Neue Freie Presse vom 20. Januar 1915

Feuilleton
Goldmark-Erinnerungen.

Von Anton Bettelheim.
Vor einem Jahrzehnt überraschte mich mein Schwager Julius Gomperz mit der angelegentlichen Aufforderung, den künstlerischen Werdegang meiner Schwester zu schildern. Seine freundschaftliche Anregung bestimmte mich, »ein biographisches Blatt: Karoline v. Gompesz-Bettelheim« als Handschrift für Freunde drucken zu lassen, nachdem ich zuvor den ältesten, zuverlässigsten Zeugen unserer Geschicke um genaueren Aufschluß über den Beginn seiner Beziehungen zu meinem Elternhaus gebeten hatte. In gewohnter Güte willfahrte Karl Goldmark meinem Wunsche durch die folgenden Aufzeichnungen: »Ungefähr 1852 habe ich den Klavierunterricht Karolinens übernommen. Alsbald zeigte sich ihre große Begabung, eine Begabung nicht bloß für Musik, sondern ein allgemein starker Intellekt. Sie war sechs oder sieben Jabre alt, ein lieblich anmutiges Kind, mit glühend tiefen Augen, Händchen wie Stahl, ihr ganzes Wesen gesund und kräftig an Leib und Seele, voll Leben, Frische, geistiger Potenz. Natürlich zog mich das liebliche Kind mit seinen früh hervortretenden künstlerischen und geistigen Fähigkeiten so stark an, daß ich ihr viel mehr Zeit widmete, als ich sollte. Ich behielt sie oft fünf bis sechs Stunden am Klavier, denn ich liebte dieses siebenjährige Kind bereits ganz herzlich. Ich führte sie in den Prater, setzte sie in das Ringelspiel oder spielte in Hemdärmeln Ball mit ihr auf den Wiesen. Sie machte rapide Fortschritte. Schon im zweiten Jahr des Unterrichtes spielte sie Cramer-Etuden im Tempo. Folgendes kleines Beispiel illustriert am besten ihre Tüchtigkeit, Findigkeit und Geistesgegenwart. In demselben Jahre spielte ich in einem Konzert (im Streicher-Saal) einige Violinstücke von mir. Karoline begleitete mich. Beim Umblättern wirft sie in der Eile die losen Notenblätter auf die Erde. Mit Blitzesschnelle rafft sie die Blätter vom Boden auf, wirft sie aufs Pult, und da ich weiterspiele, springt sie fix dahin, wo ich mich im Stücke befand. Und sie war sieben bis acht Jahre alt! Als Zeuge ihres glänzenden Gedächtnisses kann ich anführen, daß sie den ersten Band des wohltemperierten Klaviers von J. S. Bach – das sind 24 Präludien mit ebensoviel Fugen – auswendig spielte. Im Jahre 1858 ging ich aus Familienrücksichten nach Budapest und mußte den Unterricht leider in andere Hände legen. Ich blieb anderthalb Jahre fort und in dieser Zeit gaben die Lehrer Dunkl, Weitz und Pirkert ihr Klavierunterricht. Im Jahre 1860 kehrte ich nach Wien zurück und übernahm wieder den Unterricht. 1861 oder 1862 gab ich mein zweites Kompositionskonzert in Wien noch im alten Musikvereinssaale. Karoline trat da zum erstenmal vor das Publikum. Sie spielte sechs Stücke aus meinem ›Sturm und Drang‹. Ihr Spiel, sowie ihre jugendlich faszinierende Erscheinung machten Aufsehen. Leider endete damit auch der fleißige fortschreitende Klavierunterricht, denn die bedeutendere Karriere der Sängerin trat nun hervor. Sie spielte noch einigemal in Helunesbergers Quartettsoireen (ich glaube, meine Suite und Trio von Mendelssohn), später begleitete ich sie nach Leipzig, wo sie im Gewandhaus sang und in den Klaviermusikabenden Davids mit diesem das C-Moll-Trio von Mendelssohn spielte. Auch in London spielte sie öffentlich und auch mit der Frau Schumann, doch weiß ich nicht was und wo. Ich glaube in Braunschweig.«

