Neue Freie Presse vom 9. Jänner 1915 (Weingartner)
Feuilleton.
Karl Goldmark.
Ein Erinnerungsblatt
Von Felix Weingartner.
Ganz unerwartet hat Karl Goldmark, von uns Abschied genommen. Der kleine, lebensfrohe Greis mit der blühenden Gesichtsfarbe und den blitzenden, vom Alter niemals verschleierten Augen, schien er nicht vom Tod vergessen oder doch zum mindesten für die seltene Feier des hundertjährigen Geburtstags aufgespart? Nun ist er – beinahe möchte ich sagen vorzeitig – dahingeschieden, und Wien ist wieder um eine markante Künstlergestalt ärmer.
Meine Beziehungen zu Goldmarks Musik reichen bis zu meiner frühen, in Graz verlebten, Jugend zurück. Als Knabe spielte ich mit meinem Lehrer wiederholt die Ouvertüre zu »Sakuntala« aus dem Klavier zu vier Händen. Das prachtvoll sinnlich glühende Triolenthema mit der später dazu tretenden, breit geschwungenen Oberstimme machte mir großen Eindruck. Das der Ouvertüre beigegebene Vorwort wies mich auf das Drama Kalidasas, das ich später, als neunzehnjähriger Jüngling, zu einem Musikdrama umgestaltete. Bald lernte ich auch die Suite für Klavier und Violine kennen, in der ich verwandte Züge mit der »Sakuntala«-Ouvertüre entdeckte, was mein Interesse an diesem Stück besonders steigerte. Der ungeheure Erfolg der »Königin von Saba« hallte auch in Graz wider. Zwar ging man noch nicht daran, das für die damaligen dortigen Verhältnisse zu schwierige Werk zu geben, aber ein Konzert, das der jugendliche Felix Mottl leitete, vermittelte uns einige Bruchstücke. Die Oper selbst hörte ich erst einige Jahre nachher auf einem Stehplatz der vierten Galerie im Wiener Hofoperntheater. Die machtvolle Materna als Königin und die liebliche Kupfer-Berger als Sulamith stehen mir noch besonders lebhaft im Gedächtnis. Was mich an der »Sakuntala«-Ouvertüre und an der Suite anzog, nahm mich auch in der Oper gefangen, wo es durch die herrliche Klangfarbe des Hofopernorchesters ganz besonders bezwingend auf mich wirkte, nämlich das Goldmark in seinen jüngeren Werken eigentümliche morgenländische Kolorit. Jenes melodische Schwelgen in übermäßigen und verminderten Intervallen, jenes seltsame Seufzen und Sehnen, Fluten und Flimmern, das, durchtränkt von sattem, farbenglühendem Instrumentalkolorit, uns die ferne Welt der Harems und Minarette vor die Seele zaubert, es verfehlt auch noch heute seine Wirkung nicht. Wagner soll von der »Königin von Saba« gesagt haben, sie stimme ihn traurig, weil sie ihm in einem verführerischen Bilde das vor die Augen führe, was er sein ganzes Leben lang bekämpft habe. Dieser Ausspruch ist aus seinem Munde ganz begreiflich, denn die »Königin von Saba« ist eine große Oper im alten Sinne, nur mit modernen Mitteln ausgeführt. Es ist aber gerade ihre Stärke, daß sie nichts anderes sein will und sich nicht in Gebiete verliert, die dem Stoff und wohl auch der Begabung Goldmarks fern lagen. Gerade die orientalische große Oper entsprach seiner Individualität wie nichts anderes; darum blieb auch die »Königin von Saba« sein stärkster Erfolg. Die Erzählung Assads, sein Duett mit der Königin, Sulamiths Gesang, Salomons Prophezeiung und nicht zuletzt die glänzenden Aufzüge und Ballettmusiken – ich erinnere nur an die herrliche Des-Dur-Melodie im ersten Akt – sichern dem Werke noch lange seine bereits seit Jahrzehnten eroberte Stellung.
