Neues Wiener Tagblatt vom 3. Jänner 1915 (Max Kalbeck)

Feuilleton.
Karl Goldmark.

Viele hat er überlebt, nur sich selbst nicht. Der letzte Zeuge eines vor ihm ins Grab gestiegenen Künstlergeschlechtes, erscheint Karl Goldmark der nachwachsenden Generation geistiger Kinder und Enkel als Herold einer sich vorbereitenden neuen Zeit. Hesperus erlischt im Abendrot, um als Morgenstern wieder aufzuleuchten: sein Mer Glanz wirkt ruhig weiter fort; der Sonne nach, der Sonne entgegen.

Nicht ein Müder, Abgelebter, Gebrochener, dessen Daseinsrecht längst verwirkt war, ist von uns geschieden: mitten aus der Kraft und Freudigkeit des Schaffens raffte der Tod ihn hinweg, diesen Jüngling von vierundachtzig Jahren. Er hatte uns an das Wunder der Ausnahme gewöhnt, so daß wir es wie die Regel hinnahmen, die sich von selbst versteht, und erst jetzt bestaunen wir, was wir immer wieder erfuhren, da wir uns trauernd Rechenschaft davon ablegen sollen. Und wenn wir heute, schmerzlich von der Nachricht seines Todes überrascht, beklagen, daß Goldmark nicht nur denen, die ihn persönlich kannten und liebten – beides sind hier identische Begriffe –, sondern auch der musikalischen Welt zu früh entrißen [!] wurde, so wünscht das Gesagte für keine mit der Erregtheit des Augenblickes zu entschuldigende hyperbolische Redensart gehalten zu werden, sondern möchte als Tatsache gelten.

Goldmarks Produktion achtete kaum der äußersten Altersgrenze des Psalmisten, sie fühlte sich geradezu auf die Aeonen der Urväter angelegt. Ein Dezennium mehr oder weniger spielte bei ihm so gut wie gar keine Rolle. Gelegentlich versicherte er mir ganz ernsthaft, er wäre froh, wenn er alle zehn Jahre einmal einen halbwegs brauchbaren Operntext fände.Damit stimmen auch die Daten seiner dramatischen Hauptwerke überein: »Die Königin von Saba« erschien 1875, »Merlin« 1886, »Das Heimchen am Herd« 1896. Die zweite Operntrias »Briseis«, »Götz« und »Wintermärchen« drängte sich in den Abschnitt 1899 bis 1908 zusammen, ein Zeichen, weniger dafür, daß der Komponist mit seinen Texten mehr Glück hatte oder zufriedener war, denn auch die früheren genügten ihm nicht, als dafür, daß er sich körperlich nicht auf der Höhe füllte und noch andre äußere Gründe zur »Eile« zu haben glaubte. Bei seiner letzten Oper war er achtundsiebzig, bei seiner ersten fünfundvierzig alt. Die Frage bleibt offen, ob das »Wintermärchen« wirklich die letzte war. Vielleicht entblüht dem Grabe unsres westöstlichen Minnesängers eine posthume »Esther«, welche, zur Rose von Saron hinüberrankend, Schwester Sulamith die Hand reicht und den Reigen schließt. Dann hätte die tönende Muse Goldmarks, die sich immer in einer neuen reizenden Frauengestalt verkörperte, den Kreis der Verwandlungen durchschritten und kehrte zurück zu ihrer Heimat.

Von den Steppen des Ostens war sie hergekommen, Patriarchenluft und Morgentau hatten sie genährt. Zedern und Palmen umrauschten ihr Haupt, und ihr Haar troff von Myrrhen, Weihrauch und köstlichen Salben. Sie sprach im Namen ihres Lieblings harmonisch die Zauberformel, das melodiebeschwingte Losungswort aus, das uns die Pforten des Orients aufschloß. Da sie aber kein künstliches Gebilde der fremde Länder und Zonen erobernden Romantik, sondern ein autochthones Gewächs war, so konnte sie ihre ursprüngliche Herkunft niemals völlig verleugnen, wie gut sie sich auch abendländische Sitte und Gewohnheit aneignete. Die kühlen Schatten des deutschen Hochwaldes empfingen sie, unter dem blühenden Weißdorn auf das grüne Moos gelagert, betrachtete sie träumerisch ihr zitterndes Spiegelbild in den Fluten des einsamen Bergsees, ein weißer Hirsch mit goldenem Geweih wurde ihr Spielgefährte, und wie das Uhlandsche Königskind trug sie ein verräterisches Lindenblatt in den Locken. Merlin, der Wilde, hatte es ihr angetan. Die heißblütige Tochter des Morgenlandes war zur minniglichen deutsch-romanischen Jungfrau geworden, und nur die Glut ihrer dunkeln Augen loderte noch als Feuerzeichen ihrer alten Abstammung.