Goldmarks Erzählung ist– und das Gleiche gilt von seinen handschriftlichen, grundgescheiten, stoffreichen, leider nur bis zum Sieg der »Königin von Saba« (1875) führenden Denkwürdigkeiten – ebenso bezeichnend durch das, was er sagt, als durch das was er nicht sagt. Warm und anschaulich würdigt er Wesen und Leistungen der anderen: des eigenen Verdienstes gedenkt er mit keiner Silbe. In einem mehr als zwei Menschenalter währenden Verkehr ist Karl Goldmark den meinigen allen, ganz abgesehen von seiner Künstlerschaft, als tiefdenkender Autodidakt und als Charakter von seltener Rechtschaffenheit, nur durch die Kraft seines lebendigen Vorbildes absichtslos ein Erzieher ohnegleichen und als geselliges Genie ein Lebenskamerad wie kein zweiter gewesen. Der blutarme Sohn eines nur an (21) Kindern reichen ungarischen Kantors, den niemand als die grimmigste Not in schweren langen Hungerjahren in die Schule nahm, gab in seiner Lebensführung seit seiner sorgenreichen Frühzeit bis in das Patriarchenalter ein leichter bewundertes als befolgtes Beispiel von Selbstbeherrschung und Selbstüberwindung, von Milde und Weisheit. All das ohne den leisesten Anflug von Feierlichkeit oder Gespreiztheit. Er besaß in Wahrheit den Wunderring Nathans, der vor Gott und Menschen angenehm macht. Und er gewann durch den Segen dieser Naturgabe jeden, der ihm begegnete, schon zu Zeiten, da niemand seinen künftigen Ruhm ahnte, in den Tagen seines Eintrittes in mem Elternhaus.

Der bisherige Klavierlehrer meiner Schwester, ein gutmütiger, nur etwas ungeschlachter, durch sein schnurriges Pathos in den älteren Wiener Musikerkreisen sagenumsponnen fortlebender Geselle Moritz Laufer fühlte den unwiderstehlichen Drang, die Laibacher als Tenorist zu beglücken. Der gute Laufer legte dort, wie er, nachträglich durch eigenen Schaden klug, das heißt Gesanglehrer, geworden, eingestand, im ersten Akt seiner Rolle dermaßen los, daß er vom zweiten Akt an vollkommen stimmlos wurde. Die Laibacher zischten bei seinem Auftreten denn auch ausgiebiger als sie applaudierten, und die dortige Kritik verteilte Lob und Tadel in gleichem Maß nach dem Verhältnis von einem Akt zu drei oder fünf Akten. Zeuge dessen ein mehrere Pfund schweres Paket von Laibacher Theaterzetteln und Zeitungsblättern, das Laufer meinen Eltern unfrankiert ins Haus schickte, ein Danaergeschenk, das bei den damaligen, den Heutigen unglaublichen Strafportosätzen in dem sehr schmalen Haushalt meiner Mutter durch seine Kostspieligkeit, sechs oder acht Gulden Konventionsmünze, unvergessen fortlebte. Vor dem Abschied empfahl Laufer als seinen Ersatzmann den zweiten Primgeiger am Carl-Theater; Laufers Nachfolger war zwar nicht imstande, selbst auf dem Flügel auch nur eine Tonleiter geläufig zu spielen; gleichwohl merkte meine scharfblickende Mutter bald, welcher neue Geist mit dem neuen Lehrer, Karl Goldmark, eingezogen war, der als einziges Entgelt den Mittagstisch bekam. Welche Rettung diese sichere tägliche Hauptmahlzeit dazumal für Goldmark bedeutete, sagte er, der fast niemals von seiner Elendzeit sprach, uns erst 1909 in Abbazia. Bevor er zu »Mama Beitelheim« kam, hatte er Monate hindurch keine andere Nahrung als Milch und Gurken, eine Kost, die selbst diesem geübten Hungervirtuosen auf die Dauer so schlecht bekam, daß Adolf Fischhof, der nächste Freund und Berufgenosse seines Stiefbruders Dr. Josef Goldmark, den Schwererkrankten mühsam im Spital herauspflegen mußte. Diese furchtbare Not war über den jungen Geiger infolge der achtundvierziger Revolution hereingebrochen; seine Eltern hatten den Knaben 1846 nach Wien geschickt, wo er an seinem älteren Bruder einen treuen Helfer und Führer und im Konservatorium gediegene Musiklehrer fand. Nach Ausbruch der