Der Merker 1915/I

GOLDMARK.
VON
RICHARD SPECHT.

Nun ist auch Goldmark fort und die österreichische Musik hat keinen Mittelpunkt mehr. So viele bedeutsame Begabungen auch in unserem Lande schöpferisch erfreulich tätig sind, so stark sich auch eine neue Jugend ankündigt – sie alle, mögen sie der reifen Schar der Grädener, Fuchs, Kienzl, Reiter, Mandl, oder der jugendlich verheißungsvollen Front der Korngold, Schreker, Zemlinsky, Schönberg, Schmidt, Prohaska, Weigl angehören, sind gleichsam die Gefäße, in denen sich der Blutkreislauf unserer Musik vollzieht. Aber ihr Herz hat in Carl Goldmark geschlagen und sie alle, ob siel nun eingestanden oder nicht, haben ihn als den – Meister vom Stuhl – empfunden, als ihr Zentrum und als ihren Repräsentanten. Weil er der einzige unter allen war, der mit Fug den Meistertitel trug. – »Wie ers wollt’s so konnt‘ ers« – und wie ers konnte, das ergab eine absolute Eigenheit, eine von altem Vorhergegangenen und allem Nachfolgenden scharf unterschiedene Besonderheit, die keiner jemals mehr verkennen konnte, wenn sie ihm einmal – und sei es selbst nur in einer kleinen Taktgruppe – aufgegangen war. Was nach ihm kommt, ist neue Entwicklung, ist Anfang und Verkündigung und wird, wills Gott, in einzelnen Erscheinungen zu neuer Meisterschaft emporwachsen: es gibt der Zeichen genug, die solche Erwartung bekräftigen. Aber im Augenblick ist keiner da, der den verwaisten Hochsitz nach ihm mit Fug einnehmen könnte. Er war eine Erfüllung und ein Ende; war vor allem eine Komplettheit, eine in sich vollkommene, starke, in ihrem glänzenden Vermögen und in ihrem Begrenztsein durchaus bestimmte, singuläre Natur, deren Gesten vielleicht zu kopieren sind, aber deren Wesen in seinem Glühen, seiner leuchtenden Exotik, seinem Prunk und seiner brünstigen Wärme einen einzigartigen Klang in die Tonwelt getragen hat.

