Salzburger Volksblatt vom 17. Mai 1930

Persönliche Erinnerungen an Karl Goldmark
Geboren am 18. Mai 1830.

Von meiner Kindheit an durch fast ein Vierteljahrhundert, hatte ich im Familienkreise Gelegenheit, mit Karl Goldmark freundschaftlich zu verkehren. Sein Bild hat sich mir daher tief eingeprägt: Das geistvolle, kluge Gesicht, die gütigen, großen, dunklen Augen, das weiße zurück gestrichene Haar, der weiße Schnurrbart, die hohe gewölbte Stirn, die Adlernase; das immer freundliche, heitere Wesen, erfüllt von Güte, stillem Frohsinn und edler Menschlichkeit. Teils durch seine Tochter Minna (eine Frau von faszinierender Schönheit, verheiratet mit dem bekannten Wiener Kunstbildhauer Ernst Hegenbarth,) teils durch Goldmark selbst hörte ich viel Interessantes aus dem arbeitsreichen, im Anfange so mühevollen Leben dieses in der Zeit zwischen den beiden großen Richarden, – Wagner und Strauß, – erfolgreichsten Opernkomponisten der deutschen Bühne.

Goldmark (geb. 18. Mai 1830 in Kesztely) war Ungar. Daß seine Jugendzeit für den Knaben, dessen zigeunerhaft hinreißendes Geigenspiel schon damals die Zuhörer bezauberte, nicht sehr rosig verlief, läßt sich vorstellen, wenn man erfährt, daß er der Drittälteste seiner Geschwister war, deren Zahl schließlich auf vierundzwanzig anstieg. In Ödenburg erhielt er geregelten Violinunterricht, war dort der beste Schüler, gab als Dreizehnjähriger sein erstes Konzert, kam als Vierzehnjähriger nach Wien zu Jansa, dann zu Böhm und Preyer, – und erhielt sich immer selbst, – als Siebzehnjähriger inskribierte er an der Wiener Technik und am Konservatorium; das Revolutionsjahr Achtundvierzig verschloß ihm diese Studien. Goldmark aber gab nicht nach, der göttliche Funke glühte in ihm, er darbte weiter und wurde Autodidakt, er, der genial Begabte, fristete sein Leben unter den kärglichsten Einnahmen, er war tagsüber Musiklehrer, – welche Qual es für einen sensitiven Künstler sein muß, das Gestümper und die Fehler von Anfängern immer wieder anhören zu müssen, kann sich der Nichtfachmann kaum vorstellen, – er war abends Theatermusiker (in Ödenburg, in Ofen, am Wiener Josefstädter- und Carl-Theater), und in der Nacht studierte er aus entliehenen Büchern Kontrapunkt und Harmonielehre. Daneben schuf er bereits seine wundervollen ersten Kompositionen. Als Achtundzwanzigjähriger begann er hervorzutreten. Er dirigierte in Wien zum ersten Male ein eigenes Kompositionskonzert, vom Hofopernorchester ausgeführt und erregte im folgenden Jahre in Budapest damit ebensogroßes Aufsehen, wie in Wien. Aber noch war es keine dauernde Wendung zum Besseren. Goldmark selbst hat mir erzählt, wie sehr man ihn im Anfang bei den Musikverlagen und beim Abschließen von Verträgen hineingelegt hat.

Aber schließlich wurde es doch anders. Das Hellmesberger-Quartett spielte Goldmarksche Musik vor Liszt und damit begann für den bescheidenen, armen Komponisten, der es nie über sich brachte, Propaganda für seine Arbeiten zu machen, sondern der Meinung war, die Qualität des Werkes allein habe zu reden, eine neue Epoche. Liszt, der warmherzige Altruist, trat für Goldmark ein, die »Sakuntala-Ouverture« wurde von den Philharmonikern gespielt, die »Königin von Saba« kam (1875) an der Wiener Hofoper zur Erstaufführung, die großen Erfolge waren da, der Name und die Werke gingen nun über die ganze Welt, die farbige Pracht seiner Musik und ihre Eigenart, die Melismen, die »Goldmark’schen Triolen« faszinierten, er wurde ein »Unsterblicher«. Auch der finanzielle Erfolg kam damit. (An offiziellen Ehrungen, die ihm zuteil wurden, waren die bedeutendsten: die Verleihung des Ritterkreuzes des Leopoldordens 1896 und des Ehrenzeichens für Kunst und Wissenschaft 1910.) Aber Goldmark blieb stets gleich bescheiden. Er behielt seine altertümlichen, einfachen Möbel, war im Sommer in Gmunden, Winter über in Wien, zuweilen im Frühjahr in Franzensbad oder auf Reisen, und schuf und schuf »Symphonien«, »Die ländliche Hochzeit«, »Im Frühling«, Klavierquintette, Trios, Lieder, die Opern »Merlin«, »Heimchen am Herd«, »Die Kriegsgefangene«, »Götz von Berlichingen«, »Das Wintermärchen«, die Konzertouverturen »Penthesilea«, »Der gefesselte Prometheus« u. a.