Revolution wurde Dr. Josef Goldmark, der sich bis dahin als Arzt und Entdecker des roten Phosphors hervorgetan, als Wortführer der Demokraten Reichstagsabgeordneter, der durch seine rechtliche Haltung die Achtung auch andersgesinnter Parlamentarier, Lasser, Kajetan Mayr, Smolka usw. sich errang, zugleich aber auch den unauslöschlichen Haß der außerhalb stehenden Reaktionäre auf sich zog, so daß er, wie Kudlich, nach Aufhebung der Kremsierer Verfassung aus Oesterreich flüchten mußte. Dem nach Amerika Ausgewanderten wurde hinterdrein in absentia nicht nur ein Hochverrats-, sondern überdies ein Halsprozeß wegen Mitschuld an der Ermordung des Kriegsministers Latour gemacht. Und obwohl Josef Goldmark wie Borrosch und Fischhof mit Gefahr des eigenen Lebens am 6. Oktober um die Rettung Latours sich bemüht hatte, erfolgte ein Kontumazurteil. das Todesstrafe über Josef Gyldmark verhängte. Ein schmachvoller Tendenzprozeß, der 1867 durch die Tatkraft des freiwillig aus Amerika nur zur Wiederaufnahme des Verfahrens nach Wien zurückkehrenden Josef Goldmark zu dessen vollständiger Freisprechung führte. 1849 verlor Karl Goldmark mit dem älteren Bruder nicht bloß seinen einzigen Halt in Wien; während der ungarischen Wirren wurde der junge Musiker vorübergehend kriegsgefangen, schon durch seinen Namen verdächtig, an Leib und Leben gefährdet. Wie Karl Goldmark die Heimsuchungen und Entbehrungen der Habre 1849 bis 1852 überstand, blieb ihm selbst ein Rätsel. Und erst durch seine Einführung in mein Elternhaus fühlte er sich buchstäblich von der Sorge um das tägliche Brot befreit. Anfangs war er so schüchtern, daß ihn mein Vater ein Jahr hindurch für einen Stammler hielt. Dann löste ihm das Vertrauen und der Anteil der Meinigen die Zunge so glücklich, daß mir von von Kindesbeinen an Goldmark als einer der beredtsten, fröhlichsten Gesellschafter, als einer der kenntnisreichsten, mitteilsamsten Plauderkünstler erschien. Frühzeitig wurde er auch mein gewissenhafter, gestrenger Geigenlehrer. Skalen in allen Zeitmaßen, Ton- und Stricharten. sonst bei kratzenden Anfängern eine Marter für die Umgebung, wurden wenigstens in der »Stunde« ein begierig erwarteter Genuß für die musikalischen Gemüter unserer Familie. Auf seiner zweiten Violine begleitete Goldmark meine Tonleitern in immer neuen Wendungen und Einfällen; das kahle, krause Lattenwerk umkleidete er mit sinnreichen Figuren, die niemals in eigenwillige Spielereien sich verkehrten, vielmehr die Aufmerksamkeit, den Stolz und Wetteifer des Schülers herausforderten. Gründlich und stetig führte Goldmark den eines solchen Meisters recht unwürdigen Zögling von den Kreuzerschen Etüden zu den Virtuosenstücken von Beriot und Vieuxtemps und den Geigenkonzerten von Rode, Mendelssohn und Beethoven, die ich bei manchen »Redeakten« im Akademischen Gymnasium zum Besten der Schülerlade vorzutragen hatte. Seine Geduld war groß; ihre Grenze fand sie nur, sobald sein krankhaft empfindlich rhythmisches Empfinden verletzt oder eine seiner Lieblingsnuancen mißverstanden wurde. Dann schlug sein scheinbar unerschütterlicher Gleichmut in Raserei um, so daß heute noch in der Spohrschen Gesangsszene mein Geigenpart die Spur seines rächenden Fiedelbogens, einen Riß an der Stelle zeigt, die ich ihm beim besten Willen nicht recht machen konnte. In solchen Augenblicken wimmerte er schmerzhaft auf und als ich in der Knabenzeit zum erstenmal Dawison im Theater an der Wien sah, gab es mir bei seinem Wehruf: „Fis! Madame, spielen Sie Fis!