Er ist viel angegriffen worden. Man hat die rauschende Pracht seiner Melodien, die sich gleich heißen Leibern nahe herandrängen, –äußerlich– gescholten, hat die schweren, edelsteinschimmernden, scharlachbrokatenen Gewebe seiner fieberisch funkelnden Instrumentalmischungen als gemacht und unecht empfunden und noch Riemann hat das harte Fehlurteil gefällt: »Goldmarks Musik ist farbenreich, voller Leben, aber aufdringlich.« Nichts kann falscher sein, nichts Goldmarks eigenem, vornehm zurückhaltenden, still sich in ruhenden, sich bewahrenden Wesen weniger entsprechen. Gewiß: er stellt manchmal Kulissen in seiner Musik, hat oft etwas dekorativ blendendes, manchmal auch etwas mechanisch stereotypes (immer aber selbst errungenes und nur sich selber wiederholendes), und man mag sich darüber wundern, welche ärgerlichen und üblen Machwerke er als Textunterlage seiner Opernwerke gewählt hat. Aber all das ist nicht dem Raffinement eines effektlüsternen Rechners zuzuschreiben. Eher schon dem absoluten Autodidakten, der er geblieben ist und dem manche künstlerische Erkenntnis verschlossen bleiben mußte; vor allem aber seiner vollkommenem künstlerischen Naivetät, die einfach überall Anlässe zum Musikmachen suchte und der alles andere gleichgültig war. Er hatte eine ganz kindliche Vorstellung vom Theatralischen, hat trotz feurigster Bewunderung Richard Wagners Reformwerk in seiner auch das Dichterische organisch umschließenden Einheit gar nicht erkannt, hatte noch die Begriffe der Meyerbeerzeit, soweit die dramatische Wirkung in Betracht kam und war der verinnerlichenden Dramatik, die seit Wagner gefordert werden muß, eigentlich fremd. Oder vielmehr: er hatte nicht das. Bedürfnis danach, betrachtete den Tee als den Kanevas für seine kostbaren Stickereien, glaubte in seinen Tönen alles in solch prangender Leuchtkraft und beseelter Leidenschaft ausdrücken zu können, daß es ihm nicht auf das Wort, nur auf die äußeren Umrisse der szenischen Handlung ankam. Gewiß, er will wirken; und es ist seltsam, wie oft er sich gerade dadurch, besonders in seinen kleinen symphonischen Dichtungen (die er Ouvertüren nennt) und in seinen Kammerwerken die Wirkung verdirbt: am öftesten durch strettamäßige, äußerlich glänzende Abschlüsse, die statt eines düster glimmenden oder sehnsuchtvoll schmerzlichen Ausklanges plötzlich gleich Opernherolden das Wort an sich reißen und mit Pomp, Geschmetter und Gepränge erdrückend wirken. Wer näher zusieht, empfindet in alledem eine entwaffnende Kindlichkeit und wird vor altem, unter dem hochauflodernden Rausch und Taumel des Übrigen, der betörenden Sinnlichkeit dieser jubelnden, von zackigen Flammen umzüngelten Melodik und ihrem Drängen, Lechzen, Schmachten und Ermatten all der kleinen Äußerlichkeiten vergessen: der schematischen Fugati, der Vorliebe für sogenannte »Rosalien« und ihre thematischen Schiebungen, die leer laufenden formalen Durchführungen, die sich in seiner Konzertmusik finden und zum feststehenden Typus verdichtet haben. Über all diese sekundären Dinge trägt immer wieder der GIanz, die Frische und die Bravour seines Temperaments, seine schwermutvolle, leidenschaftliche und sehnsüchtige Phantastik und ein reizvoll unschuldiger, volksliedmäßiger Einschlag seiner Musik den Sieg davon.

Denn er ist gar nicht der »Orientalist«, als der er im Bewußtsein der Musikgegenwart feststeht; oder vielmehr: das orientalische ist nur ein Teil seines Wesens. Sein Judentum und das Dörfliche der Heimaterde sind in ihm klingend geworden und bilden die markantesten Elemente seiner Musik, die ihre schönsten Erfüllungen findet, wenn der hieratische Prunk, der schwüle sinnliche Duft, die düster fanatische Großartigkeit des Ostens, zigeunerisch werbende Süße und Keckheit und versonnene Kinderliedheiterkeit sieh zu Tonbildern von überraschender Eigenart vereinen. Er ist mit Harfenschlag, Cymbeln und Psalmengesang eingezogen, er hat dann heiter fromme und schlichte Weisen auf des Knaben Wunderhorn gefunden und sein Ausklang hat in ruhigerem Blühen beides wiedererstehen lassen. Den brennenden Farben, dem Zedernrauschen vom Libanon, den lazurblauen indischen Wunderpalästen hat er – in seinen Kammerscherzi, in Liedern, vor allem aber im »Heimchen« und im zweiten Akt des Wintermärchens – bukolische Idyllen in herzlicher Wärme und traulicher Einfalt und doch immer feurig glänzend in ihrem Temperament folgen lassen; hat in den ersten Sätzen seiner Symphonie- und Kammerwerke eine durchaus männIiche Straffheit, eine Geschlossenheit und Fülle und eine Energie des Wurfs, die jene heissere, mandeläugige, in schwerem Duft lastende Melodik erst ergänzt und vollkommen macht. Seine Melodienbildung ist merkwürdig, und nicht nur dort, wo die synkopenuntermalte Triole an alte hebräische Gesänge mahnt, sondern vor allem dort, wo sie in Goldmarks Lieblingstaktart, dem kraftvoll getragenen Dreivierteltakt, von rauschenden SechzehntelsextoIen umflattert, in Viertelnoten hinschreitet, immer aufwärts und aufwärts drängend, immer höher aufleuchtend und schließlich in selig eztatischer Ermattung niedersinkend. Daneben aber findet er ganz kindliche, oft studentisch frische, oft lieblich heitere Weisen – das eigentlich humoristische fehlt ihm! – die ganz auf deutschem Wiesenrain gepflückt sind, an hellen Quellen, von Weißdornbüschen, in denen junge Vögel ihr Nest bauen; sonnige Sommerlieder, zarte Gesänge, die wie von Hirtenflöten klingen. Hinreißend ist die Pracht, die Sinnlichkeit und der Wohllaut seines Orchesterklanges und ganz sonderlich, durchaus persönlich und apart gewürzt seine quartige Harmonik und seine fein ausgewogenen, mit subtilem Reiz wirkenden Dissonanzen. Sie sind früher viel befehdet worden; noch über den übermäßigen Dreiklang, der die »Sappho« eröffnet, hat Hanslick geschrieben, er wirke so, als wenn man einen Satz mit »nichtsdestoweniger« begänne. Nichtsdestoweniger ist dieser schmerzlich erregte, süß quälerische Harfenschlag ein Meistereinfall, ein Geniestreich, weil er mit dem ersten Ton die Stimmung hervorzaubert, augenblicks zum Gehörbilde wird und unvergeßlich bleibt, und weil er so vollkommen die einzigartige Farbe hat, die man fürderhin in der Musik mit dem Begriff »Goldmark« verbinden wird.

