Der Tag vom 18. Mai 1930
Karl Goldmark.
Zum hundertsten Geburtstag.
Von Professor Dr. Max Graf.
Am 18. Mai 1830 wurde in Ungarn Karl Goldmark als Sohn eines Kantors und Dorfnotars geboren. Der Knabe, der bis zu seinem zwölften Lebensjahr nicht lesen und schreiben konnte, wuchs in eine Epoche größter Musiker hinein. Richard Wagner setzte mit seiner Musik und seinen Ideen die ganze Welt in Bewegung. Berlioz und Liszt erweiterten die musikalischen Ausdrucksmittel, die gestaltenden Formen, die malerischen und poetischen Kräfte der Klänge. Auf dem ganzen Gebiet der Musik gab es neue Ideen und neue Probleme. Karl Goldmark ist es geglückt, sich in einer solchen gährenden [!] Zeit neben Meistern, deren Persönlichkeit die ganze Umwelt erdrückt hat, neben einem Genietyrannen, wie Richard Wagner, einem zauberhaften Geist, wie Liszt, einem Feuerbrand, wie Berlioz, als eigene starke Persönlichkeit zu behaupten. Die Kräfte dazu hat er in sich gefunden. In seinem zähen Arbeitswillen. In seiner Energie, zu lernen. Goldmark mußte jedes Wissen selbst erwerben, Lesen, Schreiben, Harmonielehre, Instrumentierung, geistige Bildung, sittliche Harmonie. In seinem Buch »Erinnerungen aus meinem Leben« hat er diese Arbeit selbst geschildert. Die Dürftigkeit seiner Jugend, die schweren Lebensmühen haben ihn nicht verhärtet oder erbittert. Er wurde ein weiser, milder Mann, der hoch über dem Leben stand, durch dessen Gemeinheit und Härte er sich durchgearbeitet hatte, der alles verstehen und verzeihen konnte und der zu jenen Menschen gehört hat, die Goethe »selig« nannte, weil es ihnen gelungen war, sich vor der Welt ohne Haß zu verschließen. In der Sprache seiner Väter durfte man Goldmark einen rabbinischen Mann nennen.
Goldmark, ein unermüdlicher Arbeiter, hat ein reiches Lebenswerk hinterlassen, sieben Opern, Orchesterwerke, Kammermusik, Chöre, Lieder. Jedes Stück, das er schrieb, war mit seiner Persönlichkeit charaktervoll geprägt. Seine Melodik mit ihrer lyrischen Intensität, ihren Triolensteigerungen, dem Glühen der Empfindung oder geistvoller Zuschärfung, war goldmarkisch. Die Harmonik – Hanslick nannte Goldmark erschrocken einen »Dissonanzenkönig« – charaktervoll. Das Klangliche voll Sinnlichkeit, zur Üppigkeit aufblühend. Für unsere Zeit konzentriert sich die Musik Goldmarks in der »Königin von Saba«. Sie ist der stärkste Ausdruck seines Persönlichen. Alles Frühere, so die »Sakuntala«-Ouvertüre, mit der Goldmark das Gebiet des Orients betreten hat, erscheint als ein Hinweis auf die kommende Orientoper. Späteres als Nachklang zur »Königin von Saba«. Wie Bizet für die Nachwelt vor allem der Schöpfer der »Carmen« ist, der Künstler der spanischen Rhythmen, des spanischen Lichtes, der spanischen Farben, wird Goldmark der Nachwelt der Meister der Orientfarben in der »Königin von Saba« bleiben.
Die Romantik hat den Orient entdeckt. Sie fand hier neue Farben, eine neue Sonne, einen neuen Märchenzauber. Carl Maria von Weber war der eigentliche Entdecker des romantischen Orients. Noch stärker als die Deutschen, waren die Franzosen vom Zauber des Orients gefesselt. Gerard de Nerval reiste lange im Orient, ebenso Th. Gautier und Chateaubriand. Gerard de Nerval skizzierte auch eine »Königin von Saba«, die als »Nuits de Rhamadan« erschien. Kein Geringerer als Meyerbeer wollte diesen Text in Musik setzen. 13 Jahre vor Goldmark komponierte Gounod eine »Königin von Saba«. Der Stoff lag in der Romantik, in der Luft. Auch der »Aida«-Text geht auf eine französische Erfassung eines altägyptischen Stoffes zurück und merkwürdigerweise sind die beiden Hauptwerke des Theaterorients »Königin von Saba« und »Aida« fast gleichzeitig und unabhängig von einander komponiert.
In der »Königin von Saba« ist Goldmarks ganze Seele, seine konzentrierte Phantasie. Seine Neigung zu Pathos, Prunk, Üppigkeit, konnte sich hier voll ausleben. Die Farben glühen, die Melodie hat stärkste Gefühlskraft, das Orchester leuchtet wie eine Edelsteintruhe oder wie orientalische Teppiche. Der Orient ist in diesem Werk nicht nur Lokalfarbe, wie Goldmark gern und stark betonte. Er ist hier Vätererbe, Sache des Bluts. Oft klingt das Melodische an alte Synagogalmelodien an, die Goldmark als Kind im väterlichen Hause gehört hat. Die Orchestration erinnert irgendwie an den Glanz von Sabbatlichtern, an die gestickten Überzüge der Gesetzesrollen, an die Bibelschilderung von Föhrenholz, Gold und Silber, Teppichen aus weißer, gezwirnter und gelber Seide, von »Scharlaken und Rosinrot« in der Stiftshütte. Der Orient ist wahrhaftig in dem Werk, nicht ein gemachter, kunstvoll gepinselter Orient, sondern ein erlebter Orient, wie Bizets »Carmen«-Musik erlebtes Spanien ist. Der Orient als Heimat, als Erinnerung der Ahnen. Goldmark hat dieses Ahnenerbe verkannt. Ich habe Goldmark nur einmal zornig auffahren gesehen, als er sich darüber aufregte, daß man die »Königin von Saba« als »jüdische Nationaloper« ansähe. Das sei unwahr. Das Orientalische wäre hier nur artistisches Kolorit. In den weiteren Werken entlief Goldmark dem Orient, sogar ins deutsche Mittelalter ist er mit dem »Götz von Berlichingen« davongelaufen. Trotzdem: sein Größtes und Eigentümlichstes blieb die Orientmusik der Königin von Saba«.
»Goldmark mußte nicht in den Orient gehen. Er hatte den Orient in sich«, hörte ich einmal den verstorbenen Oberrabbiner Chajes sagen, und das war Wohl Goldmarks Größe. Die »Königin von Saba« wird bleiben, wenn alle andere Musik, die Goldmark geschrieben hat, vergessen sein wird. In ihr ist Ewiges: eine Landschaft, eine Heimat, deren sich des großen Meisters Phantasie geheimnisvoll erinnert hat.
(Der Tag vom 18. Mai 1930)