« einen Ruck – so naturgetreu glaubte ich Goldmarks eigenste Stimme klagen zu hören. Ein neidenswertester Lehrer für überlegene Begabunge, war Goldmark also gewiß keiner der Musterpädagogen, die Ausnahms- und Durchschnittsnaturen mit derselben Ruhe behandeln. Er selbst hat jahrzehntelang schwer unter dem Zwang gelitten, seiner Existenz wegen auch Unberufenen Musikunterricht geben zu müssen. Es dauerte lange – bis zum Triumph der »Königin von Saba«, der dem Fünfundvierzigjährigen bescheidene Unabhängigkeit sicherte – bevor er diese Last abschütteln konnte, und Nicht viel kürzer, bis er wählerischer sein durfte bei der Uebernahme von Munden. Vorher gab es manchen drolligen und verdrießlichen Zwischenfall. Ein Exzellenzherr, der Goldmark als Klavierlehrer in sein Haus lud, pflegte die Leute nach dem Amtsschematismus zu begrüßen. Die ganze Hand reichte er nur Würdenträgern vom Geheimrat aufwärts, Sektionschefs bekamen die halbe Haitd; Rangabstufungen vom Sektionsrat abwärts entsprach das zweite und dritte Fingerglied und für einen titellosen Musikus blieben nur die Nagelspitzen übrig. Goldmark erwiderte Gleiches mit Gleichem; er streckte femer Exzellenz ebenfalls bloß die Fingernägel entgegen. Die stumme Lektion über den Umgang mit Menschen fruchtete bei Sr. Exzellenz besser als der Klavierunterricht bei deren talentlosen Kindern.

Willkommener als so unersprießliche Stundengebern waren Goldmark mäßig bezahlte Quartettabende in Wiener Bürgerhäusern. Er war besonders gesucht als Bratschist, der es im Vertrauen auf seine Feinhörigkeit nicht streng mit dem Zählen nahm. In Kammermusikwerken von Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert konnte er das getrost tun. Bei anderen altväterischen Meistern begab es sich freilich, daß Goldmark gelegentlich gar nicht oder unrichtig einfiel: Saumseligkeiten, die ihm zu seiner Belustigung unter seinen Kameraden den Spitznamen »Pausa-nie-as« eintrugen. Mit herzhaftem Lachen gab er an unserem Mittagstisch solche und ähnliche Späße. Zum besten, auch wenn sie auf ihn gemünzt waren, lieber dem Scherz kam nie der Ernst zu kurz. Er wurde nicht müde, sein Evangelium Bach und vor allem Beethoven zu verkünden. Er predigte die dazumal neue Heilslehre Robert Schumanns. Er wanderte mit den Meinigen zur Wiener Uraufführung des »Tannhäuser« in das Theater in der Josefstadt und wurde einer der ersten Verteidiger Richard Wagners in Wien. Noch erstaunlicher als die schwärmerischen Reden und tiefgeschöpften Theorien des jungen Goldmark zum Ruhm der Meister seiner Kunst bleiben mir seine Gespräche über Dichtung, Philosophie, Naturwissenschaft. Ein ausdauernder, sorgsamer Leser, ein selbständiger Kopf, empfänglich für alles Bedeutende, speiste und mehrte er sein Wissen aus allen ihm erreichbaren Quellen. Im Café Français, im ersten Stock eines längst niedergerissenen, vom Stock im Eisen auf den Graben einspringenden Häuserblocks, traf er außer nahen Berufsgenossen oft und gern einen Kreis junger Gelehrter, bei denen er sich eifrig Rats erholte. Ihre Winke machte er sich bei seinen Studien zunutze. Unvergeßlich ist mir, mit welcher Klarheit uns Goldmark Während des amerikanischen Krieges Aufschluß gab über Anlage und Kampfart der Panzerschiffe. Von einem seiner Kaffeehausbekannten empfing Goldmark auch den Hinweis auf Kalidasas »Sakuntala«, deren Lob er uns nicht weniger überschwenglich sang, als das Goethe in vielberufenen Distichen getan. Der junge Physiker, der Goldmark unbewußt den ersten Anstoß zu seiner bekanntesten und besten Ouvertüre gab, war, wenn mein Gedächtnis mich nicht täuscht, ein mittlerweile nicht weniger berühmt gewordener Mann: Ernst Mach.

