Neues Wiener Journal vom 18. Mai 1930
»Grossi«, der Großpapa Karl Goldmark.
Zur 100. Wiederkehr seines Geburtstages
Nach Erzählungen seiner Enkelin Franzi Hegenbarth.
Vom Kanalräumer bis Rubinstein.
Goldmark war, wie seine Enkelin, die Tochter des bekannten Bildhauers Hegenbarth, in ihren für den engeren Familienkreis niedergeschriebenen Erinnerungen erzählt, das Ideal eines zärtlichen Großpapas – nur am Klavier durfte man mit ihm nicht zu tun bekommen. Auch Franzi und Karl, des Meisters kleine Enkelkinder, haben dies erfahren. So leidenschaftlich gern »Grossi« – wie der alte Herr im Familienkreis genannt wurde – Großvater war, so gern war er Lehrer. Also wurden Franzi und Karl schon in zartester Jugend dem Klavierspiel geweiht und insbesondere der zwölfjährige Karl, ein sehr sanfter, ja mimosenhafter Junge, der nie ganz aus sich herausging und beim Klavierspielen am wenigsten, hatte mit dem Großpapa manchen harten Strauß zu bestehen. Mehr als eine Klavierstunde endete mit schweren Konflikten, die sich tagelang fortspannen und die ganze Familie in Mitleidenschaft zogen. Der kleine Karl erschien blaß und appetitlos, Großpapa mit gelbgrünem Gesicht zum Mittagstisch, beide löffelten in verbissenem Schweigen ihre Suppe, und in der Regel war es dann die Mama Hegenbarth, Goldmarks Tochter, die für ihre Versuche, Frieden zu stiften, »Grossis« angesammelten Zorn zu spüren bekam. »Du hältst die Kinder zu wenig zum Ueben an, der Bub wird einmal Portier oder Kanalräumer!«, prophezeite Großpapa. So ging es weiter, bis die Familie in alle Lüfte zersprengt war und der arme Großpapa finster brütend allein am Tische saß. Karl aber, der etwas nachtragender Natur war, zog sich in sein Zimmer zurück und verschärfte die Feindseligkeiten noch dadurch, daß er die nächste Klavierstunde vollständig ignorierte. Das war mehr, als »Grossi« ertragen konnte. Oft konnte man den im Grunde ja herzensguten, in seine Enkelkinder bis zur Verblendung verliebten alten Herrn dann zum Zimmer des beleidigten Karl schleichen sehen, um die Friedensverhandlungen anzubahnen. Sie endigten dann in der Regel miteiner gerührten Umarmung und am Schluß der nächsten Klavierstunde erklärte Großpapa begeistert: »Wie ein Rubinstein hat er heute gespielt! In dem Buben steckt Talent, dieses herrliche Fingerspitzengefühl, dieses warme Empfinden…« So kehrte wieder, bis auf weiteres, Friede ein und der kleine Karl atmete auf, daß die Aussicht auf Beschließung seiner Tage in einer Portierloge oder beim Kanalräumen etwas in die Ferne gerückt war – bis zur nächsten Klavierstunde!
Goldmark kauft keinen Leiterwagen.
