Neue Freie Presse vom 5. Jänner 1915
Feuilleton.
Karl Goldmark.
Der Sänger »magischer Töne« ist nicht mehr. Weit überschritt er das Alter des Psalmisten; dennoch sträuben wir uns gegen den Gedanken, ihn verloren zu haben. Der kleine Mann strotzte von Lebenskraft und Lebenswillen, sein Auge leuchtete, blitzte in unerloschenem Feuer. Er wies das Alter von sich, indem er wie ein Jüngling weiterarbeitete, und wer ihn rühmend zum Wundergreis erhob, hatte wenig Dank von ihm zu erwarten. Und schwer, sich ihn von Wien wegzudenken, das in ihm seinen letzten großen Meister besaß und sich gerade in den letzten Jahren zu einer Art Goldmark-Kultus entschlossen hatte. Wie oft bot sich das rührende Bild, daß ihm die Wiener zujubelten, wie Wagners Nürnberger dem Hans Sachs, wo auch immer anläßlich einer Aufführung eines neuen oder älteren Werkes sein Charakterkopf auftauchte. Eine Popularität war ihm zugefallen, die mit den edelsten Mitteln erworben war. Goldmark hätte verdient, diese weiche, warme Welle Wiener Volksgunst länger zu genießen; hatte er doch lange genug in Wien und um Wiens willen gelitten. Auch er hatte das Schicksal, über das Ringen in der Heimat die entscheidendsten Eroberungen im Auslande zu versäumen. Wie auf alle Opernkomponisten, die von den siebziger Jahren ab nach Geltung strebten, drückten Wagner und die alles Interesse aufsaugende Wagner-Bewegung auf ihn. Neben und gegen Wagner zählten aber lange nur Brahms und seine Partei in Wien. Wie Brahms erst nach dem Tode Wagners zum unbestrittenen, breitere Volkstümlichkeit genießenden Künstler emporwuchs, so schlug für Goldmark trotz des Ruhmes der »Königin von Saba« eigentlich erst nach dem Tode Brahms’ die Stunde. Im Auslande hat ihm vielleicht Italien am meisten Gerechtigkeit widerfahren lassen. Deutschland zögerte und würdigt ihn leider bis zum heutigen Tage nicht in seiner vollen Bedeutung. Schlagworte, die in Wien verstummt sind, trüben dort noch immer das Urteil. Goldmark hat das schmerzlich empfunden, auch nicht ohne Gegenwehr hingenommen. »Was man der ›Königin von Saba‹ nicht verzeiht, ist, daß sie nicht Wagnerisch ist und doch seit 1875 neben Wagner sich behaupten konnte,« klagte er vor drei Jahren in einem in der »Neuen Freien Presse« veröffentlichten Aufsatz.
Goldmark ist nicht leicht einzureihen. Er war eine Erscheinung für sich, war ein Spezialfall, war – Goldmark. In seinen Anfängen vernahm auch er den üblichen Willkommgruß an den »Modernen«. Auch in ihm sah man den irregeleiteten Bildmusiker, der das Ohr sehen lehren wolle, den Verächter der Form. Heute wissen wir, daß der »Dissonanzenkönig« das mildeste Zepter geführt hat. Sein Reich der Dissonanz ist schon lange an das mächtigere der Konsonanz angefallen, wie dies in der Staatengeschichte der Harmonie kein seltener Fall ist. … Man kann ihn der Nachromantik zuzählen, da etwa, wo diese bereits in die Moderne zu modulieren beginnt ; man kann ihn aber auch zugleich unter dem Gesichtswinkel des Musikalisch-Geistreichen betrachten und wird für beiderlei Eingliederung, in die Nachromantik wie ins Musikalisch Geistreiche, in dem exotischen Element seiner Musik kein Hemmnis finden. Dieser exotische, orientalische Einschlag bei Goldmark ist ein Merkwürdiges für sich. Er selbst bekannte sich zu einer eigentümlichen Disposition seiner Phantasie, die ihn eine im Grunde gar nicht existierende Tonwelt nachempfinden und nachschaffen hieß. Benützt auch sein Hauptwerk keineswegs vorhandene orientalische Melodien, deren er nicht eine zu kennen erklärte, die zum Umfange von vier Takten gediehen wäre. Während aber, um den Fall an einem