Auf den Stoff der »Königin von Saba« für ein Opernlibretto lenkte wiederum meine Mutter den längst nach einem seiner Natur gemäßen Vorwurf forschenden Goldmark. Sie kam eines Vormittags auf dem Mehlmarkt an der Ecke der Plankengasse liegenden Kunsthandlung Paterno vorüber, wo ein Stich nach dem Bilde Henri Chopins »La reine de Saba« ausgestellt war. Unmittelbar unter diesem Eindruck begann die bibelfeste Frau bei Tisch die Begegnung der exotischen Fürstin mit Salomo nach dem Buch der Könige und ihren prunkenden Einzug nach dem französischen Bild auszumalen und dem lebhaft aufhorchenden Golomark Reiz und Wert dieses Stoffes just für den Komponisten der »Sakuntala«-Ouvertüre ans Herz zu legen. Ihr Vorschlag beschäftigte Goldmark so nachhaltig, daß er Mosenthal um dessen Ausführung in einem Textbuch anging. Die Entschlossenheit, mit der Goldmark, der sich bis dahin nie als Dramatiker versucht hatte, zehn seiner kraftvollsten Mannesjahre an die Ausarbeitung dieses Werkes wendete, war ein neuer Beweis seiner Beharrlichkeit, aller Widerstände Herr zu werden durch Anspannung seiner vollen schöpferische Kraft. Schritt für Schritt hatte sich Goldmark Geltung als Tondichter erobern müssen. Lässigkeit nnd Gehässigkeit hatten sich seit seinen ersten Versuchen gegen ihn verbündet. Als sein Jugendfreund J. R. Dunkl, ein Liszt-Schüler, vom Musikalienhändler Haslinger eingeladen, an einem seiner Novitätenabende zu spielen, ein paar Klavierstücke Goldmarks vortragen wollte, verzichtete Haslinger wegen dieser Wahl erbarmungslos unbedingt auf Dunkls Mitwirkung. Schlimmer war, daß ein so großherziger Künstler wie Anton Rubinstein Goldmarks Erstlinge ablehnte; so erzählte er mir, als er mir im vorigen Frühjahr auf einer Spazierfahrt das Haus in Neuwaldegg zeigte, in dem sich Rubinstein Ende der fünfziger Jahre niedergelassen. Dort wollte er ein Trio Goldmarks kennen lernen. Während des Spielens wurde Rubinstein immer ungeduldiger, bis er zuletzt in jäher Aufwallung ausrief: »Nein, mem Bester, das ist keine Musik. Studieren Sie Mozart, junger Mann.« Eine Abfertigung, die Goldmark dem von ihm als Klavierspieler, nach Gebühr verehrten Meister niemals nachtrug. Der Kritik war der Neuerer Goldmark nun gar vielfach ein jedem Pfeilschuß vogelfreier, heiliger Sebastian. »Dissonanzenkönig« lautete eine der zahmeren Charakteristiken. Eine zweite Stimme bezeichnete Goldmarks Kompositionen als »musikalischen Branntwein«. Ein dritter, dem Goldmarks Behandlung seiner Liedertexte mißfiel, zog als Parallele die Arsenikbehandlung frischer Wiesengründe heran. Und ein vierter verglich Goldmarks Triolen in einer gar nicht judenhetzerischen Zeit und Zeitung höhnisch den Peies, den Seitenlöckchen der polnischen Juden. Die Festigkeit, mit der Goldmark – einen gleich zu erwähnenden Fall ausgenommen – solche Angriffe sich nicht anfechten ließ, ist besonderer Achtung wert. Als er nach seinem Kompositionskonzert, zum erstenmal das Opfer eines solchen Schlachtfestes geworden, herabgemuntert nach Haus kam, fand er die Visitenkarten zweier ihm bis dahin persönlich unbekannter Musiker, deren Kundgebung ihm bewies, wie die Berufensten über ihn dachten: Peter Cornelius und Karl Taussig [!]