Doch auch Goldmark konnte sich dem Einfluß des großen Bayreuthers auf die Dauer nicht entziehen. Ziemlich lange Zeit nach der »Königin von Saba« begab er sich mit seinem »Merlin« in das Bereich des germanischen Sagenkreises, den Wagner neu zum Leben erweckt hatte, und auch im musikalischen Stil sucht er sich dem Musikdrama zu nähern, allerdings ohne seine Eigenart ganz aufzugeben. Der »Merlin« ist ein überzeugender Beweis, daß es für ein Musikdrama in Wagners Sinne vor allem einer wirklichen Dichtung bedarf. Konnte man bei der »Königin von Saba« über der Fülle schöner Musik des schlechten Textbuches vergessen, so störte bei »Merlin« dieser Mangel empfindlich, um so mehr, als die Figuren der Handlung zum Vergleich mit den Wagnerschen Gestalten herausforderten, über eine gewisse Schablone aber nicht hinauskamen. In der Musik gab es auch hier viel Schönes. Die Deklamation war sorgfältiger behandelt wie in der früheren Oper und die farbenprächtige Orchestration mindestens auf der gleichen Höhe. Noch heute ist mir die gewaltige Steigerung unvergeßlich, die Direktor Jahn mit dem meisterhaft aufgebauten Vorspiel und später im zweiten Akt erzielte. Als ich später in Hamburg die Freude hatte, den »Merlin« mit der wundervollen Rosa Sucher zu dirigieren, empfand ich es stets schmerzlich, diese Steigerungen mit dem ungleich schwächer besetzten dortigen Orchester nicht in der gleichen Art herausbringen zu können.
Etwa um das Jahr 1896 lernte ich Goldmark in Berlin persönlich kennen und er schien bald Gefallen an mir zu finden. In einem Spaziergang, den wir Arm in Arm noch in später Nachtstunde unternahmen, legte er mir seine Gedanken über die künftige Entwicklung der Oper dar, die nach seiner Ansicht wieder auf melodische und formale Gestaltung zurückgreifen müsse, um lebensfähig zu sein. Er hatte sein neuestes Werk »Das Heimchen am Herd« im Auge, über das er sehr lebhaft sprach. Diese Oper sollte sein zweiter großer Bühnenerfolg sein. Man mag über die Art, wie Dickens‘ meisterliches Märchen zum Operntext umgestaltet ist, verschiedener Ansicht sein, ja eine ausreichende künstlerische Möglichkeit dieser Übertragung bestreiten können; die Oper hat aber poetische und musikalische Werte, die ihr das Leben auf der Bühne verbürgen und ihr Wiedererscheinen auf dem Spielplan stets zum Anlaß freudiger Zustimmung machen.
Inzwischen hatte ich auch symphonische Werke Goldmarks kennen gelernt und aufgeführt, vor allem mich aber mit seiner Symphonie »Die ländliche Hochzeit« angefreundet. Mögen die Mittelsätze vielleicht heute etwas verblaßt sein, der erste Satz, eine Reihe prächtiger Variationen, und vor allem das Finale haben ihre unverwüstliche Frische bewahrt. Ich weiß in modernen Symphonien älteren Charakters wenig Sätze von so unbezwingbar fortreißender Gewalt wie dieses Finale.
Mit großer Freude gedenke ich einer Ausführung der »Ländlichen Hochzeit« in einem Wiener Philharmonischen Konzert. Der brausende Jubel zwang den verehrten, sich stets bescheiden zurückhaltenden Tondichter, an der Brüstung der Loge zu erscheinen.
Mein kurzes Wirken als Direktor des Hofoperntheaters hing mit Goldmark eng zusammen. Am 2. Januar 1908, dem zweiten Tage meiner Direktionsführung erlebte sein »Wintermärchen« die Uraufführung, deren Einstudierung noch mein Vorgänger überwacht hatte. Die glänzendsten Sterne der Hofoper, Kurz, Mildenburg. Slezak, den leider ein unbezwingbarer Drang in die Fremde trieb, Demuth, der uns so bald durch den Tod entrissen werden sollte, und Mayr bildeten ein unübertreffliches Ensemble, das für den Augenblick sogar darüber hinwegtäuschte, daß die Schaffenskraft des Meisters sich in absteigender Linie bewegte. Der Erfolg war stürmisch, aber nicht nachhaltig, wozu allerdings sehr wesentlich der unglückliche Umstand beitrug, daß tückische Erkrankungen nach wenigen Vorstellungen eine längere Pause bis zur Wiederaufnahme im Spielplan herbeiführten.
Das Jahr 1910 brachte Goldmarks achtzigsten Geburtstag. Ich erhielt die Genehmigung zur glänzenden Ausstattung des »Götz von Berlichingen« und es wurde nicht gespart, die Feier würdig zu begehen. Es gibt wohl kaum ein Stück, das der musikalischen Gestaltung so sehr widerstrebt wie der »Götz«, und ich habe nie begriffen, wie der künstlerisch fein empfindende Goldmark so viel Mühe auf diesen Stoff verwenden konnte. Jedoch war »Götz von Berlichingen« die einzige im Hofoperntheater noch nicht aufgeführte Oper Goldmarks und wir gingen an die Arbeit mit dem Gefühle, eine Ehrenpflicht zu erfüllen. Der alte Herr kam auf jede Probe und war ziemlich rigoros in seinen Anforderungen. Es war nicht leicht, es ihm recht zu machen, doch war er nicht starrköpfig und ging auf begründete Gegenvorstellungen gern ein. Bei einer der letzten Proben war er sehr still und saß die ganze Zeit in sich versunken auf seinem Stuhl. Ich konnte nicht bei ihm sein, da ich dirigierte. Seine Ruhe beunruhigte mich und ich ging in einer Pause zu ihm, ihn, um den Grund zu fragen. Er drückte mir warm die Hand und sagte leise: »Wo so gearbeitet wird, hat der Komponist zu schweigen.« Ich war sehr stolz auf dieses Lob und bin es heute noch.
