II. Biographisch-Autobiographisches
Seien wir indes nicht allzu harsch. Schon um 1920 hat Walter Niemann, der »deutsche Debussy«, wie manche ihn leichtfertig apostrophierten, in seinem vielfach aufgelegten Buch über die Meister des Klaviers den lebendigen Gegenstand unseres Interesses heruntergemacht, als er schrieb, daß »bei Juon, dem durch Brahms eingedeutschten und erst in den letzten Werken zur modernen Neutönerei abgeschwenkten Russen […] viel derbe Kraft, trockner Anschlag und stramme Taktfestigkeit, doch wenig pianistische und klangliche Feinheit oder Poesie des Anschlags« zu finden sei. Neben diesem Eintrag ins Klassenbuch wirken die »flüchtigen Visionen«, an denen ich mich eben oben noch stieß, geradezu harmlos, zumal der Autor doch eine durchaus nachdenkenswerte, substantielle Frage stellte: ob wir nämlich in Paul Juon, der an die vierzig Jahre seines nicht übermäßig langen Lebens als Lehrer zubrachte, womöglich einen pädagogischen Komponist zu sehen hätten?
Tatsächlich ist diese Frage, je weiter wir uns diesem Charakter öffnen, mit einem immer vernehmlicheren Ja! zu beantworten. Freilich keiner, der mit erhobenem Zeigefinger (»liebe Kindlein, gebt fein acht, wie der Onkel Paul das macht«) am Katheder steht, um von verbotenen Parallelen zu predigen oder den Schutzbefohlenen mit dem allzeit bereiten Rohrstöckchen auf die tintenbeklecksten Finger zu klopfen, wenn sie wieder einmal gegen »vermindert-rein« glaubten verstoßen zu dürfen. Vielmehr Einer, dessen lehrendes – nicht belehrendes – Können wie durch ein System feinster Äderchen in die verschiedensten Ebenen des Schaffens rinnt, wo es sich mal deutlich, mal eher unterschwellig verborgen als eine Art schöpferischer Ermutigung fühlbar macht.
Daß Juon die Theoretika beherrschte, ist unbestritten: Seine Moskauer Studien bei Anton Arenskij und dem Erzkontrapunktiker Sergej Tanejew versetzten ihn unter anderem in die beneidenswerte Lage, die feinsten, geschmeidigsten Fugen zu schreiben und die Stimmführungsgebote aus dem Ärmel zu schütteln, und die nachfolgenden Unterweisungen durch Woldemar Bargiel mußten ein Übriges tun. Unvorstellbar aber, daß er aus dem Effeff einen fünffachen Kontrapunkt an die Klassentafel gezaubert hätte, um die versammelten Schüler seine Fertigkeiten bestaunen zu lassen, während seinen eigenen Tonsetzlingen besten Falles ein unterlippiges Nicken seitens des Kollegiums geworden wäre.
Juon entspricht diesen Vorstellungen nicht einmal in seinen Lehrbüchern. Weder in der 1901 erschienenen Harmonielehre und ihrer vier Jahre jüngeren Gefährtin für Kontrapunkt noch in dem Handbuch für Harmonie (1919) oder gar der kleinen, ganz besonders feinen Anleitung zum Modulieren, die Lienau 1929 hat drucken lassen. Objektiv enthalten diese Traktate nichts, was über die seinerzeitigen Lehren von der Tonalität hinausginge. Dafür haftet ihnen, wie ich es subjektiv empfinde, etwas zutiefst Elementares an. Die Darlegung der Spannungsverhältnisse zum Beispiel, die zwischen kon- und dissonanten Intervallen walten, zielt bereits auf die Entstehung von Musik, ohne daß auch nur ein Akkord ausgefüllt worden wäre. Die lapidaren Worte, mit denen er seine Modulationslehre einleitet, gehen in dieselbe Kerbe: »Modulieren heißt – Komponieren«, schreibt er da, und im weiteren Verlauf führt er die vertraulich geduzten Schüler (»vademecum«) vom Schreibtisch zum Klavier und wieder zurück, auf daß sie beim Ausarbeiten, praktischen Einüben und Ersinnen modulatorischer Sequenzen nicht die Geduld verlieren mögen – das einzig probate Mittel im »Kampf des Geistes mit der Materie«, den Paul Juon in der Tätigkeit des Komponisten sieht: » Die Idee will Gestalt gewinnen. Aber wie grob ist doch die Materie. Die geheimsten Regungen, die feinsten Fäserchen der Idee werden von der Materie einfach erdrückt, wenn die Idee nicht ihre ganze List, Schlauheit und Vorsicht aufbietet, damit das irdische Gewand ihre Reinheit nicht verdeckt, verwischt, verfälscht«, steht in einem Brief vom 12. Oktober 1937 .an Hans Chemin-Petit.