. Er hat den trefflichen Kameraden diesen trostreichen Besuch so wenig vergessen, wie anderen Wiener Freunden, Epstein, Door, Gänsbacher, Bachrich, Brüll, Dessoff, Hellmesberger ihren unbeirrbaren Glauben an sein Können. Allein auch ohne solche Ermutigung hätte Goldmark, fern von Ueberhebung und Ueberschätzung, die Zuversicht auf seine Sendung nie verloren. In gewissenhafter Selbsterforschung stellte er sich nie den Größten gleich. In aller Bescheidenheit besaß er indessen vom Anbeginn die Selbstsicherheit, ein Eigener, ein Ganzer zu sein. Dieses Bewußtsein hielt ihn ausrecht inmitten aller unbegreiflichen Bosheit und Stumpfheit, die sich nach Abschluß der Partitur seiner »Königin von Saba« gegen deren Annahme in der Hofoper verschwor. Vielleicht hätte das Werk nie den Weg auf die Bühne gefunden, wenn nicht die Gemahlin des ehemaligen Obersthofmeisters, die Freundin Liszts, Hebbels und Saars, Fürstin Marie Hohenlohe, wie das Goldmark bei jeder Gelegenheit in überströmender Dankbarkeit aussprach, und Fürst Konstantin Hohenlohe die Aufführung durchgesetzt hätten. Ueber den Hergang dieser Dinge teilte mir Fürstin Marie Hohenlohe auf mein Ersuchen gütigst mit der Ermächtigung zur Veröffentlichung ihrer Zeilen das Folgende mit: »Den Befehl zur Aufführung der ›Königin ivon Saba‹ gab mein Mann aus eigener Initiative. Herbeck (damals Direktor der Hofoper) verhalf ihm zum Einblick in die Partitur der Oper, die ihm außerordentlich gefiel. Ich hatte nur in einem Konzert die ›Sakuntala‹ -Ouvertüre gehört, die mich begeisterte. Mosenthal verwendete sich sehr warm für Goldmark bei uns beiden. Er gab uns in seinem vierten oder fünften Stock eine reizende Soiree, in der Goldmarksche Quartette zu Gehör gebracht wurden. Frau v. Unger (dazumal Baronin Emmy Worms-Schey) vertrat die Hausfrau, und als ich ihr bei Ihnen begegnete, erinnerte sie sich noch mit Goldmark an diesen eigen künstlerisch angeregten Abend. Die Erklimmung hoher Stöcke bildete für mich damals kein Hindernis, und die künstlerische Höhenluft tat uns allen wohl. Goldmark gehörte von da an zum Kreise unserer Gäste; alljährlich erschien er einigemal an unseren musikalischen Abenden. In seiner Bescheidenheit suchte er gar nicht die Obersthofmeisterin für seinen ›Merlin‹ oder andere Werke zu gewinnen, und meine vielen Verpflichtungen hielten mich ab, ihnen eifriger nachzugehen.« Als es nach unsäglichen Mühen zur Generalprobe kam, die uns Laien durch die Fülle und Eigenart der Goldmarkschen Tonwelt berauschte und durch die Meisterleistungen der Sänger (Wilt, Materna, Walter, Beck. Rokitansky) begeisterte, hörte Goldmark mit einemmal das Donnerwort, die Oper dauere eine Stunde zu lang. Und nun hieß es, nachdem er sich mühselig von einer schweren Ohnmacht erholt, noch in derselben Nacht schonungslos zu streichen. Die Uraufführung brachte Goldmark triumphale Ehren, die Morgennotizen der Blätter bestätigten den ungemein starken Erfolg. Desto schärfer ging die Mehrheit der Musikfeuilletons am zweiten Tag mit der Oper ins Gericht. »Uns schatten keine Palmen,« schalt ein alter, nachmals zu Goldmark bekehrter Gegner. Niemand im engeren Freundeskreis des Komponisten kümmerte sich um diese und andere mißgünstige Urteile. Verwundert waren wir nur, daß er sich ungeachtet aller Glückwünsche, vierundzwanzig Stunden nicht blicken ließ. Endlich am merken Tag nach der siegreichen Premiere, sahen wir ihn hereinwanken, erdfahl, hoffnungslos: »Min Werk ist hin, die Kritik hat es umgebracht!« Es bedurfte nicht unseres Zuspruches, ihn von seinem Irrtum, dieser an ihm sonst nicht gewohnten Furcht vor der Kritik zu heilen. Die »Königin von Saba« wurde, 1897 bereits zum hundertstenmal gegeben, Zugoper und Goldmark erholte sich von allen Hetzen und Prüfungen, wie er das ehedem getan, nunmehr endlich ganz Herr seiner Zeit geworden, in neuer Arbeit und in freier Natur.