Goldmark hat seine Viviane vor allen andern Töchtern seiner Phantasie geliebt, und es nagte ihm am Herzen, daß er den »Merlin«, den er für das reifste Werk seiner Kunst hielt, verloren geben mußte. Von der Umänderung, mit welcher er die Fabel musikalisch und dramatisch zu heben, dem Drama zu einem wirkungsvollen Schlusse zu verhelfen dachte, wurde in Wien keine Notiz genommen. Der genannten Vorliebe zum Trotz aber erklärte er die »Königin von Saba« das Unmittelbarste, Kräftigste, Musikreichste, was er überhaupt hervorgebracht habe. Das Ende seiner Tage ferner wähnend, als es tatsächlich war, sehnte er sich nach der verheißenen Königsbraut des Ostens, der er die Krone seiner Kunst zu Füßen legen wollte. Mit seinen vierundachtzig Jahren wäre er noch immer der Mann gewesen, das Werk zu schaffen, das ihm als letztes und höchstes Ergebnis natürlicher Anlagen und erworbener Kenntnisse vorschwebte. Dafür bürgen die andern Schöpfungen seines hohen Alters, das ihn mir jedem Jahre zu verjüngen schien.

Wer nach dem Ursprung des seltenen Phänomens forscht, wird ihn im Quell des Lebens selbst finden, den der früh weise Gewordene niemals bis zum Versiegen erschöpfte. Goldmark, der von schwerer Sorge und Krankheit heimgesucht wurde wie andre Sterbliche auch, gab uns das lehrreiche positive Beispiel einer Makrobiotik, die ihr Heil nicht im unvernünftigen Sichausleben, sondern im ökonomisch geregelten Verbrauch der Nervenkraft sucht. Weder als Mensch noch als Künstler hat er sich »ausgelebt«, sondern für unvorhergesehene Fälle und vor allem für den vorgesehenen Fall des gewissen Alters tagtäglich seine Not- und Sparpfennige zurückgelegt, die zu einem beträchtlichen Kapital heranwuchsen. So konnte er die Fabel von der Unproduktivität des Alters durch sich selbst widerlegen und als Greis seine eigene Jugend in die Schranken fordern. Den überschäumenden Flutstrom der Empfindung früh in ein gesichertes Bett leitend, war er gegen elementare Überrumplungen von außen wie gegen die wildesten Ausbrüche der inneren Natur gerüstet, in denen falsche Propheten und Irrlehrcr das Geniewesen erkennen wollen. Die Verlangsamung seiner Produktion, welche ihm bei der Vehemenz seiner Leidenschaftlichkeit vielleicht die Hirnnähte zerrissen hätte, war eine diätetische Maßregel. Er eignete sich jene Kälte für den Gegenstand an, die Schiller vom objektiven Künstler fordert, und die Zähigkeit der Arbeit, auf die ihn die mühsam erworbene Selbstbelehrung des Autodidakten von Anfang an hinwies, lief der Schnell- und Leichtfertigkeit andrer den Rang ab.