Die scheinbar wesen- und gegenstandslose Materie ist allerdings sperrig. Das weiß jeder, der auch nur einmal einen schöpferischen Impuls im Nirgendwo hat verschwinden sehen. Der Einfall ist da. Er beleuchtet, wie es Paul Hindemith anschaulich beschrieb, mit einem Blitzschlag die nächtliche Landschaft. Wir greifen in die Tasten, um ihn festzuhalten. Er zerbricht. Wir versuchen, ihn aus dem Gedächtnis aufzuschreiben. Er zerbricht. Wir schauen in neidischer Wehmut auf die Andern, denen alles nur so zufliegt. Und wir zerbrechen. In solchen Phasen sind echte Pädagogen gefordert, die einfache Kniffe und Handgriffe vermitteln, uns die Angst vor dem langen Weg von der Eingebung bis zum Werk nehmen – vollkommene Alchimisten, die ihr Wissen von der geheimen Elementarlehre gern preisgeben, weil es ihnen um Höheres geht als die Gold- oder Geldmacherei. Weshalb denn auch mancher Meister nur sehr wenige oder gar keine Schüler hatte, wohingegen andere freigiebig ihre spirituellen Latifundien aufschlossen: Wo der eine die Kollegen mit der Berechnung der eigenen Tantiemen ennuyierte, rüstete der andere in nachgewiesener Selbst- und Anspruchslosigkeit von 1905 bis 1934 ganze Generationen Berliner Hochschulstudenten – darunter solch ausgeprägte Individualisten wie Hans Chemin-Petit, Pantscho Wladigeroff und Heinrich Kaminski – mit den Werkzeugen aus, die es leichter machen, Werke zu zeugen. Daneben komponierte er »ein bisserl«, wie im »fünften Band« der großen Selbstbiographie nachzulesen.
Dieses quantitative und qualitative understatement ist typisch für Paul Juon. Das »bisserl« beläuft sich schon damals (um 1907) auf etwa drei Dutzend numerierter Werke nebst mancherlei »ungezählten« Extras, worunter die Oper Aleko als eines von sehr wenigen Bühnenstücken auffällt: zwei Symphonien, etliche Lieder, drei der vier Streichquartette, Kammermusiken mit Klavier (von Duosonaten über Trios bis hin zu dem Sextett op. 22 und dem Oktett mit Streichtrio und vier Bläsern op. 27, aus dem die relativ bekannte Kammersymphonie wurde) sowie eine üppige Kollektion an zwei -und vierhändiger Literatur unterschiedlichster Schwierigkeitsgrade. Da gibt es kleinere und größere Formate pittoresken Inhalts zum »Selbermachen« oder auch »allerlei Klavierstücke der Jugend zum Vorspielen«, die unter dem Titel Den Kindern zum Lauschen als Opus 38 erschienen.
Als Juon sich 1934 pensionieren läßt, um sich in Vevey am Genfer See, der langjährigen Sommerfrische, zur Ruhe zu setzen, hat er um die neunzig Opuszahlen vergeben: neben vielen weiteren Klaviermusiken und Liedern drei Violinkonzerte (op. 42, 49 und 88), die Mysterien op. 59 für Violoncello und Orchester nach dem gleichnamigen Roman des Norwegers Knut Hamsun, das vierte Streichquartett, die Flötensonate op. 78, zwei Tondichtungen für Klaviertrio – die Litaniae op. 71 und die Legende op. 83 – sowie eine solche für zwei Klaviere namens Jotunheimen op. 70. Was dann noch bis zur letzten Nummer (99) fehlt, sind hauptsächlich neue Orchesterwerke: so die Rhapsodische Symphonie op. 95, die am 22. Mai 1938 bei den Reichsmusiktagen (!) in Düsseldorf einen glänzenden Premierenerfolg erringt, die posthum 1940 in Berlin uraufgeführte Sinfonietta capricciosa op. 98, eine fünfsätzige Suite op. 93, die Tanz-Capricen op. 96. Die letzte vollendete Komposition, die Arabesken für Oboe, Klarinette und Fagott, rücken auf eine vakant gewordene Stelle (73) bei den Litaniae und Jotunheimen.