Auch in dieser Partitur sind Schönheiten, jedoch dünner gesät wie in seinen früheren Werken. Die Erzählung Franzens von der teuflischen Schönheit Adelheids konnte man nur wehmütig mit Assads Erzählung aus der »Königin von Saba« vergleichen, die ihm offenbar als Vorbild gedient hatte. Dagegen birgt die Partie des Götz selbst manches Wertvolle und Weidemanns markige und rührende Darstellung half dazu, sie ins rechte Licht zu setzen. Die Huldigungen, die dem Jubilar dargebracht wurden, erreichten ihren Höhepunkt, als er in einer von Humor gewürzten Ansprache das Publikum einlud, seiner neuen Oper, die er zu seinem neunzigsten Geburtstag aufführen lassen werde, beizuwohnen. Diese Feier war ihm nicht mehr beschieden. Der 2. Januar, der siebente Jahrestag der glänzenden Aufführung seines »Wintermärchens« in der Hofoper, sollte sein Todestag werden.
Wiederholt bin ich mit Goldmark persönlich zusammengekommen, nie, ohne Anregung von ihm fortzutragen. Er war von erstaunlicher Frische; Müdigkeit kannte er nicht. In fröhlicher Gesellschaft war er gewiß einer der letzten, die heimgingen. Beschwerden des Alters und die damit verbundene Sorgsamkeit der Lebensführung waren ihm fremd. Er konnte es sich zutrauen, sein Leben zu genießen, denn er wußte, daß er’s aushielt. Sem Geist war klar und hell wie sein Auge. Oefter begegnete ich ihm im Prater, wo er mit kleinen, aber festen und ziemlich raschen Schritten seine Spaziergänge machte. Meist gingen wir dann ein Stück Weges zusammen. Das Gespräch hob sich sofort vom Alltäglichen in höhere Regionen. Gleichgültige Konversation konnte er nicht führen. Meist sprachen wir über Dichtung oder Musik. Sein Urteil war scharf, aber doch gütig und nie gehässig, auch dort, wo er verneinte. Wagner sagt über Spohr: »Was ihm durchaus unverständlich blieb, ließ er, als ihm fremd, abseits liegen, ohne es anzufeinden und zu verfolgen.« Das könnte auch über Goldmark geschrieben sein. Vornehmheit war der Grundzug seines Wesens. Daß er im Kampf der Meinungen abseits stand und in seiner Welt für sich lebte, hat ihn vielleicht so lange dem Leben erhalten.
Zum letztenmal sprach ich ihn voriges Frühjahr im Hause des Konzertdirektors Knepler. Rosé spielte zwei Violinstücke von ihm, eines aus jüngster Zeit, feine, abgeklärte Musik, das Bouquet eines schon etwas überreifen Weines. »Der alte Kerl gibt noch immer keine Ruhe,« sagte er lächelnd zu mir. Ich bat ihn, noch lange keine Ruhe zu geben und uns noch mehr so eigentümlich reizvolle Musik zu schenken, wie wir sie soeben gehört hatten. Wr hatten uns dann in der bewundernden Liebe für Schuberts einzigen Genius gesunden. Eine Ausführung der C-Dur-Symphonie in den Philharmonischen Konzerten stand bevor. Ich sagte ihm, wenn er käme, wolle ich die Symphonie für ihn dirigieren. Er versprach, zu kommen, und kam. Am Schluß nickte er mir zu und winkte mir mehrmals mit der Hand. Es war der letzte Gruß, den ich von ihm empfing.
Ich betrachtete den kleinen Mann oft wie ein Stück wandelnder Geschichte. Was ist alles in Leben und Kunst an ihm vorbeigezogen? Als er geboren wurde, war Goethe noch unter den Lebenden und ein übergoetheisches Lebensalter ist ihm zu erreichen beschieden gewesen. Nun, inmitten des grausigen Weltkriegsgetümmels, hat er den Frieden gesunden. Niemand kann ihm ein anderes als ein freundliches Gedenken weihen; dies wird sein Grab ebenso schön schmücken wie die Lorbeeren, die er in reichem Maße errungen hat. St.Sulpice Vaud, 3. Januar 1915
(Neue Freie Presse vom 9. Jänner 1915)