I. Prolog mit Herrn Keuner

 

»Was tun Sie«, wurde Herr K. gefragt, »wenn Sie einen Menschen lieben?« – »Ich mache einen Entwurf von ihm«, sagte Herr K., »und sorge, daß er ihm ähnlich wird.« – »Wer? Der Entwurf?« – »Nein«, sagte Herr K., »Der Mensch.«

Von den unzähligen Irrtümern, die Bertolt Brecht für seinen Herrn Keuner erfunden hat, ist mir dieser für die gegenwärtige Aufgabe der Zweckdienlichste. Denn er lauert hinter jede Ecke. Nicht nur in der zweisamen Lebensplanung (»ich hatte mir das so ganz anders vorgestellt!«), sondern überall, wo eine »zweite Seite« ins geistige Spiel kommt. Aus rohem Material zimmert man sich da flugs einen Bezugsrahmen, und was dahinein nicht passen will, wird  eben nach bester Handwerkerart passend gemacht. Ist ja auch begreiflich! Wozu hätten wir denn studiert, uns der einen oder andern Schule verpflichtet, unsere Okulare fürs Leben eingerichtet – wenn das Alles bei der Begegnung mit einem oder einer Unbekannten keine Gültigkeit mehr haben sollte: Sich etwa von dem Andern an die Hand nehmen lassen wie Dante von Vergil  (das waren noch Zeiten!) und riskieren, daß nach einer ausgiebigen Wanderung durch fremde Regionen nichts mehr so ist, wie wir uns das gedacht haben …? »Nit möööglich«, hätte Charles Adrien Wettach, der dem Zirkus der Welt als Grock unvergessen ist, bei solchem Ansinnen ausgerufen – und mancher Hanswurst tut es mit ihm.

Wie schwer es mitunter fällt, die eigenen Urteile und Vorurteile in  Einklang mit dem Unerwarteten zu bringen, zeigt uns mustergültig das Beispiel des Komponisten, mit dem wir uns auf den folgenden Seiten und in der vorliegenden Aufnahme seiner vier Streichquartette näher werden befassen dürfen. Schon früh nannte ihn wer – angeblich soll’s sein Mitschüler Sergej Rachmaninoff aufgebracht haben – den »russischen Brahms«, wo er doch erst seit dem 1. April 1907 »einen langen Spitzbart« trug, wie er am Schluß seiner launigen Selbstbiographie in sieben Bänden dem Verleger Robert Lienau mitteilte. Als Sohn eines schweizerischen Vaters, der selbst schon in Rußland geboren worden war, und einer Mutter mit schottischen Vorfahren, dazu nicht nur in seiner Heimatstadt Moskau, sondern auch an der Berliner Musikhochschule unter anderem bei Woldemar Bargiel ausgebildet, sieht man ihn bis heute »zwischen den Fronten«, obwohl es, wie zu zeigen ist, gewiß besser wäre, ihn als über denselben stehend zu betrachten. Er gilt als »unbehaust«, ungeachtet ihm durch seine zweite Eheschließung ein hübsches kleines Häuschen bei Basel »angetraut« wurde. Und endlich verstieg sich vor gar nicht langer Zeit ein Autor, den ich aus »collegialischer« Rücksichtnahme nur paraphrasieren und nicht beim Namen nennen werde, zu der aberwitzigen Behauptung, Paul Juon transformiere sich bei genauerem Hinsehen in eine »immer unfasslichere Gestalt«, was uns aber nicht daran hindern oder gar entmutigen solle, das Ephemere seiner Persönlichkeit aufzuspüren: Wenn das das Resultat einer näheren Inspektion ist, können wir füglich voraussetzten, daß der Zuschauer die falschen Brillengläser auf der Nase hatte. Wenn derselbe dann auch noch behauptet, daß »Juons Musik irritiert und verunsichert, weil sie mit der Hörerwartung des Rezipienten bricht« – dann zuckt einem der Unwille in den Mundwinkeln: ob es hier überhaupt noch um Juon oder nicht vielmehr um Vertuschung der eigenen Unfähigkeit geht, die Gestalt und ihre Gestaltungsprinzipien auf sich einwirken zu lassen, bis sich das Bild scharf gestellt hat? Nach mehr als einem halben Jahrhundert, in denen Kunstschaffende systematisch-subventioniert die Hörerwartung des Publikums brachen, bis dieses jenen den abgehärteten Rücken kehrte –  da ist es ungehörig, eine lohnende Wieder-Entdeckung rundweg als Eintagsfliege oder als ein Soufflé abzukanzeln, das in sich zusammenfällt, sobald einer bloß die Klappe aufmacht.