Unter der Marke –rk war er in Wien auch musikschriftstellerisch in der Presse tätig und bekundete sich dort als Verehrer Wagners. Vor mir sprach er in Worten höchsten Beifalls über die Musik Pfitzners. Nach der Premiere des »Götz von Berlichingen« in Budapest, bei der Goldmark von den heißblütigen Ungarn frenetisch bejubelt wurde, waren meine Eltern und ich mit Goldmark und seiner Tochter im Garten beisammen, Goldmark selbst, wie immer abhold, von seinen Erfolgen zu reden, schwieg über die Ovationen der Budapester, seine Tochter aber, weniger still, gab uns in ihrer launisch-geistreichen Art ein lebendiges Bild: »Als wir aufbrachen, erhob sich das ganze Haus unter ununterbrochenem Beifall. Papa und ich mußten durch ein Spalier begeisterter Menschen die Oper verlassen, es war entsetzlich, ich hatte ein Gefühl, als ob ich silberne Löffel gestohlen hätte.«

In Gmunden traf ich zur Sommerzeit Goldmark fast täglich. An schönen Nachmittagen war er eine bekannte Erscheinung auf dem Seedampfer. Er saß vorne beim Bug des Schiffes, den weichen, schwarzen, breitkrempigen Hut auf dem weißlockigen Kopf und ließ sich von der würzigen, ozonreichen Seeluft umwehen. Zeitlich morgens, bald nach Sonnenaufgang, konnte man ihn im Garten antreffen, wo er auf und nieder ging, eine fremde Sprachlehre in der Hand und studierte. Dies nannte er »seine Erfrischung.« Dann begann die Arbeit. Er komponierte und spielte sogleich Teile der niedergeschriebenen Komposition auf dem Flügel. Mit welchem Genusse lauschte ich oft unter seinem Fenster den seltsamen, jubelnden, sehnsüchtigen, traurigen, drohenden Klängen, den mystischen Dissonanzen und beseligenden Auflösungen der Akkorde, die aus seinem Arbeitszimmer heraustönten. Unvergeßlich bleibt mir der Morgen des 18. Mai 1900, den ich bei Goldmark verbrachte. Es war sein siebzigster Geburtstag. Mein Vater (der bekannte Aquarellist Adolf Fischer) und ich gingen zeitlich früh zu Goldmark. Es duftete nach Lavendel in dem alten Hause, Goldmarks Zimmer war leer, Sonnenschein und Blütenduft kamen zum offenen Fenster herein, der Flügel war aufgeschlagen, frisch beschriebene Notenblätter lagen darauf. Auf einem Tische sahen wir Ehrenurkunden, die das siebzigjährige Geburtstagskind am Vorabend erhalten hatte, darunter eine, auf der das Taubenopfer aus der Königin von Saba, von Leffler gemalt, mich entzückte, auch ein kostbar gebundenes Glückwunschschreiben der königlichen Dichterin Carmen Sylva, Königin Rumäniens. Da kam der Meister vom Garten herein, eine französische Grammatik in der Hand. Ein Lächeln verschönte sein so jugendlich wirkendes Gesicht, er freute sich über die Blumen, die ich ihm, ihn beglückwünschend, gab. Wir saßen ihm gegenüber, die Zeit verstrich in heiteren Erzählungen. Da wurde er mit einem Male ernst, blickte sinnend vor sich hin, und dann sprach er in seltsam veränderter Stimmung Worte, die ich heute noch in mir tönen höre, wenn ich an die Szene denke. Mit seiner sanften, leisen Stimme sagte er langsam: »Alle Menschen sollten einander lieben! Nur daran sollte man arbeiten! Es gibt Zank und Mißgunst in der Welt, Kampf und Vernichtung. Die Menschen verfolgen einander. Und doch, wie schön könnte alles sein, wenn man sie immer lehren würde, einander zu lieben!«

Bis in sein hohes Alter wahrte sich Goldmark seine jugendlich frische, sonnige Heiterkeit. An einem Abend, den ich im Kreise seiner Familie und Freunde bei Goldmark in Wien verbrachte, ergötzte uns der damals Fünfundsiebzigjährige alle durch seinen Geist und Witz. Schließlich verkündete er den gespannt Aufhorchenden, er werde seine jüngste Komposition auf dem Klavier vortragen, ein Reiterlied. Und schon saß der greise Jüngling, so wie ein Artist seitlich auf dem galop[p]ierenden Pferde hängt, auf den Tasten des aufbrüllenden Flügels, ahmte die Bewegungen eines dahinfliegenden Reiters unter dem taktmäßigen Dröhnen des Instrumentes nach und schlug mit der linken Hand eine grelle, phantastische Melodie dazu, der modernste Aphoniker hätte seine helle Freude daran gehabt.

Dennoch war es diesem stets frohen, wenn auch meist stillen, diesem immer von Güte und Liebe erfüllten Geiste nicht vergönnt, bis ans Lebensende den Frieden des Gemütes bewahren zu dürfen. Seine letzten Monate wurden tragisch getrübt: Der Krieg brach aus und sein ihm teurer Enkel Karl Hegenbarth fiel als eines der ersten Opfer in Serbien. Bald danach starb Karl Goldmark. Am 2. Jänner 1915 hörte ein Herz zu schlagen auf, das nur Schönes geschaffen, nur Gutes gewollt hatte. Es ist leider einmal so, daß zwar Werke unsterblich sind, Herzen aber nicht. Prof. Adolph Johannes Fischer.
(Salzburger Volksblatt vom 17. Mai 1930)