Im Köpfchen der kleinen Franzi hatte sich, es war beim Sommeraufenthalt in Gmunden, ein brennender Wunsch festgesetzt. Die Buben der Hausfrau besaßen einen Leiterwagen, sie wollte auch einen. Grossi, der ein viel zu weiches Herz hatte, um seinen Enkelkindern einen Wunsch abzuschlagen, schüttelte verzweifelt den Kopf. Alles sollte Franzi von ihm haben, gegen Leiterwagen aber empfand er die schwersten Abneigungen. »Erstens«, erklärte er apodiktisch, »paßt kein Leiterwagen für ein kleines Mädel, und zweitens ist das eine sehr gefährliche Spielerei!« Die sechsjährige Franzi wäre aber nicht eine Frau gewesen, wenn sie es schließlich nicht doch zustande gebracht hätte, Großpapa herumzukriegen. Seufzend erklärte er sich bereit, selbst mit der Kleinen in den Spielwarenladen hinunterzugehen und den Leiterwagen zu besorgen. Die Verkäuferin, die wie alle Gmundener den illustren Sommergast sehr gut kannte, schaffte sofort sämtliche auf Lager befindlichen Leiterwagen herbei, Franzi kroch probeweise in jeden hinein, Goldmark aber, auf seinen grünseidenen Sonnenschirm gestützt, verharrte in unheimlichem Schweigen. Die Idiosynkrasie gegen Leiterwagen war aufs neue erwacht. Die Verkäuferin, des Meisters ablehnende Stimmung bemerkend, sagte schüchtern: »Was würden Herr v. Goldmark zu dem grünen da sagen, der wäre für Kleine sicherlich sehr passend!« Großpapa schüttelte düster das weiße Haupt, sein Gesicht war ein einziges Nein. – »Oder der rote, Herr v. Goldmark?“ – »Der rote, der grüne!«, sagte Großpapa unwirsch, »färbt ab! Und wir wollen doch nicht, daß sich das Kind vergiftet!« – »Vergiften, abfärben, aber ausgeschlossen, Herr v. Goldmark“, girrte die Verkäuferin, der angst und bange um eine so gute und zahlungsfähige Kundschaft wurde. Aber der alte Herr blieb unerbittlich. Alle seine guten Vorsätze, der Enkelin den heiß ersehnten Leiterwagen zu bewilligen, waren geschwunden. »Rot färbt immer ab, wenn Nässe dazu kommt, und wer garantiert mir dafür, daß so ein Leiterwagen nicht einmal naß wird? Und die Kinder schlecken an allem herum, ein Vergiften ist also durchaus nicht unmöglich!« dozierte Goldmark im Ton eines Universitätsprofessors. »Gut«, sagte geschlagen die Verkäuferin und räumte die »giftigen« Leiterwagen weg, »aber da hätten wir ja auch einen aus rohem Holz, der ist absolut ungefährlich!« Auf dieses Wort »ungefährlich« schien Großpapa nur gewartet zu haben. »Was verstehen Sie unter ungefährlich?« fuhr er auf. »So ein Spielzeug ist unter allen Umständen gefährlich. Der Fratz braucht nur einen steilen Berg hinunterzufahren, verliert die Herrschaft über den Wagen, fährt an eine Mauer und zerschlägt sich den Kopf. Können Sie das verantworten?« Jetzt mischte sich Franzi, die den Leiterwagen schon im definitiven Entschwinden sah, in die Debatte ein. »Grossi«, sprach sie flehend, »in dem da sitz’ ich so gut!« – »Das ist kein Grund für mich, Leiterwägen zu kaufen«, war die niederschmetternde Antwort des sonst so engelhaften Großpapas. »Steig’ heraus, mein Kind, die Verantwortung muß ich tragen, wenn dir etwas geschieht, also ist es nichts mit dem Leiterwagen!« Und Herr v. Goldmark kaufte, um die Ladenbesitzerin nicht ganz zu enttäuschen, zwei Ansichtskarten, nahm Franzi an der Hand und verließ, unter Zurücklassung sämtlicher Leiterwagen, als Sieger das Geschäft.
Der »Schmachtfetzen« von Karl Goldmark.
