III. Familiäre Wanderslust
Da sich an dieser Stelle zwangsläufig die Frage stellt, wie der kleine Bursche, der am 6. März (greg) / 23. Februar (jul) 1872 geboren wurde, ausgerechnet in Moskau unter den Flügel kam, scheint ein rückblickendes Innehalten angebracht. Hilfreich sind hier die relevanten Passagen aus dem Buche Einiges über den Ursprung des Graubündner Geschlechts der »Juon« sowie über unsere nächsten Vorfahren insbesondere, das Pauls jüngerer Bruder Eduard 1925 in Bern veröffentlichte. Daraus erhellt, daß die eigentliche Heimat der Juons in der Graubündner Gemeinde Masein, genauer in dem für seine romanische Saalkirche berühmten Orte Zillis liegt. Von hier aus trat 1830 ein damals 16-jähriger Jüngling namens Simon Juon die Reise nach Kurland an, wo bereits ein Onkel Hans sein Glück gemacht hatte. Der junge Simon kam nach Goldingen, dem heutigen lettischen Kuldiga, ging dort bei dem Konditor Peter Basorgia, einem Landsmann, in die Lehre und heiratete, bald nach dem unerwartet frühen Tode seines Meisters, die zehn Jahre ältere Witwe und mehrfache Mutter. Zillis und Umgebung sollen, so der Chronist Eduard Juon, diese Ehe als eine »Sensation«, sprich: einen Skandal empfunden haben. In Goldingen jedoch verlief das neue Leben anscheinend in erfreulichen Bahnen. Im Juli 1841 wird Wilhelm Adolph, der erste gemeinsame Sohn des neuen Paares, geboren, nach rund anderthalb Jahren, am 14. Dezember 1842 folgt der Bruder Theodor Friedrich.
Dieser ist eben sechzehn geworden, als ihn der Vater nach Riga schickt, wo er in einem angesehenen Weinhandel seine Lehre beginnt. Zwei Jahre später packt Theodor die Wanderlust: Ohne nennenswerte Kenntnisse der russischen Sprache, ausgestattet mit zehn Silberrubeln und dem Segen seiner Eltern, legt er innert eines halben Jahres, zumeist per pedes, bald anderthalbtausend Werst zurück, bis er schließlich in Odessa am Schwarzen Meer ankommt. Dort tritt er wieder in ein Weingeschäft ein, das aber nach kaum zwölf Monaten einem Brande zum Opfer fällt. Ironie des Schicksals: Als Theodor (Fjodor) endlich mit der Aussicht auf eine Anstellung in Moskau eintrifft, landet er als Schreiber ausgerechnet in der dortigen Feuerversicherungsgesellschaft. Eine saubere Handschrift, Gewissenhaftigkeit und Fleiß – in dreißig Jahren nimmt er zehn Tage Urlaub – bringen ihn auf einen kontinuierlichen Weg »nach oben«. Er wird Abteilungsleiter und -direktor, Vertreter des Generaldirektors und leitet während seiner letzten fünfzehn Lebensjahre zwei andere Moskauer Versicherungen. Seit 1868 ist er mit Emilie Brigitta Gottwalt aus dem russischen Kaluga verheiratet. Deren Vater, ein Modewaren- und Bekleidungshändler, war trotz seines ungewöhnlichen Familiennamens gebürtiger Schotte, die Mutter kam von der estnischen Ostsee-Insel Saaremaa.