Er war ein Landkind, und Wald-, Wiesen- und Wasserfreude steckte ihm dermaßen im Blut, daß er auch in den Jahren der ärgsten Wiener Fron jeden freien Augenblick zu Fußwanderungen ausnützte. Einer dieser Ausflüge machte ihn straffällig. Er war mit anderen übermütigen Freunden über Gutenstein nach Schwarzau gegangen. Unterkunft und Kost gaben ihnen wetteifernd Bauern und Pfarrherren, nachdem die lustigen Musikanten freiwillig in den Kirchen mitgespielt hatten. In solcher Feiertagsstimmung ließ sich Goldmark eine Urlaubsüberschreitung zuschulden kommen, und obwohl Direktor Nestroy seinen Konzertmeister Pardonnieren und bei seinem Monatsgehalt von 20 fl. K.-M. belassen wollte, diktierte der unerbittliche »Oekonom« dieser Bühne, Franz Treumann (dessen seine Untergebenen allezeit nur respektlos mit dem Wort aus den »Räubern« gedachten, »Franz heißt die Canaille«), eine so harte Geldstrafe im Betrage etlicher Monatsgagen, daß Goldmark leichten Herzens und leichterer Tasche Abschied von Nestroy nahm.

Desto treuer hielt er an der Natur fest. Es gäbe ein Kapital für sich, Goldmark auf der Landpartie, Goldmark in der Fusch, zu deren Entdeckern er gehörte und der er in seinen Fuscher Chören gehuldigt hat, vor allem aber Goldmark in Gmunden, zu zeigen. Mehr als 40 Jahre lang ist er an den Traunsee gekommen und hat dort in einem an der Fahrstraße gelegenen Häuschen im Kranabeth zwei einfache ebenerdige Zimmer bewohnt, die vermutlich ein tantiemenschwerer Operettenkomponist heutzutag zu gering für seinen Chauffeur finden würde. Goldmarks Liebe für dieses mehr als anspruchslose Quartier hat Gegenliebe gefunden. Sein vor ihm geschiedener Hausherr hatte zu seiner Ueberraschung letztwillig verfügt, daß Goldmark nie gekündigt werden dürfe, und es heißt, daß die Wohnung des Meisters nun in ein Museum verwandelt werden soll. Das erstemal kam Goldmark Anfang der siebziger Jahre meiner Familie zuliebe nach Gmunden, und er fühlte sich da von Anbeginn so wohl, daß er fortan jahraus, jahrein bis tief in den Spätherbst und Vorwinter in seliger Abgeschlossenheit in seiner Kranabether Klause arbeitete. In besonders liebem Andenken steht mir der Sommer, in dem ich, zu meinem letzten Rigorosum rüstend, mit meiner guten Mutter bei der »Loderbäuerin« hauste. Vormittags wurde fleißig geschanzt, mittags trafen wir drei uns zum Mittagstisch hoch über der brausenden Traun im »Goldenen Brunnen«. Dann kam Goldmark regelmäßig zum schwarzen Kaffee, zum »Dreier« und der sich immer erneuernden Zigarre in unser Puppenstübchen, Behagen verbreitend, wie kaum ein anderer. Nach dem Tarock ging’s tagtäglich über den Gmundner Berg, dessen Sohle damals noch kein Schienenstrang durchschnitt. Bei hellem Himmel hob sich der Traunstein und das Tote Gebirge bis zum Hohen Priel immer gewaltiger heraus; bei besonderem Wolkenstand erlebten wir mehr als einmal Felsenglühen, das uns mächtiger packte, als Alpenglühen in der Fufch. Der Riesenblock des Traunstein glich minutenlang einem ungeheuren, über den grünen Seespiegel purpurrot aufflammenden Eisenklumpen, bis er sich jählings aschgrau, leichenfahl entfärbte. Es fiel angesichts dieses einzigen Naturschauspiels keinem von uns ein, Worte zu machen. Mir genügte es, Goldmark im Auge zu behalten, wie er sich schweigend mit den Blicken förmlich festsaugte an dem Farbenspiel von See, Gebirge, Obstbäumen, Matten und Ackerland. Nicht weniger scharf achtete er auf die sauren Tagewerke und seltenen Lustbarkeiten der Bauernschaft, auf fluchende Fuhrleute, jodelnde Sennerinnen und so manchen auf dem Altmünsterer Tanzboden mit Schnadahüpfeln und Raufereien ausgehenden Festschmaus, so daß ich, wenn immer – das letztemal bei der Gedenkfeier des Tonkünstlerorchesters – seine gelungenste Symphonie »Ländliche Hochzeit« laut wird, an Goldmarks Gmundner Gänge denken muß. Wie Alpenluft weht es uns aus dieser 1875 entstandenen Schöpfung an: Jauchzen und Dörpertanz, Liebesklage und Liebeslust unseres Bergvolkes erneut sich künstlerisch gesteigert in Goldmarks Pastorale.

