Neue Freie Presse vom 29. Januar 1915

Karl Goldmark.
Von Guido Adler.
Worte des Gedenkens, gesprochen am 28. Januar 1915 im Wiener Tonkünstlerverein.

Als Mandatar des Vorlandes unseres Vereines obliegt es mir, einige einleitende Worte zu der künstlerischen Veranstaltung zu sprechen, mit der heute das Andenken von Meister Goldmark begangen wird: über ihn als Mitglied des Wiener Tomkünstlervereines, als Künstler und Menschen. Gehörte er doch seit der Gründung im Jahre 1885 dem Vereine an, versah 1886/37 die Stelle des Präsidenten wurde ob seiner Verdienste um den Verein und seiner Leistungen als Künstler, anläßlich seines 70. Geburtstages 1900 zum Ehrenmitglieds und 1908 zum Ehrenpräsidenten ernannt. Wie gegenüber jedem Standesgenossen, so betätigte er in der engeren Zugehörigkeit zu den Mitgliedern unseres Vereines seine selbstlose Hingebung, seinen dem Neide jedweder Art fernen kollegialen Sinn und trat noch in der letzten, durch die Ereignisse des Weltkrieges notwendig gewordenen Hilfsaktion des Vereines mit mustergebendem Beispiele ein.

Hilfsbereitschaft, Güte, Milde, dabei scharfe Beobachtungsgabe, hellster Verstand, wahre Bildung von Geist und Gemüt waren dem trefflichen Manne eigen. Er stand stets mit Rat und Tat zur Verfügung, wo und wann er immer angesprochen wurde. Er drängte sich nirgends ein oder auf, er hielt sich stets in Bescheidenheit zurück. Unrecht, anderen zugefügt, erweckte seinen Unwillen und entfachte sein Temperament, ohne sich zu einem ungehörigen Wort hinreißen zu lassen. Der bis zu seinem 45. Jahre hart Bedrängte, der in Not und Entbehrung, in Kümmernissen, in niedrigem Lohndienst sem kärgliches Dasein fristen mußte, wurde nicht verbittert und vergalt das ihm bis dahin auferlegte mühselige Ringen in den noch folgenden vierzig Jahren seines. Erdenwallens mit mitleidvoller Teilnahme an den Geschicken seiner Mitmenschen. Den Rückhalt fand er in seiner unermüdlichen Arbeit, in der Liebe zur Natur, zu Wald, See und Bergen, in dem eifrigen Studium der besten Literatur aller Völker und Länder und im Umgang mit vornehm denkenden und fühlenden Menschen. Wie Brahms in Klara Schumann eine gleichsam mütterliche Freundin fürs Leben fand, so erstand dem Zweiundzwanzigjährigen in einem Kinde, der siebenjährigen Karoline Bettelheim, eine gleichsam töchterliche Freundin, die förmlich die metaphorische Bedeutung seiner Muse erhielt. Während bei Brahms-Schumann temporäre Trübungen eintraten, blieben Goldmark und die nachmalige Gomperz-Bettelheim in ungetrübter, sonnenheller, reiner Freundschaft und gegenseitiger Verehrung. Die ganze künstlerisch-literarische Atmosphäre, die religiös-ideelle Richtung war und blieb eine gemeinschaftliche. Und Goldmarks musikalisches Hauptwerk, die »Königin von Saba«, ist spirituell aus diesem Milieu erwachsen.