Schwer zu entscheiden, welches das höchste Werk ist, das man dieser Eigenart verdankt. Wahrscheinlich doch die bis zum Sprengen mit brausender, durchfieberter Musik angefüllte »Königin von Saba« – schon wegen der kolossalen Tempelszene, in ihrer brennenden Leuchtkraft und ihrer fanatischen Großartigkeit eine der genialsten Eingebungen der Opernmusik. Die edlen Schönheiten des »Merlin« liegen nicht sehr an der Oberfläche; noch weniger die der »Kriegsgefangenen« – des stilistisch einheitlichsten und künstlerisch reinsten Werkes des Meisters, aber spröde und sparsam im Vergleich zu dem tönenden Überfluß der »Saba«. Die neuen Opernwerke »Götz« und »Wintermärchen«, zeigen Golfmark in der vollen Reife des Beherrschens seines Materials und sie sind fast unglaubwürdig in der glanzvollen Frische und Fülle eines Temperaments, an dem die Flucht der Jahre spurlos vorübergezogen zu sein scheint; zu seiner Physiognomie fügen sie keinen neuen Zug hinzu. Es ist die gleiche, die aus dem vornehmen Geigenkonzert blickt, die in den anmutvollen, iu erlesener Rhythmik fesselnden Violinsuiten, und in dem blühenden Pomp der Kammerwerke ihren Ausdruck findet. (Das entzückende, in lieblichsten melodischen Offenbarungen schwelgende E-moll-Trio und das funkelnde Klavierquintett sind Höhepunkte!) Die ungemeine Treffsicherheit plastischer Charakteristik aber waltet unstreitig in den sogenannten Ouvertüren: »Sakuntala« und »Penthesilea«, »Prometheus« und »Sappho« sind ganze Dramen in Tönen, mit greifbarer Deutlichkeit hingestellt, mit außerordentlicher Gedrängtheit die entlegensten Stimmungskomplexe zusammenfassend und mit kIarster Schärfe der Linienführung umrissen – einheitliche Kunstwerke von höchster Bestimmtheit und betörend in ihren »magischen Tönen« und »berauschendem Duft«.