Die sieben Kinder des Ehepaares Theodor Friedrich und Emilie Juon, die zwischen 1869 und 1881 zur Welt kamen – zwei weitere starben kurz der Geburt –, waren also schweizerisch-schottische Russen mit deutschen Einsprengseln und hatten damit alle Voraussetzungen, an den verschiedensten Orten heimisch zu werden. Emilie Louise, die älteste, absolvierte als Pianistin das Kaiserliche Konservatorium in Moskau, war zunächst Klavierlehrerin an der Musikschule von Astrachan und heiratete dann den Berliner Geigenbauer und Cellisten Otto Möckel. Nach Paul (1872) und Eduard (1874) wurde am 12./24. Oktober 1875 Konstantin Nikolaus geboren, der als Maler in Rußland und der Sowjetunion ein hohes und verdientes Ansehen erwarb: Es lohnt sich unbedingt, das vielfältige, unverkennbar russische Œuvre dieses Juon in Augenschein zu nehmen – die lichten Farben eines Sommertages etwa, die natürlich aufbrechenden Kräfte eines Frühlingsanfangs oder die quasi impressionistisch tanzenden Flocken verschneiter Birkenwälder. Daß daneben der »neue Planet« verherrlicht wurde und gerade in der Zeit des »Großen Vaterländischen Krieges« die bekannten Aufmärsche auf der Staffelei standen, sei nicht verschwiegen – als Konstantin Fjodorowitsch am 11. April 1958 starb, war er Erster Sekretär des sowjetrussischen Künstlerverbandes.
Davon hat sein Bruder Paul nichts mehr erfahren. Am 21. August 1940 war er der Welt, die wahrlich andere Sorgen hatte, abhanden gekommen. Sechs Jahre, nachdem er seinen vorgezogenen Ruhestand angetreten und in Vevey die Casa mia als »Alterssitz« hatte bauen lassen, fiel der Vorhang. Die Kinder sind längst groß: Ina, Aja und Ralf aus der Ehe mit der 1911 verstorbenen Russin Katharina Schachalowa um die vierzig, rund anderthalb Jahrzehnte älter also als die Halbgeschwister Stella, Irsa und Remy, die Juons zweite Gemahlin Marie (Armande) Hegner-Günthert, die Witwe seines Freundes Otto Hegner, zwischen 1913 und 1916 geboren hatte. Irgendwo steht, Juon habe sein Schaffen mit einer Sinfonie op. 100 krönen wollen. Er aber nimmt seinen Abschied vom irdischen Dienst mit den vier Arabesken für Bläsertrio (»Meinem Freunde Hans Chemin-Petit gewidmet«), die durch ihre Opuszahl 73 so tun, als seien sie Mitte der Zwanziger entstanden: nichts Spektakuläres, kein triumphaler Koloß, sondern ein kleines, feines Fazit, worin sich die spielerischen Elemente zu filigranen Geflechten fügen. Wie anders hätten auch die letzten Tage, Taten und Takte eines Komponisten aussehen sollen, von dem der Bruder Eduard schrieb, er sei jeder Reklame in puncto seiner eigenen Sachen abhold und »von rührender Hilflosigkeit«: Er nimmt noch einmal die Figürchen zur Hand, aus denen er so viele Piècen und Architekturen gestaltet hatte – die punktierte Achtel mit der Sechzehntel etwa, die Moleküle aus Zweiern und Triolen, die rankenden »N-tolen« und die vierSechzehntelgrüppchen, von denen die ersten zwei gebunden, die zweiten zwei als staccato markiert sind. Das kommt in die präzis ausgerechnete Schachtel zurück, wie wir nach dem Spielen die Quader und Platten, Gewölbe, Bögen und Dachziegel des (heute unbezahlbaren) Anker-Baukastens hätten einsortieren sollen, damit sich die Kanten der empfindlichen Sandsteine nicht aneinander abschurrten. Obenauf die Anleitungen, ein paar Erinnerungen vielleicht: an das Jahr als Geigen- und Theorielehrer im aserbaidschanischen Baku; an den Mendelssohn-Preis (1896), die ersten hundert Mark des Verlegers Robert Lienau (1897), an das Liszt-Stipendium und den Hauptlehrerposten der Berliner Musikhochschule (1906); die vielen schönen Aufführungserfolge der zweiten Symphonie; die Aufnahme an die Preußische Akademie der Künste (1919); den Beethoven-Preis (1929) – dann geht auch der Deckel zu.