Wir sprechen hier nicht nur von Goldmark, dem Opernkomponisten, wenn auch vor allem von diesem. Die Mehrzahl seiner rein musikalischen Werke, bis zum schlichtesten Lied, das den lyrischen Moment im Flug erhascht und auf die Nadel spießt, ist latentes Theater. Was uns in den Violinkonzerten, in Klavierquintett und Streichquartett, in den Geigensuiten, Werken, die alle miteinander zu den Lieblingen des Publikums wie der ausübenden Künstler gehören, so unwiderstehlich anzieht und gefangennimmt, ist ihre impulsive Natur, ihr dramatischer Zug. Daneben auch ihre abgedämpfte, feingetönte, fremdartige und doch wieder vertraute Stimmung. Interessante Relationen und Kombinationen der thematischen Arbeit stehen in zweiter Reibe, obwohl sie zuweilen gern in die erste vordrängen und auffallen möchten. Von den beiden Symphonien verlangt die stärkere, »Ländliche Hochzeit« genannte, nach der Szene, weit heftiger als Beethovens »Pastorale«, die ihre Naturbilder auf dem Grunde der Seele widerspiegelt. Soviel uns vom Entwicklungsgang Goldmarks bekannt ist, war das in seiner Art vollendete Meisterwerk der »Königin von Saba« sein erster theatralischer Versuch. Aber die prachtvolle, von Leben glühende, in nie zuvor gesehenen Farben brennende »Sakuntala«-Ouvertüre (vom Jahre 1865!), die den Bühnenmusiker mit schmetternder Fanfare verkündigte, ging ihr voran. Die meisten Ouvertüren des Meisters, Konzertouvertüren gleich den Mendelssohnschen, nur energischer als die von diesem geschaffenen Prototypen aus bestimmte Vorgänge hinweisend, sind verdichtete, auf die Hauptmotive der Handlung eingeschränkte Dramen, Opernkompendien oder -summarien. Man kann diese »Penthesilea« und »Sappho«, diesen »Gefesselten Prometheus« und »Zrinyi« nicht ohne den lebhaftesten Anteil hören und braucht dabei kaum an Kleist und Grillparzer, Aischylos und Körner zu denken, deren Lektüre den Komponisten angeregt haben mag. Es steht uns dann frei, vom Titel aus ein unterschlagenes Drama hinzuzudichten und zu bedauern, daß das betreffend Libretto entweder verloren gegangen oder liegen geblieben, möglicherweise nicht geschrieben, ganz gewiß aber nicht komponiert worden ist.

Aber trösten wir uns über die mancherlei Lücken in Goldmarks Produktion mit dem reichen, nicht hoch genug zu veranschlagenden Gewinn dessen. was er der Welt hinterließ! Wer so glücklich war, Goldmark näher zu kennen und manchmal über kunstphilosophische Fragen mit ihm zu diskurrieren, am schönsten nach Art der Peripatetiker bei einem Spaziergang über die Wiener Ringstraße oder unter den Buchen der stillen Gmundncr Traunpromenade, wird nicht daran zweifeln, daß der mit seinen oft sehr originellen Ansichten niemals hinterm Berge haltende Musiker sich über alles, was er was tat und unterließ, die genaueste Rechenschaft ablegte. Gewiß hat er in seinen eifrigen Privatstudien die besten Autoren mit Nutzen gelesen; aber was er dachte, sprach und schrieb, steht in keinem Buche. Seine Ideen und die Gabe, sie fließend mündlich oder schriftlich mitzuteilen, waren ihm ebenso angeboren wie sein ihm durchaus eigentümliches musikalisches Stilgefühl, das von Fall zu Fall im Ausdruck wechselte, so daß keines seiner Werke dem andern gleicht, ohne seine Zuständigkeit zu derselben geistigen Heimat zu verlieren. Auch wo er Anregungen von andern empfing, was er weder ableugnen noch verheimlichen wollte, ließ er sich nur insoweit beeinflussen, wie er es seiner Natur für angemessen und tauglich hielt. Ein Nachbeter und Nachtreter ist Karl Goldmark nie gewesen.

Bei meinem letzten Besuche, den ich ihm in Gmunden abstattcte, zeigte er mir das Manuskript seiner Memoiren; ich schätzte es auf etwa 150 Druckseiten. Als Motto über einem Schreibheft »Aphorismen« standen die Worte: »Vorangehen konnt‘ ich nicht, mitgehen wollt’ ich nicht, so ging ich allein.« Max Kalbeck.
(Neues Wiener Tagblatt vom 3. Jänner 1915)