Goldmark: Wiener Zeitung vom 4. Jänner 1915 (P. St.)
Karl Goldmark.
Nun hat der gewaltige Schnitter auch den größten österreichischen Tondichter der Gegenwart dahingemäht. Merlins Harfe ist für immer verklungen, und die Zedern vom Libanon neigen trauernd ihr Haupt ob des Heimganges ihres Sängers. Allein nicht trübe Klage soll an seiner Bahre ertönen, da er im hohen Greisenalter seine Augen für immer schloß. Gab ihm doch ein gütiges Schicksal nicht bloß das Talent, sondern auch die Zeit, es zur Reife zu bringen und zum Heile der Kunst auszunützen. Sein Dasein war ein Leben voll der Arbeit, aber auch reich an Erfolgen, und er genoß das seltene Glück, noch auf seines Lebens Höhe im Gipfel seiner Schaffenskraft von seinen Mitmenschen verstanden und geehrt, von seinen vielen Freunden geliebt und fast vergöttert zu werden. Mensch und Künstler waren in ihm harmonisch vereint, Charakter und Begabung zur Gemeinsamkeit vom Anfang an gebunden. So erklärt sich seine bedächtige Rastlosigkeit des Schaffens, seine Abneigung gegen Reklame und Sensation, seine seltsame Scheu vor der Öffentlichkeit und ihrem Getriebe. Wenn Goldmark an Sommerabenden in dem Garten seines schmucken Gmundener Häuschens saß, den Blick weit über den See gerichtet, an dessen Ufer der Traunstein und die schlafende Griechin in der Glut der untergehenden Sonne blutrot leuchteten, mag er inmitten dieser Pracht und umgeben von den Daseinsannehmlichkeiten, die er sich mühsam genug errungen, oft und oft seines Aufstieges zur Höhe des Lebens gedacht und sich seiner stillen Anfänge als Musiker wehmütig erinnert haben.
Früh schon regte sein Talent die Schwingen. Fleißiges Studium in seiner ungarischen Heimat wie am Wiener Konservatorium öffneten seiner Kunst bald den Weg ins Freie. Aber die ersten Erfolge genügten der strengen Selbstkritik des Jünglings nicht. So zog er sich nochmals zur Einsamkeit des Lernens zurück und holte auf autodidaktischem Wege nach, was ihm Schule und Lehrer bisher schuldig geblieben waren. Vorsichtiges Tasten und Wägen ist als typische Eigenart dem Meister bis zu seinem Tode geblieben. Sein prachtvolles Temperament, seine nie erlahmende Schaffensfreudigkeit stießen immer wieder auf eigene kritische Hemmungen, wodurch sich die für einen Achtzigjährigen immerhin geringe Anzahl an Werken erklärt. Um so wertvoller ist ihr Inhalt, um so entschiedener und prägnanter die persönliche Eigenart, die in ihnen zutage trat.
In dem Lebenskämpfe, der Goldmark, wie so vielen Künstlern, nicht erspart blieb, wirkte er zunächst als Klavierlehrer und als Geiger in einem Operetten-Orchester. Doch hat seine Kunst auch aus dieser für ihn unerfreulichen Arbeit reichen Nutzen gezogen, und seiner späteren musikalischen Universalität wurde kräftige Nahrung zugeführt. In diese Zeit fallen, wenn man von den nur zum Teile geglückten Kompositions-Konzerten vorangehender Jahre absieht, die ersten Erfolge Goldmarks. Klavierstücke (Opus 5), die der Meister bezeichnend mit dem Motto »Sturm und Drang« versehen hat, das klangschöne Klaviertrio und die romantische, die Farbenpracht der »Königin von Saba« bereits vorahnende Suite für Klavier und Violine gaben der musikalischen Welt der Sechzigerjahre das Signal von dem Emporkommen eines neuen, eigenartigen Talentes. Es blieb nicht ungehört. Der alte Hellmesberger griff als erster nach den Manuskripten des jungen Goldmark und brachte Suite wie Klavierstücke gemeinsam mit Goldmarks Klavierschülerin, der nachmaligen berühmten Altistin der Hofoper Karoline Bettelheim, in seinen Kammermusikabenden zur ersten Aufführung. Der letzte Zweifel an der genialen Begabung Goldmarks schwand mit der Wiedergabe der »Sakuntala«-Ouvertüre, die, von den Philharmonikern im Jahre 1866 gespielt, den großen Ruf des Künstlers begründete. Zehn Jahre später, nach der ersten Aufführung der »Königin von Saba, war aus dem schlichten, einem ungarischen Dörfchen entstammenden Musikanten ein weltberühmter Musiker geworden, aber er blieb der echte Künstler, den weder Neid und Mißgunst mancher Kollegen noch kostbare Ehrungen und Schmeicheleien, Lobredner und Panegyriker aus seiner geraden und puritanisch-einfachen Lebensbahn drängen konnten. Seine Gegner ernannten ihn zum »Komponisten des Orients«. Insoweit seine farbenglühende Schilderung des Ostens damit bezeichnet ist, wurde dieser Titel zum Ehrennamen Goldmarks, der wie kein zweiter den Duft und Zauber des Orients in Töne gebannt hatte. Weder Gounod, der ein paar Jahre vorher eine »Reine de Saba« komponiert hatte, noch Felicien David mit seiner Wüstensinfonie, noch Saint-Saëns, Massenet, Bizet, Delibes und Bruneau, die alle den Ausflug ins Orientalische wagten, haben die Wirkung erreicht, die von Goldmarks Oper ausstrahlt. Verdis herrliche »Aida« darf als einziges Vergleichsobjekt herangezogen werden. Doch ist die Tonsprache des italienischen Großmeisters in diesem Werk auf den ägyptischen Farben- und Gefühlsbezirk begrenzt, indessen Goldmark das weitere Reich des ganzen Orients in seiner Musik zum Erklingen bringt. Altjüdische Gesänge verstärken das Kolorit dieser märchenhaften Tonwelt. Aus dem breit dahinströmenden Melos, aus der aparten, dem Wesen dieser Tonsprache glücklich angepaßten Harmonisierung, aus der charakteristischen rhythmischen Einteilung, vor allem aber aus dem in den blühendsten und leuchtendsten Farben schwelgenden Orchester fügt sich das Bild des Orients zu imposanter Kraft der Schilderung.
