Neues Wiener Tagblatt vom 1. März 1915
Theater und Kunst.
Philharmonisches Konzert.
»Gleich bei den ersten zwei Akkorden glaubten wir vom Stuhle zu fallen, denn kaum war es uns in unsrer langen, mit jedem Jahre dissonanzenreicheren Praxis vorgekommen. daß jemand mit einer solchen Tür ins Haus fällt. Es klingt wie ein scharfer Geißelhieb samt dem dazugehörigen Aufschrei des Getroffenen.« Mit diesen Worten leitete Hanslick seine Besprechung über Goldmarks Ouvertüre zu Kleists »Penthesilea« ein, die im Jahre 1880 von den Philharmonikern zum erstenmal gespielt wurde. Der von Hanslick so schmerzlich empfundene Auftakt ist Sphärenmusik gegen alles das, was uns seither zugemutet wurde. Die «Penthesilea« Goldmarks wurde wenig aufgeführt, ebenso wie die von Hugo Wolf. Vergleiche zu ziehen zwischen beiden Werken will nicht die Aufgabe dieses Berichtes sein, so sehr man auch gerade in dieser Woche, in der beide Penthesileen zu Wort kamen, dazu verlockt wäre. In einem trafen sich beide Meister: jeder von ihnen betrachtete seine »Penthesilea« als ein Schmerzenskind. Goldmark stöhnte, daß gerade dieses Werk, das ihm besonders am Herzen gelegen war, fast gar keine Beachtung fand; Wolf erging es noch schlimmer, er hatte überhaupt keine Gelegenheit, sein Werk jemals zu hören. Hugo Wolf war schon tot, als Ferdinand Löwe das einzige große Orchesterwerk des unsterblichen Liedersängers öffentlich zu Gehör brachte. Auch die Wiederholung im vorwöchigen Konzert des Konzertvereines, in dem, nebenbei bemerkt, dem Geburtstagskind Löwe stürmisch gehuldigt wurde, fand natürlich unter der Leitung Löwes statt.
Die Goldmarksche »Penthesilea« , bildete einen Teil der Totenfeier, welche die Philharmoniker in ihrer gestrigen Matinee für den jüngst verstorbenen Komponisten veranstalteten. Es war dies sicherlich im Sinne des Geehrten, der mit der Aufführung unter Weingartner wohl mehr als zufrieden gewesen wäre. Die Ouvertüre zur Oper »Götz von Berlichingen« leitete das Konzert ein. Sie macht im Konzertsaale merkwürdigerweise eine viel bessere Figur alt im Operntheater. Der glänzende jubelnde Schluß gestaltete sich zu einer Virtuosenleistung des Orchesters, dessen Spielfreudigkeit unter dem befeuernden Taktstock Weingartners diesmal besonders akzentuiert hervortrat. Den stärksten Eindruck aber machte das A-Dur-Scherzo, dessen kraftvolle Thematik aus Goldmarks Jugendjahren stammt. [NB: Wieder der Irrtum, das op. 45 betreffend] Dieses Scherzo ist keine selbständige Arbeit, gehört vielmehr organisch zu einer Symphonie, mit der sich Goldmark im Jahre 1860 um einen Preis der Gesellschaft der Musikfreunde bewarb. Den Preis erhielt Herbeck. Die übrigen Symphonieteile sind vorhanden, wurden aber niemals aufgeführt. Doch das ist ein Kapitel, das in anderm Zusammenhang geschrieben werden soll.
Den zweiten Teil des gestrigen Konzerts bildete die zu berauschendster Wirkung geführte A-Dur-Symphonie von Beethoven. Die Zusammenstellung Goldmark-Beethoven dürfte absichtslos gewesen sein. Dennoch hat sie einen tiefen Sinn. Die Liebe Goldmarks für Beethoven war abgöttisch. Eine kleine Episode sei hier erzählt. Als man die Leiche Wilhelms Jahns in der Augustinerkirchc einsegnete, spielten die Philharmoniker, von Mahler angeführt, einem Wunsche des Verstorbenen entsprechend, das Allegretto aus der A-Dur-Symphonie. Als ich mit Goldmark nachher darüber sprach, meinte er, auch er wünschte sich, unter diesen Klängen ins Grab gesenkt zu werden. In dem gestrigen Konzert der Philharmoniker nun, das ja vorwiegend als Trauerfeier für Goldmark gelten darf, erfüllte Weingartner ganz ahnungslos den Wunsch des im Jänner Dahingeschiedenen. Noch eine zweite Beziehung Goldmarks zu Beethoven fand sich in dem gestrigen Programm. Am Schluß der »Götz«-Ouvertüre vermerkt der Komponist in der Partitur: »Das Tempo wie im letzten Satz der A-Dur-Symphonie von Beethoven.« Weingartner brachte die Beethovensche Symphonie, wie schon bemerkt, ganz wundervoll zur Geltung. Eine besondere Freude bereitete es uns, daß er nicht, wie so viele moderne Dirigenten, das Allegro vivace verhetzt hat. Die Thematik wurde bei aller Lebhaftigkeit plastisch hervorgehoben und wirkte daher doppelt prägnant. Dem genialen Dirigenten wurden wohlverdiente Ovationen dargebracht. – rp – (Neues Wiener Tagblatt vom 1. März 1915)