Großpapa sah auf seine Uhr. »Schon Zwölf?« sagte er. »Also gut, Franzerl, da müssen wir schnell mit unserer Klavierstunde beginnen, denn ich muß noch vor dem Essen meinen Spaziergang machen!« Diesmal verlief die gefürchtete Lektion ziemlich friedlich. Um dreiviertel Eins erhob sich Goldmark, holte Hut und Ueberzieher und legte der kleinen Franzi dringend ans Herz, anständig zu üben: die leichten Stellen nicht zu »rasen«, die schweren nicht zu verhudeln. Dann ging er und Franzi spielte ihre Etüde korrekt fertig, bis sich die äußere Tür geschlossen hatte. Dann aber holte sie sich einen Stoß Noten aus dem Kasten und beschloß, mit dem Spielen dieser von Großpapa verpönten Dinge die Zeit bis zu Großpapas Rückkehr vergnügt zu verbringen. Diesmal hatte sie aber kein Glück, Großpapa kam ungewohnt früh zurück und betrat, von Franzis Spiel sofort echauffiert, leise das Zimmer. Den Hut in den Nacken geschoben, stützte er sich mit beiden Händen auf seinen Regenschirm, eine Stellung, die er immer in kritischen Momenten einnahm, und blieb regungslos stehen. »Hab’ ich dir nicht gesagt, du sollst anständig üben?“ sagte er entrüstet. »Ist das Mozart den ich dir aufgetragen habe? Was war denn das für ein Schmachtfetzen, den du da heruntergehudelt hast?« Die Kleine reichte ihm das Notenblatt, er riß es ihr empört aus der Hand und sah es zornerfüllt an. Plötzlich ging eine eigentümliche Veränderung mit Großpapa vor. Er sah noch einmal auf das Blatt, sein grimmiger Zorn verrauchte zusehends und schließlich lachte er sogar. Der »Schmachtfetzen«, den seine Enkelin da gespielt hatte – war »Herzeleid«, eines der schönsten und vielgesungensten Lieder Karl Goldmarks! »Jetzt weiß ich nicht«, brummte er »worüber ich mich mehr ärgern soll: über deine elende Hudelei oder darüber, daß ich meine eigene Sache nicht erkannt habe!«
»Sie hat sich beruhigt …«
Wieder gab es, bei den Fingerübungen, Krieg mit »Grossi«. Goldmark hatte seiner kleinen Enkelin die A-Dur-Sonate von Mozart aufs Klavier gelegt, das konnte nicht anders als mit Abbruch sämtlicher Beziehungen endigen. Franzi hatte wieder einmal nicht geübt, am allerwenigsten die A-Dur-Sonate. Die erste Variation hörte Goldmark noch mäuschenstill an, es war die Ruhe vor dem Sturm. Wortlos setzte er seine Zigarre in Brand, bließ [!] den Rauch stoßweise vor sich hin und sammelte die Kräfte, die er zu einer nie noch dagewesenen Zornentfaltung brauchte. Als Franzi mit der zweiten Variation begann, war das Gewitter da. Großpapa fuhr mit einem mächtigen Satz in die Höhe, hieb mit der Hand in die Tasten, daß sie einen schrillen Wehlaut von sich gaben, und schrie: »Du bist eine Gans, ein niederträchtiger Fratz! Wozu plage ich mich mit dir herum, ich habe es satt, meine kostbare Zeit zu vergeuden. Du brauchst nicht mehr zur Stunde zu kommen, sag’ das der Mama!« Franzi entwich, bevor ihr der ganze Band Mozart-Sonaten an den Kopf flog, und ging, um durch das ungewohnt frühe Heimkommen nicht auch noch zu Hause Stürme zu beschwören, mit Trauer und Verzweiflung im Herzen in den Kuhstall hinunter. Die Gemütsruhe, die unter Kühen zu herrschen pflegt, beschwichtigte ihr aufgestörtes Herzchen und auf einmal empfand Franzi tiefes Mitleid mit Großpapa, den sie heute so geärgert hatte. Statt nach Hause zu gehen, lief sie zu Goldmarks Wohnung zurück, pflanzte sich vor seiner Tür auf und wartete. Nach einiger Zeit kam »Grossi« heraus und fragte verwundert, noch in deutlich bewölkter Stimmung: »Ja, was machst du denn hier, Franzi? Wo warst du bis jetzt?« – »Im Kuhstall«, sagte die Kleine lakonisch. Goldmark fragte stirnrunzelnd: »Im Kuhstall? Ja, was macht man denn schon in einem Kuhstall?« – »Ich habe mich beruhigt«, gab Franzi mit wieder erwachtem Trotz zurück.
»Sie hat sich … beruhigt!« murmelte der alte Herr, sah die Kleine mit einem unbeschreiblichen Seitenblick an, zog seinen breitkrämpigen Hut tiefer in die Stirn und ging mit Franzi so versöhnt, als ob sie nicht vor einer halben Stunde noch seine bitterste Feindin gewesen wäre, zur Mama. An diesem Tag wölbte sich ein wolkenlos blauer Himmel über den Mittagstisch – bis Großpapa vom Essen aufstand und zum Zeichen der besiegelten Versöhnung das unheilschwangere Wort sprach: »Morgen darfst du wieder zur Stunde kommen …«
(Neues Wiener Journal vom 18. April 1930)