu führt, daß die drei Binnensätze Andante, Menuett und Intermezzo aus der achtfachen Veränderung eines einzigen Themas resultierten.
Nie & nimmer wäre ich auf diese Einzelheiten und Zusammenhänge gekommen, wenn ich mir nicht das gesamte Streichquartett Nr. 2 D-dur op. 5 zum analytischen Hausgebrauch selbst spartiert hätte: Von diesem Werk, das Paul Juon »dem Böhmischen Streichquartett in aufrichtiger Verehrung gewidmet« hat, gibt es, so weit ich weiß, nur die Einzelstimmen, und jemand, der nicht mit den Facettenaugen eines Mittelalter- oder Renaissancekomponisten ausgerüstet ist, wird aus vier simultan besehenen Stimmbüchern keinerlei Schlüsse auf die vertikalen Geschehnisse ziehen können. Die segensreiche Erfindung der neuzeitlichen Programmierungskunst vereinfachte die Arbeit beträchtlich und eröffnete, während die Linien allmählich zu überschaubaren Komplexen wurden, mancherlei Einsichten, die dem Kopisten bei der herkömmlichen »Schreiberei« so bald nicht aufgegangen wären.
Erstens: eine Art des blockhaften Komponierens, das sich nicht der lockeren Montage heterogener Abschnitte, sondern oft genug in der Wiederholung ganzer Formteile zeigt, die bei ihren »Reprisen« durch Stimmentausch und Transpositionen variiert werden. Gerade die einfachen Manipulationen, mit denen heutzutage ganze Passagen um kleine Terzen, verminderte Quinten u. dergl. auf- oder abwärts rücken, gibt erhellende Einblicke: Paul Juon verschiebt gern die Linien dem jeweiligen Tonartenplan entsprechend mit perfekt beherrschter Orthographie, verändert, indem beispielsweise eine Linie der ersten Geige in die Bratsche und eine solche des Violoncellos vielleicht in die zweite Geige rückt, die Klangtexturen, und kann sich dabei stets darauf verlassen, daß seine Spielsteine durch ein natürliches Eigengewicht auf- und durch seine schöpferische Gesamtkonzeption aneinander haften.
Zweitens: eine Neigung zur sofortigen baldigen »Durchführung« der Substanzen, die sich vielfach – wie bereits im Opus 11 zu spüren war – in der Umgruppierung der Grundmotive sowie in der jetzt nachdrücklicheren Veränderung musikalischer Longitudinalwellen äußert. Den rhythmischen Topos, Achtel etwa in Triolen oder Sechzehntel zu verwandeln, nutzt Juon mal zu schroffen Blockbildungen und Überlagerungskonflikten, mal zu rhythmischen crescendi: In Takt 24 (0’52) schaltet das Allegro moderato schlagartig um, und wir fühlen uns prompt in die Ouvertüre zur Verkauften Braut versetzt. Beim zweiten Mal zeigt die Bewegung indes nach oben, und wir zweifeln: ob es sich eben wirklich um ein absichtliches Zitat oder nicht doch um eine zufällige Notengleichheit handelte, die von der Reibungshitze der verschiedenen Impulse erzeugt wurde. Wie weit sich die Unterteilung des Taktes in »Zwölftel« verselbständigen kann, hören wir mit aller Rigorosität gegen Ende der Exposition und dann wieder am Schluß des Kopfsatzes: Die optische Ähnlichkeit dieser triolisch notierten, de facto als zwölfAchtel aufzufassenden Takte mit den Granitsteinen aus Jotunheim ist beim besten Willen nicht zu übersehen.
Drittens bestätigen sich Juons »Fabulierlust« und Freude am »Stimmungsumschwung« ebenso wie die raffinierte Motiv-Ökonomie, dank derer er seiner Musik ihren subkutanen Halt garantiert. Im fünften und sechsten Takt des Kopfsatzes hat die erste Violine eine Achtelfigur, die beim zweiten Erklingen durch eine acciaccatura angereichert ist und in dieser Gestalt ab 1’30 die Grundierung für das Nebenthema liefert, das wiederum bei 2’10 von einem più mosso aufgeschreckt wird, worin die zweite Geige in doppelt punktierten Vierteln + Sechzehntel bereits den Rhythmus vorgibt, der nachher im Finale die thematische Rolle übernimmt. Daß die beiden ersten Takte des Allegro moderato mit ihrer markanten Violingirlande am Anfang und Ende des Finalsatzes als plakativer zyklischer Festiger eingesetzt werden, soll der Vollständigkeit halber angemerkt sein. Auch sei nicht unterschlagen, daß Paul Juon in diesem Werk der Gefahr, sich zu verplaudern, nicht gänzlich entging – wie er’s offenbar selbst bemerkte, da er zum Zwecke der öffentlichen Aufführungen verschiedene vi-de-Striche anbot und zudem vorschlug, den dritten Satz wegzulassen.
Glücklicherweise hält sich niemand dran, denn gerade dieses zentrale Scherzo macht sich sehr schön nach dem eloquenten Adagio sostenuto, das uns mit seinem kantablen Violoncello-Auftakt in statu nascendi eine weitere Geste vorstellt, die vieles von Juons Musik kennzeichnet: das rezitativisch-deklamatorische Heraustreten eines Instruments aus dem Verbund, die wortlose Rhapsodie, die insbesondere bei den komplexeren Taktarten der späteren Jahre eine enorm raumgreifende Attitüde an den Tag legen kann.