Dieses »bisserl« also hat Paul Juon der Tücke des widerspenstigen Objekts abgerungen. Und dabei nicht allein die kreativ-geistigen Blockaden umschifft, sondern sich auch über die physi(kali)schen Unbilden hinweggesetzt, die vor der Erfindung elektronischer Hilfsmittel noch jedem Komponisten die Hand erlahmen ließen: »Mir graut vor der nunmehr beginnenden endlosen Schreiberei«, lamentiert der Sechsundsechzigjährige in einem seiner Briefe an den ehemaligen Schüler Hans Chemin-Petit, als er sein Opus 95 vom Kopf aufs Papier zu übertragen beginnt. Und seiner Tochter Irsa schildert er plastisch die akribische Arbeit an den Tanz-Capricen: »Man soll von jeder einzelnen Note genau wissen, warum man sie geschrieben hat. Es darf keine stehen bleiben, die nicht unbedingt notwendig ist. Darum kratze und radiere ich ›auf Deibel komm heraus‹ und muß jeden Augenblick meinen Schreibtisch putzen«.
Dem jungen Moskauer Gymnasiasten war das noch viel leichter gefallen. Zumindest schließe ich das aus dem »dritten Bande« der Selbstbiographie, der hier, obwohl er von allen sieben Teilen der umfangreichste ist, in voller Länge abgedruckt werden soll: »Meine erste Komposition schrieb ich etwa 12 – 13 Jahre alt, auf Veranlassung meines Vaters nieder, welcher gemerkt hatte, daß ich gern am Klavier saß und improvisierte. Es war ein Klavierstück und hieß ›Trennung und Wiedersehen‹. Weiter weiß ich nichts mehr davon. Ich weiß nur, daß ich seit der Zeit eine unzählige Menge verschiedener Stücke (vornehmlich Klavier-Violinsonaten) ›komponierte‹, was mir furchtbar viel Spaß machte, besonders wenn die Schnörkel und Verzierungen auf dem Titelblatt gut und zahlreich gelangen. Das Titelblatt war die Hauptsache. Ich machte es immer zu allererst, bevor auch nur eine Note des Stückes komponiert war (manchmal blieb es auch unkomponiert und ich begnügte mich mit dem Titelblatt). Von der Theorie der Musik habe ich damals noch gar nichts gewußt, denn ich habe das Studium derselben erst auf dem Konservatorium begonnen«.
Nicht minder launig berichtet der »zweite Band« von der Entdeckung der besonderen musikalischen Fähigkeiten: »Mein Vater war Beamter einer Feuerversicherungsgesellschaft (gegenwärtig ist er Direktor einer solchen). Meine Mutter beschäftigte sich gern mit Kunst, sie sang und spielte ein wenig. Aus dem Umstand, daß ich mich als Knabe gern unter dem Flügel aufhielt (vermutlich um Pedalstudien zu machen!), folgerte man, daß ich ein großes Talent für die Musik habe und engagierte für mich eine Klavierlehrerin. Bei dieser Dame lernte ich J. Ascher’s sämtliche Werke u. ähnliche Stücke mit Gefühl spielen. Zu meinem Glück starb die Dame bald, und ich erhielt einen Lehrer in der Person L. Samson’s, bei dem ich ernstere Dinge lernte. Später erhielt ich auch Geigenunterricht, denn mein Vater wollte einen Geiger aus mir machen«.(Paul Juons Geigenlehrer war, ganz nebenbei bemerkt, der überaus renommierte tschechische Virtuose und Pädagoge Jan Hrímalý, den Nikolai Rubinstein 1874 an sein Moskauer Konservatorium berufen hatte.)