Von diesem Werk, das er just dazumal unter der Feder hatte, redete er so wenig wie vom Felsenglühen. Unser Gesprächsstoff war gleichwohl unerschöpflich. Goldmark war ein Grübler, der über die letzten Rätsel in Kunst und Leben das lösende Wort in keinem der ihm wohlbekannten Denker von Plato bis auf Schopenhauer fand. In Wahrheit ein voraussetzungsloser Forscher, der sich so wenig in eine Konfession als in ein System bannen ließ, eroberte er sich in der Gedankenwelt, wie in der Musikwelt sein eigenes Reich. Ein Weiser, den über alle Widersprüche dieser Erde, über alle seinem Tiefblick nicht verborgene Niedertracht, Falschheit und Gemeinheit die Seligkeit des Schaffens, das Gefühl der eigenen, unzerstörbaren Menschenwürde, echte, ohne irgendwelche Redensart als selbstverständliche Pflicht geübte Hilfsbereitschaft für alle Kreatur emporhob. Auf solcher nathanischer, Lessingscher Höhe behauptete sich Goldmark, solang ich zurückdenken kann, bis an sein Lebensende, das durch den über den Friedfertigen unvermutet hereinbrechenden Krieg seine Lehre und seine Fassung auf eine entscheidende Probe stellte. Sein einziger, heißgeliebter Enkel, ein neunzehnjähriger Jüngling, zog jubelnd nach Serbien. Goldmark erfüllten von Anfang trübe Ahnungen. Inmitten aller Sorgen um die eigene Gefahr und die Not des Vaterlandes versäumte der Vierundachtzigjährige seine Künstlerpflicht so wenig wie seine Bürgerpflicht. Er vollendete ein neues Quintett und ruhte, als im Wirrwarr der Heimfahrt sein Koffer auf der Bahn in Verlust geriet, nicht, bis er das Werk aus dem Gedächtnis zum zweitenmal zu Papier gebracht. Er widmete für bedrängte Tonkünstler ein nach seinen Mitteln sehr ansehnliches Scherflein. Er war in liebenswürdiger Pflichterfüllung als Kurator der Akademie zur Stelle, als Opernschüler am 6. Dezember sein »Heimchen am Herd« aufführten, obwohl er mir im Zwischenakt nicht verhehlte, daß er unablässig an das Los seines Enkels denken müsse. Und er besaß, als er auf dem Sterbelager hörte, daß sein Enkel vor ein paar Wochen bei der Erstürmung einer Schanze gefallen sei, die Selbstüberwindung, ohne Schmerzensausbruch zu sagen: »Ich hab‘ es längst gewußt.« Bis zum letzten Atemzug hat er sich milde in das Unabwendbare ergeben, hat er Verzweiflung und Welthaß nicht aufkommen lassen. Er hielt unbeirrbar an der Zuversicht fest, daß Kunst und Menschheit sich immer wieder verjüngen und erneuern müssen. Seinesgleichen, einen zweiten Goldmark, werden wir allerdings in gleicher Vollkommenkeit nicht nachwachsen sehen. Er selbst aber schied mit derselben Hoffnung, die Gottfried Keller im »Poetentod« gehegt:

Daß meines Sinnes unbekannter Erbe
Mit find’ger Hand, vielleicht im Schülerkleid,
Auf offnem Markte ahnungsvoll erwerbe
Die Heilkraft wider der Vernachtung Leid.

»Die Heilkraft wider der Vernachtung Leid«, das ist das dauernde Vermächtnis von Goldmarks Kunst und Leben. »Die Heilkraft wider der Vernachtung Leid« – sie war uns niemals notwendiger als in diesen Zeiten ohnegleichen, da die alte Welt aus den Fugen ist und in Scherben zu gehen scheint.

Neue Freie Presse vom 20. Januar 1915