Unsterblichkeit in den Gefilden der Kunst hat Goldmark, soweit diese Feststellung überhaupt gewagt werden darf, mit der »Königin von Saba« erlangt. Das Werk bedeutet in seiner stilistischen Geschlossenheit und Einheitlichkeit der Durchführung zugleich den Gipfelpunkt von Goldmarks Schaffen. Seine anderen dramatischen Werke haben, so sehr sie im einzelnen durch melodische Schönheit und stimmungsvolle Episoden das Interesse immer wieder wachrufen, nicht mehr den genialen Wurf aufzuweisen, der Goldmarks erster Oper einen so hervorragenden Platz in der nachwagnerischen deutschen Opernproduktion gesichert hat. Merkwürdig ist, wie Goldmark auch in der Behandlung anderer Sagen und Stoffe seine persönliche Art nicht zu unterdrücken versucht, wie in dem mystischen »Merlin« (dessen lyrische Schönheiten trotz des unglücklichen dramatischen Gerüstes der Vergessenheit entrissen werden sollten), in dem durch den Textdichter verballhornten Dickensschen »Heimchen am Herd«, in der das Land der Griechen suchenden »Brisëis«, im »Götz von Berlichingen« und Wintermärchen« immer wieder die spezifische Goldmarksche Tonfarbe derart vorherrscht, daß für andere, dem jeweiligen poetischen Vorwurfe vielleicht mehr entsprechende Mischungen kein Raum übrig bleibt. Freilich hatte Goldmark seinerzeit in Mosenthal einen Dichter gefunden, der das Wesen des Komponisten sogleich zu erfassen verstand, während alle seine Nachfolger den Schöpfer der »Königin von Saba« schon psychologisch im Stiche ließen.
Der Ruhm des Opernkomponisten Goldmark vermag aber den des Sinfonikers und Kammermusikers nicht zu verdrängen. Ouvertüren, wie die zu »Sakuntala«, »Sappho«, »Penthesilea“, »Prometheus«, »Im Frühling«, »Zrinyi« gelten mit Recht als Meisterwerke ihrer Gattung. Die bukolische Anmut der sinfonischen Dichtung »Ländliche Hochzeit«, die Themenfülle der sogenannten »Gmundener Sinfonie«, die leichtfüßig dahineilenden beiden Orchesterscherzi haben im Konzertsaale wie in künstlerisch gepflegter Hausmusik dauernden Eingang gefunden. Auch die schon erwähnte »Suite« und das große Violinkonzert des Meisters wird kein richtiger Geiger jemals missen wollen. Chorwerke, anmutige Lieder und interessante Klavierstücke sowie das schöne Streichquartett und das prachtvolle Klavierquintett in B fügen sich mit all den genannten Werken zu dem großen Ruhmeskranze, den Goldmark erfreulicherweise noch zu Lebzeiten empfing. Das Ritterkreuz des Leopold- Ordens sowie das selten verliehene k. und k. österreichisch-ungarische Ehrenzeichen für Kunst und Wissenschaft schmückten als Allerhöchste Anerkennung des erhabenen Schutzpatrones der Künste die Brust des Dahingeschiedenen.
Die Klage um den teuren Toten wäre unvollständig, würde sie nicht auch des prächtigen Menschen gedenken. Seiner Güte war nichts Menschliches fremd. Sein Umgang mit Brahms, Bruckner, Dvořák und Hugo Wolf, seine Begeisterung für Richard Wagner vermochten nicht, ihn aus seinem künstlerischen Gleichgewichte zu bringen. Nicht stark genug, um – wie er selbst einmal sagte – Führer zu sein, zu stolz und persönlich, um auf ausgetretenen Geleisen billigen Lorbeer zu ernten, ist er stets seinen eigenen Weg gegangen bis ans Ende. Er besaß jene rührende Zurückhaltung vor Fremden, die großen Geistern so gut ansteht und als Ausdruck einer starken, nach innen gekehrten Persönlichkeit gedeutet werben muß. Das haben alle, die das Glück hatten, mit dem Meister Gedankenaustausch pflegen zu dürfen, erkannt, und darum haben sie auch den Menschen Goldmark ins Herz geschlossen. Mit ihm ist die letzte Stütze einer großen musikalischen Epoche gefallen. Ein großer vaterländischer Künstler und ein edler, lieber Mensch ist aus dem Leben geschieden. Seine Werke aber sichern ihm dauerndes, ruhmreiches Angedenken. P.St.
(Wiener Zeitung vom 4. Jänner 1915)