Beispiel, etwa an Schumanns »Bilder aus dem Osten«, klar zu machen, in diesen Stücken das Exotische die lang ausgeprägte Schumannsche Ausdrucksweise nur leicht in der Grundstimmung färbt, bezieht Goldmark aus seinem selbstgeschaffenen Orient gerade die stärksten, originellsten, auch für Angelegenheiten des Okzidents merkwürdig brauchbaren melodischen Eingebungen, gewinnt hauptsächlich erst dadurch die ihm eigene, die Goldmarksche Ausdrucksweise. Darum hat auch diese Exotik die gesunde Kraft seines Formens und Gestaltens nicht beeinträchtigt. Und nie hat ihn sein Musikalisch- Geistreiches, das sich als solches, so gut wie bei einem Liszt und einem Berlioz und später erst recht bei einem Richard Strauß, schon durch die Überraschungen der Farbe und des Klanges ankündigte, sein warm schlagendes Herz verleugnen lassen. Die Musik sprang wie eine heiße Quelle aus ihm empor. Neben der Vorliebe für das Sinnliche und Farbige tritt eine Neigung zum Einfachen und Volkstümlichen, ja Volksliedmäßigen deutschen Gepräges um so auffälliger hervor: die verräterische Sehnsucht der Geistreichen nach Entspannung; wer dächte mcht sosort an Gustav Mahler? Liebevoll horchte Goldmark dahin, wo das Heimchen des Volksliedes zirpt, griff mitten unter den brennenden Rosen aus dem Osten nach der deutschen Feldblume … Gleich seine erste Oper enthüllte seine starke, aus glühender Seele geborne dramatische Begabung, und gleich nach dieser ersten Oper versuchte man seine Abstempelung zum Wagner-Epigonen. Dennoch hat er erst in seinem zweiten Bühnenwerke, in »Merlin«, dem gewaltigen Magier das unerläßliche Opfer dargebracht, um fortan bewußt von dessen Wegen die seinen zu scheiden. Ueberzeugt stellte er die Gesangsmelodie über die Orchestermelodie, erklärte jene, damit Arie, Ensemble und Chor nach älterer Opernschule, für das herrschende Element. Freilich konnte er, die Scylla Wagner meidend, nicht verhindern, daß man ihn in die Charybdis Meyerbeer fallen ließ. Aber auch dagegen, für Meyerbeerisch in dem üblen Sinne der Stilvermengung, der Suche nach dem Effekt gelten zu sollen, wehrte er sich. Im übrigen unterschätzte er den Effekt keineswegs: und welcher Dramatiker hätte ihn je ernstlich verachtet?
Der große Wurf dieses Musikers war die »Königin von Saba«. Was voranging, fand hier Erfüllung, was folgte, haftete darin mit irgendeiner Wurzelfaser. Alles »Goldmarksche« liegt hier fertig vor: die Glut und Farbenpracht der Tonsprache, das schwere und schwermütige Pathos, das allerdings zu beharrlich festgehaltene orientalische Kolorit. Fertig die Harmonik der vorgehaltenen Nebenseptimakkorde, des blitzschnellen, sich fast an jedes Achtel heftenden Harmoniewechsels mit jenem Vermögen, entfernte Klänge verwandt zu machen, das immer auf ein voraushörendes, schöpferisches Ohr hindeutet; fertig auch die beseelte und durchglühte Melodik, die sich gern murmelnder, gekräuselter Triolen, der Sequenz abgewonnener Tonfolgen bedient; und nicht zuletzt fertig das blendende, berauschende Orchester, das mit seiner warmen Behandlung der Streicher, mit deren häufiger Teilung, mit der Füllung und Polsterung durch satten Bläserklang, mit der Tendenz zu einer Tonmalerei des Wohlklangs seine eigene goldene Marke hat. Welche Fülle von Inspiration, welcher Reichtum an poetischen, edel klagenden, leidenschaftlichen Gesängen in diesem Werke, dem eben darum, ganz wie Verdis kurz zuvor erschienener »Aida«, der Vorwurf mangelnder Erfindung nicht erspart bleiben konnte! Und welch versengend heißer dramatischer Atem! Der Samum des letzten Aktes weht schon lange vorher durch die Musik der »Königin von Saba«.
