… noch immer von jugendlichem Schwung beseelt

Theater und Kunst.
Karl Goldmark.
Zu seinem siebzigsten Geburtstage.

Wir müssen es ihm aufs Wort glauben, dem lieben Meister Goldmark, daß er heute sein siebzigster Lebensjahr vollendet. Sein Wort steht zwar im Widerspruch mit dem Lexikon, das den 18. Mai 1832 als Geburtstag angibt, mit der äußeren Erscheinung, die gar nichts Greisenhaftes an sich hat, mit der künstlerischen Schaffenskraft, die noch immer von jugendlichem Schwung beseelt ist. Aber man ladet sich selbst den Siebziger nicht muthwillig auf der Buckel, und Goldmark schwört auf die Verläßlichkeit der alten Familienurkunden, welche sein Alter bescheinigen.

Sei’s darum! Es sieht nicht danach aus, ob er so bald einen Schlußpunkt in Kunst und Leben zu machen gedächte. So fühlen auch wir keine Veranlassung, einen dicken Strich unter sein bisheriges Schaffen zu ziehen, um seine Leistungen für die Kunst zu summiren und zu taxiren, ihm seinen Platz nach Rang und Verdienst im Pantheon der großen Musiker anzuweisen, und was sonst das Kunstrichteramt uns abfordert, so oft ein stolzer Stamm in parnaßäischen Gefilden dahingesunken.

Allzu oft ist diese Pflicht im letzten Jahrzehnt an uns herangetreten; es war, als hätte das scheidende Säculum allen Sang und Klang mit sich nehmen gewollt. So wäre es gar kein übermäßiges Lob, wenn man nun Goldmark als den bedeutendsten lebenden Musiker nordwärts der Alpen bezeichnete. Nur an den alten Verdi reicht er nicht hinan, so kunstverwandt er ihm auch ist: »Aida« und die »Königin von Saba« könnte man füglich als Schwesteropern gelten lassen, da beide, gleichzeitig entstanden, in Harmonik, Melodiefall, Kolorit und Charakteristik den Typus des musikalischen Orients in mustergiltiger und abschließender Weise festgestellt haben. Minder genial empfand die Kunstwelt den viele Jahre später (1886) aufgeführten »Merlin«. Auf der Reise aus dem musikalischen Morgenland nach dem sagendüsteren Nordwest war er in Wagner’sches Fahrwasser gerathen, aber darin durchaus nicht untergetaucht; vielmehr hielt er seinen Kopf mit der eigenartigen künstlerischen Physiognomie hübsch über dem Wasser und ließ sich von der Nibelungenfluth nur so tragen. Das wurde ihm von mancher Seite verargt, und »Merlin« ward mit dem Interdict belegt. Unseres Erachtens ist es Goldmark’s reifstes und imposantestes Werk.

Noch eine weitere Wendung vollführte er, da er »Das Heimchen am Herd« schuf; in der Kunst ein Rückschritt, in der Gunst der Menge ein Fortschritt. Unbewußt ist Goldmark hier vielfach in Massenet’s Manier verfallen; er bekundete auch eine sehr weitgehende Herablassung gegenüber dem Publicum und dessen Geschmack. Aber nirgends hörte er auf, künstlerisch zu sein. Nicht groß als Musiker erscheint uns der Schöpfer des »Heimchen«, aber groß doch als musikalischer Poet. Die letzte Oper »Die Kriegsgefangene“ zeigt uns Goldmark bei dem interessanten Versuche, eine Quellader Gluck’scher Kunst in die Moderne überzuleiten. Das musikalische Griechenthum scheint es ihm von je angethan zu haben; in der herrlichen Ouvertüre zu »Sappho« (weniger in »Penthesilea«) ringt es sich zum ergreifendsten Ausdruck aus seiner Musikseele hervor.

Nicht allzureich nach Quantität sind die Früchte Goldmarkschen Schaffens. Er ist selbst sich jederzeit der strengste Kritiker gewesen und nur nach rigoroser Prüfung und gewissenhafter Feile entließ er ein Werk zur Oeffentlichkeit. Außer den erwähnten vier Opern und den symphonischen Ouvertüren (»Sakuntala«, »Penthesilea«, »Im Frühling«, »Sappho«) hat Goldmark eine Reihe von Instrumental- und Chorwerken geschaffen, deren künstlerischer Werth außer Frage steht. Die anmuthige Suite »Ländliche Hochzeit«, die Symphonie in Es, das prachtvolle Clavierquintett, die Violin-Suiten, das B-dur-Quartett sind dauernde Errungenschaften der Literatur und werden noch lange den Ruhm ihres Schöpfers fortklingen lassen. Von seinen Liedern sind die »Quelle«, »Nachtigall« und »Herzleid« im edleren Sinne populär geworden.

Gegenwärtig arbeitet Karl Goldmark an einer Oper nach Goethe’s »Götz von Berlichingen«. Daß dieses Werk seinen Ruhm mehren möge, das ist der Glückwunsch, den wir dem Meister am heutigen Tage darbringen. Wir wünschen dabei ja auch der Kunstwelt ein Gutes.
Albert Kauders.
(Neues Wiener Journal vom 18. Mai 1900)