Es hat nicht viele Künstler in Wien gegeben, die sich solch edler Beliebtheit rühmen konnten wie Carl Goldmark. Edel deshalb, weil sie nichts von der spürenden Neugierde an sich hatte, mit der sonst das Private des Künstlers durchstöbert und zum eigentlich Wichtigen gemacht wird. Aber von Goldmark haben weder geschäftige Notizen noch eifrige Intimitätssucher jemals verkündet, welche Hüte er zu tragen pflegte, welche Weinmarke er bevorzugte, welche Frauen er liebte oder in welchen Papieren er seine Tantiemen anzulegen dachte. Gleichviel, ob seine Zurückgezogenheit daran schuld war, daß die dem Meister zuteil gewordene Wertschätzung nicht in der gesellschaftlichen oder journalistischen Reportage über seine menschlichen Gewohnheiten begründet war (wozu nebenbei zu bemerken ist, daß gerade über diese Gewohnheiten viel zu sagen wäre, die ein fast unbegreifliches Beispiel strenger künstlerischer Hygiene bedeuteten und einem neuen Hippel reichlichen Stoff zur Frage verlängerten Lebens und erhaltener Jugend geben könnten): jedenfalls war es sehr erfreulich, einmal den seltenen Fall zu sehen, daß einer künstlerischen Leistung um ihrer selbst willen und mit Ausschluß aller persönlichen Sensationen Ehrfurcht entgegengebracht wurde. In solchem Maße, daß sie auch nachwirkend tätig war, Während die meisten anderen Musiker sich ihren Platz mit jedem Werke neu erobern müssen, ist alles Neue des Schöpfers der »Königin von Saba«, des »MerIin«, der »Kriegsgefangenen« und des »Heimchens«, der beiden Symphonien, der prachtvollen, fälschlich den Namen »Ouvertüren« tragenden symphonischen Dichtungen der »Sakuntala« und der »Penthesilea«, der »Sappho« und des »Prometheus« mit einer so herzlich-ehrerbietigen Liebe erwartet und empfangen worden, daß es nur umso mehr bewundern war, daß solche Liebe kaum jemals enttäuscht worden ist. Dazu kam freilich, daß er sich bewahrt hat und daß er zurückhaltend war wie wenige; wenn eine neue Schöpfung von ihm angekündigt wurde, konnte keiner sagen »schon wieder?«, sondern immer nur: »endlich wieder!« Dafür ist auch keines seiner Werke vergessen worden; jedes hat Geltung und jedes trägt seinen Meisterstempel.

Was dem Schöpfer dieser Werke in schönstem Maß zu eigen war, ist am besten mit dem einfachen Worte zu sagen, das sich am häufigsten in Goldmarks Musik als Vortragsvorschrift findet: immer wieder schreibt er »mit Wärme« Wärme war auch sein Wesen. In unseren Tagen und in der Musik gar eines der seltensten Dinge. Er hat sie sich bewahren können, weil er die Kunst verstanden hat, sich selbst zu bewahren – in reifer gelassener Heiterkeit das eigene Leben zu meistern, alle ablenkenden und verwirrenden Kleinigkeiten unbedingt auszuschalten und durch solches Abfinden zu jener überlegenen, alles Skurrile des Alltags unter sich lassenden weisen Milde zu gelangen, die ihm eigen und die sein Bezwingendstes war. Nur so ist es ihm möglich und vergönnt gewesen, im hohen Alter Werke zu schaffen, die mehr sind als »ein bloßes Bildnis der Jugendliebe, ein Angedenken, klar und fest, dran sich der Lenz erkennen läßt«, sondern noch immer unmittelbarer Ausdruck seiner besonderen Weise. Er hat immer von sich das Höchste, aber wenig von den Anderen gefordert. Die meisten, die nach ihm kamen, haben es umgekehrt gehalten. Und deshalb ist es jetzt nach seinem Scheiden, trotz alt der zukunftvollen Jugend ringsum, in der wieder der Ernst und die Würde der Kunst aufzuwachen scheint, als wäre die österreichische Musik verwaist und als wäre es dunkler um uns geworden.

(Der Merker, 1915/I)