In einer phantastischen Erzählung Charles Nodiers teilt der Held seine Liebe zwischen einer weisen alten Fee, der Brosamenfee, und der jungen schönen Königin von Saba. Aehlich teilte fortan Goldmark seine Liebe zwischen seiner jungen, ewig jungen Königin von Saba und der weisen Fee seiner weiteren Opernmusik, die gleichsam immer nur eine Brosamenfee heißen konnte. In Merlins Zaubergarten blühten Wagner-Stimmung und Wagner-Phrase auf; eine Wendung ins Musikdrama, die sich kamn anders als aus Kosten von Goldmarks Eigenart vollziehen konnte. Wieviel Schönes und Geistvolles auch hier! Goldmark hat vor zehn Jahren dem Werke eine Neubearbeitung zuteil werden lassen, die Wien längst hätte kennen lernen müssen. Sind wir wirklich so reich, um Geschenke aus der Hand eines Meisters der Opernbühne zurückweisen zu können ? Schon in »Merlin« taucht Musik von volkstümlich schlichtem Charakter auf. Welche Ueberraschung, den hochpathetischen Tondichter sich in seinem dritten Opernwerke zur Gänze einem idyllischen Stoff zuwenden zu sehen. In seinem dramatischen Haushalt hatte es bisher bloß das gleißende Gold der Könige, nicht das irdene Gerät der armen Leute gegeben. Der letzte große Opernerfolg war Humperdinks »Hänsel und Gretel« gewesen. Drei zusammengehörige Dinge hatten daran mitgewirkt: Märchen, Familie und das Kind. Allen dreien ist ein Anteil gesichert an Goldmarks »Heimchen am Herd«. Gegen manche zweifelhafte Zutat des Librettos behauptet sich immer noch das Gold von Dickens’ Poesie, wir hören trotz allem das fühlende Herz des Dichters schlagen. Und hören erst recht das warme Herz des Musikers pochen. Das kleinbürgerliche Milieu wurde für eine Vereinfachung des Stils bestimmend, für Erfindung und Verwendung volkstümlicher Liedweisen. Strophenlied, dramatische Arie, Ensemble und Orchesterbravourstück stehen ein wenig bunt nebeneinander und haben es dringend nötig, daß die Individualität eines Meisters das einigende Band um sie schlingt.
Das »Heimchen am Herd« wurde Goldmarks zweitgrößter Bühnenerfolg. Nur die Kritik, namentlich die deutsche, wollte nicht recht mit, bemängelte dies und das, auch das Abgeleitete der Erfindung. Wenn die kleine Frau Dot von ihrem »Geheimnis wundersüß« singt, brechen sozusagen alle Angriffe in sich zusammen. Eine jener Melodien, in denen Goldmarks Gemüt schwingt und deren Geheimnis wundersüß nur er allein hat. … Fast scheint es, als wäre der Komponist nicht ohne Absicht mit seinem nächsten Werke in die Antike geflohen. Ein weltfremdes Werk seine »Kriegsgefangene«, ein Werk von edler Blässe, von einer abgeklärten Ruhe, die an Ermattung grenzt. Es zeigt ihn mitten durch Gluck schreitend, weit abgewandt von dem Beifall der Menge, dem nachzustreben man ihn anläßlich des »Heimchens« besonders eifrig bezichtigt hatte. Der Beifall blieb auch aus, um nicht minder der nächsten Oper versagt zu sein. Ein singender Götz, Ritter Gottfried v. Berlichingen als Opernheld! Welche allzu bunte, opernmäßiger Zusammenfassung widerstrebende Bilderreihe! Bedenken, die durch die Musik sanft zurückgedrängt, nichts weniger als besiegt wurden. Manches an Goldmarks nicht immer begreiflichem Verhalten bei Wahl seiner Opernstoffe macht ein Bericht Adolf Wilbrandts klar. Auch an »Arria und Messalina« dachte nämlich Goldmark nach der »Königin von Saba«. Der Dichter widerstand, wie sehr ihn auch der Komponist zu überzeugen suchte, daß »ein guter Musiker jede lebendige dramatische Dichtung vertonen könne, ohne ihren Inhalt zu schwächen, zu verkürzen«. Richtig ist, daß der Musiker gar manche »lebendige dramatische Dichtung« nicht vertonen kann, ohne seine eigene Kunst zu schwächen, zu verkürzen. Goldmark hat es an »Götz« erfahren. Nicht Götz, Adelheid mit ihrer schwülen Sinnlichkeit erwies sich hier als die rechte Heldin für den »Saba«-Musiker. Hatte aber »Götz« noch immer gleichsam als Talentprobe des hohen Alters zu gelten, so wurde das mit 78 Jahren geschriebene »Wintermärchen« zu dessen Genieprobe. Shakespeares mildes Alterswerk, das die Dissonanzen des Lebens in holdes Märchenspiel auflöst, taugte so recht für einen greisen Opernkomponisten. Für Goldmark besonders, der liebevoll alles Gefühlsmäßige und Elegische seines Stoffes hervorkehrte, den weichen Schlußakkord von Versöhnung und Verklärung zum Grundton seiner Musik machte. Erstaunlich die Erfindung im zweiten Akte, die hier an der Küste von Böhmen erstarkt und sich melodienfreudig im volkstümlichen Element tummelt. Goldmark feiert da gleichsam die »Ländliche Hochzeit« des Symphonikers als Dramatiker zum zweitenmal. Wir sagten es schon einmal und jagen es wie so manches andere, das wir nicht neuerlich besser ausdrücken könnten, wieder: Goldmarks »Wintermärchen« bedeutete selbst ein Märchen im Winter seines Lebens.