Der gebürtige Ungar tauchte ganz ein in die deutsch-österreichische Kulturwelt. Der ihm eigentümliche Optimismus fand eine künstlerische Verklärung, die in einzelnen Werken, so zum Beispiel in der Symphonie, richtiger Orchestersuite, »Ländliche Hochzeit« einen Ausdruckscharakter annahm, dem dichterisch und sozialpsychisch der Stimmungskreis verwandt ist, der in Auerbachschen Gestalten und Schilderungen in Erscheinung tritt. Auch sonst begegnen sich die beiden in Anschauungen und kulturellen Strebungen. Goldmark griff vielleicht noch tiefer und weiter in das Universalleben. Er wandte sich nach Osten, »um Patriarchenluft zu kosten«. In seiner »Sakuntala«-Ouvertüre ist dieser Zug in denkwürdiger Weise hervorgetreten. Darin gelangt auch die Leidenschaftlichkeit seines Temperamentes zu einer Aussprache, wie sie dem Dramatiker taugt und in der Tempelszene der »Königin von Saba« eine weiter ausgebildete Gestaltung und wohl ihren Höhepunkt erreichte. Das Kolorit seiner Farben-Mischungen wirkte berauschend – eine Parallelerscheinung zu der gleichzeitigen Farbenpracht der Gemälde von Makart, bei dem auch das Verhältnis von Linie und Farbe ein ähnliches ist. Goldmark benutzt auch harmonische Reize gleichsam zu koloristischen Wirkungen. Vielleicht mischt sich dem üppigen Duft seiner Melodieblüten ein scharfes Aroma von Gewürzen bei, das die Glut der Aeußerungen zu grell erscheinen ließe. Allein der Dramatiker hat das Recht, aus dem Stoffe zu holen, was irgend an Steigerung zu gewinnen ist. Mit sicherer Hand greift Goldmark zu und feine Phantasie ist beflügelt vom Flug der Ideen.

Fast in allen Zweigen der Tonkunst betätigte sich der Künstler. Wir können ihn heute nur von der Seite des Kammermusik-, Lied- und Chorkomponisten zeigen. Er hält in der ersteren Einkehr in das Mittelhaus musikalischen Affektes und bietet dem häuslichen Kreise seine Erfassung von Familie und Beschaulichkeit. Er bedient sich dabei manchmal unversehens der Leuchtkörper, wie sie in den Soffiten der Bühne aufgestellt werden. Er zeigt sich auch da nicht als stürmender Neutöner, nicht als rückstauender Alttöner, sondern als strebender Selbsttöner. Seine erfinderische Selbständigkeit behält er auch in Werken, in denen er sich stilistisch an Vorbilder enger anschließt, wie es in den Opern nach der »Königin von Saba« klar hervortritt. Seine Anlehnung ist dann nicht gleichbedeutend mit Aufgeben seiner Persönlichkeit. Er findet sich immer wieder.

Unter den repräsentativen Persönlichkeiten der Wiener schaffenden Tonkunst der letzten fünfzig Jahre hat Goldmark seinen Eigenplatz neben Brahms, Bruckner, Mahler, Johann Strauß und Hugo Wolf – ich kann nur die bedeutendsten nennen, und zwar in alphabetischer Folge, um die Rangstellung nach dem Relativitätswerte ihrer Kunst zu vermeiden. Goldmarks Eigenstellung in dieser Reihenfolge läßt sich am besten präzisieren, wenn man die Eigenart der anderen wenigstens in einem Sätzchen charakterisiert. Strauß ist wohl der Populärste, seine Weisen sind dem Urwiener am tiefsten ins Herz gedrungen, er hat dem Wienertum musikalisch die Welt erobert. Brahms ist tonsetzerisch wohl der Höchststehende, der Großdeutschtum und Großösterreichertum in einer Art vereinigt, wie sie sich im gegenwärtigen Weltkriege in der Waffenbruderschaft so herrlich bewährt. Bruckner ist im Schwung und Erhabenheit symphonischer Ideen in künstlerischer Verklärung der Weisen seiner Heimat und als katholischer Kirchenkomponist der fürs Oesterreichertum Markanteste, der immer mehr Boden im Deutschen Reiche gewinnt. Mahler weist im Tiefblick und Vorausgriff auf kommende Zeiten und steht als Verherrlicher des österreichischen Soldatentums voran. Hugo Wolf ist ein ruhmvoller Erbe deutsch-österreichischer Liederkunst neuem Ausdruck und neuer Gestaltung. Goldmark repräsentiert das Oesterreichertum in der Umfassung der musikalisches Idiome der Gesamtmonarchie, in der Beziehung zum Orient, in dem nie zu tilgenden Austausch mit der italienischen Kunst und nähert sich in seinem dramatischen Hauptwerk der damals begünstigten französischen großen Oper. Erstaunlich, daß Goldmark bei derart kombinierten Einflüssen sich selbst treu bleiben konnte. In der Tat, das beste Zeugnis für seinen Charakter, seine Seelenstärke, und seine Eigenanlage. Wir gedenken seiner in Verehrung und Dankbarkeit.
(Neue Freie Presse vom 9. Januar 1915)