Der Orchester- und Kammerkomponist war vor dem Opernkomponisten da und hat mit ihm auch weiterhin Schritt gehalten. In der Pflege der Konzertouvertüre reiht sich Goldmark Mendelssohn an. Auch hier ist das erste Werk, die »Sakuntala«-Ouvertüre, sein stärkstes geblieben, wie die erste Oper seine bedeutendste. Schon weil jenes in seinem Charakter bedeutsam dieser ersten Oper präludierte. Pulsierendes Leben, üppiges Kolorit, plastische Gedanken, blitzender Geist – all das ist auch den weiteren Ouvertüren gemeinsam geblieben, ob sich nun ihr Schöpfer, wie in »Prometheus«, »Penthesilea« und »Sappho«, mit Ernst und Schwere dem antiken Ideal zuwandte oder mit freudig bewegtem Gemüt Naturstimmungen, wie in der »Frühlings«-Ouvertüre, in Tönen festzuhalten suchte. Noch mit 73 Jahren wußte er die Ouvertüre »In Italien« in der Stimmung jenem heiteren Frühlingsvorspiel an die Seite zu stellen. Italien und Frühling – bedeutet das eben nicht dieselbe Musik? Ja, noch der Dreiundachtzigjährige vermochte in einem letzten Ouvertürenwerke »Aus der Jugendzeit« in den Sturm und Drang seiner Jugend zurückzufinden. Von den beiden Symphonien behauptet die »Ländliche Hochzeit« betitelte leicht ihren Vorrang. Ein idealisiertes Pastorale; eigentlich eine Hochzeit in der Sommerfrische, in der Stadt und Land inemandergleiten. Am schönsten sprießt es und blüht es in der Liebesszene »Im Garten«, in der Goldmarks allgegenwärtige »Königin« die Liebenden huldvoll ermuntert. Bewunderungswürdig, wie das Kolorit aller Goldmarkschen Orchestermusik seine Leuchtkraft bewahrt, allem Glanze zum Trotze, der nachgekommen ist. Unter den Kammermusikwerken geben wir unbedenklich dem quellfrischen, heiteren Klavierquintett in B den Preis ; und immer wärmerer Schätzung eilt das Violinkonzert zu, das, ein unendlicher, im langsamen Satze von Bach gespeister Gesang, den Ausgleich zwischen musikalischem Gehalt und geigenmäßiger Brillanz mit Meisterschaft vollzieht.
Goldmarks Lebensabend hatte sich glücklich gestaltet. Ein Blütenregen von Ehren strömte auf ihn nieder, und seinem ehrwürdigen Haupte stand der Lorbeer schön. Er wußte ihn mit Würde zu tragen, nicht bloß ein großer Künstler, auch ein vornehmer, lauterer Charakter. Der Mensch Goldmark ist ein anziehendes Kapitel für sich, und ergriffen gedenken wir auch dieses Verlustes. Er hatte bei allem berechtigten Selbstgefühl die tiefe und echte Bescheidenheit derer, die wirklich etwas bedeuten, und kein Arg war an ihm. Den Wiener Musikkriegen hatte er sich stets ferngehalten, hatte keine Partei und keine trompetenden Herolde, war für die Umtriebe der Königsmacher nicht zu Hause. Voll Güte war er, voll jenes herzlichen Anerkennens, das nach Goethes Wort des Alters zweite Jugend ist. Dankbar gedenke ich jeder Stunde, dir mir im Verkehr mit Goldmark geschenkt war. In einem seiner Briefe an mich bekräftigte er das Wort Strindbergs: »Es gibt zur Genialität keinen anderen Weg, als dazu geboren werden.« Auch er war zur Genialität geboren. Unsterblichkeiten in der Musik werden grausam von Generation zu Generation reguliert. Allein, mag auch sonst für ungewiß gelten, was von Goldmarks Lebenswerk Dauer haben wird – seine »Königin von Saba«, eine der stärksten Opern nach Wagner, wenn nicht noch immer die stärkste, wird leben. Und vielleicht mehr als durch ihre Musik des Prunkes und der Leidenschaft durch ihre Musik der Klage, der Trauer, der edelsten Ergebung, Musik, die nach dem schönen Bilde Baudelaires wie hinter einem Schleier weint und, ein neuer, von Goldmark geschaffener Ausdruck, Ewigkeitswert hat.
Julius Korngold.
(Neue Freie Presse vom 5. Jänner 1915)