Eine Ansicht über Neugestaltung (1860)

Unter diesem Titel veröffentlichte Carl Goldmark in den Blättern für Musik, Theater und Kunst vom 10.,14. und 17. August 1860 einen dreiteiligen Artikel, der rückblickend wie eine Positionsbestimmung und Absichtserklärung des damals dreißigjährigen Komponisten wirkt und hier deshalb gleichfalls in voller Länge wiedergegeben wird.

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Eine Ansicht über Neugestaltung
Von Carl Goldmark

Die Gegenwart ist an die Vergangenheit
gefesselt wie sonst Gefangene an Leichen,
aber einst wird sie frei. Jean Paul

Es ist schon häufig die Ansicht ausgesprochen worden, daß auf dem Gebiete der rein instrumentalen Compositionen nichts Bedeutendes, Neues mehr zu schaffen sei, da dasselbe durch Vervollkommnung seiner einzelnen Theile in den Werken großer Autoren jüngster Zeit bereits seinen Abschluß gefunden hätte.

Bei Besprechung gegebener Fragen – und sicherlich nicht zum Nachtheile derselben – steht wohl Jedem das Recht zu, die Frage von seinem besonderen Standpuncte zu betrachten.

Nicht ohne Verwunderung kann man die rasche Entwickelung der in kurzen Perioden in immer neue Phasen tretenden Musikgeschichte des letzten Jahrhunderts, oder besser der letzten hundert Jahre betrachten. Die Namen der Kunstheroen von Bach bis Schumann bezeichnen eben so viele Perioden musikalischen Fortschrittes, natürlich im Verhältniß zur Stufe des jeweiligen Kunstzustandes.

Wenn auch einerseits nicht geleugnet werden kann, daß die geistige Richtung einer Kunst von dem Geiste ihrer Zeit geboren wird, so will es doch scheinen, als sollte man bei Betrachtung der musikalischen Entwickelung das Gewicht des Ausdruckes »Fortschritt « mehr, oder doch zum größten Theil auch die technischen Schaffensmittel, als auf den geistigen Gehalt des Kunstobjectes legen. Jene hatte eigentlich verschiedene Entwicklungsphasen durchzulaufen, also im eigentlichen Sinne (der Bereicherung und Erweiterung) Fortschritt, während Letzterer, wenn auch theilweise durch die Materie bedingt, doch immer individuelles Eigenthum der geistigen Capacität bleibt. An und für sich scheint es schon ganz unlogisch, daß etwas Reingeistiges und, wie im Kunstwerke der Fall, eine bestimmte subjective, nur für den Fall passende Idee nicht durch das Individuum, sondern durch die Zeit einer Entwickelung fähig wäre. Auf rein instrumentalem Gebiete ist dieser Fortschritt in Bezug des objectiven Gehaltes noch begreiflich, da, wie gesagt, die Idee durch die Materie bedingt ist. und diese der Entwicklung fähig ist, wägend im Textwerk die Idee schon darin ausgesprochen lugt.

Im Allgemeinen ist das bedeutende Kunstwerk früherer Perioden, wenn auch den gegebenen Verhältnissen gemäß mit kleineren Mitteln, im kleineren Rahmen, seiner geistigen Idee nach doch schon vollkommen. So ist das Allegri ’sche Miserere, obwohl die Kunstmittel noch auf ihrer primitivsten Stufe, seiner geistigen Idee nach doch schon vollkommen. Ebenso sind die Bach’sche religiöse Kantate, das Händel’sche Oratorium dieser geistigen Idee, wie ihrer Bestimmung und Wirkung nach – insofern man von der Materie, als der formellen Erscheinungsweise dieses geistigen Inhaltes absehen kann, – doch so reif, wie das bedeutende Textwerk der Gegenwart; obwohl oft entgegengesetzte Stoffe behandelnd, unter verschiedenen Perioden und in Folge dessen mit den verschiedensten, sich später immer mehr vervollkommnenden Mitteln entstanden. Die Vollkommenheit nach dieser Seite hin sichert Werk eben, bei sonst vorwaltenden Mitteln, seine andauernde Wirkungsfähigkeit und somit Unvergänglichkeit.*)

Der Fortschritt erstreckte sich also vorwiegend – im Textwerke weniger, im instrumentalen Werke mehr den Inhalt fördernd, – auf die, wenn man so sagen darf, technischen Compositionsmittel, unter welchen wir im Allgemeinen begreifen: Contrapunct, Canon, Fuge, Form, Rhythmik, Harmonisirung &c, gleichsam die Faktoren, deren glückliches Zusammenwirken das durchgeistigte poetische Produkt zum Entzwecke [sic!] hat.

Haben die drei Erstgenannten (im engern Sinne Compositionskunst), obwohl in jüngster Zeit in neuer interessanter Verwendung, in J.S. Bach schon den Culminationspunct formeller wie harmonischer Schönheit, so haben wir uns in Bezug der Form an Beethoven zu halten. Dieser mächtige Feuergeist, der die belebenden Strahlen in alle Schichten musikalischer Production warf und überallhin veredelnd wirkte, griff mit kühner Hand an das, woran sich vor ihm noch Niemand wagte: an die, die freischaffende Phantasie beengende Schablone oder Form. Wenn auch Marx’s vorzügliche Erklärung von dem Wesen der Form (in seinem Werke »Beethoven«) der ziemlich verbreiteten Ansicht, daß Beethoven die Form zerstückt habe, entschieden entgegentritt, indem die Form als ein dem Inhalte nicht Entgegengesetztes, sondern durch Letzteren sehr Bestimmtes, eigentlich nicht zerstörbar ist; so war er doch der Erste, und zwar nicht aus Willkür, sondern weil die Art, die Größe seiner Idee jene abweichende Formbildung bedingte, der in so ausgedehntem Maße von der künstlerischen Freiheit der selbstständigen Formbildung nach Art des Inhaltes Gebrauch machte, so daß die nachfolgenden Komponisten durch sein Vorgehen – gleichsam der Aufgabe bewußter, – sich berechtigt fühlten, nach Maßnahme ihrer Individualität denselben Standpunkt künstlerischer Freiheit einzunehmen, wie er.

Wie weit sich Beethovens Geist auf die übrigen Factoren bereichernd und erweiternd erstreckte, ist schon anderwärts zu häufig erörtert worden, um hier noch ein diesfalls näheres Eingehen als nothwendig erscheinen zu lassen.

Obwohl es anderseits ungerecht wäre, wenn man hierin die Verdienste späterer Komponisten, wie namentlich Schumann, in Betreff der Rhythmik und Harmonisirung übersehen wollte.

Ueberblickt man nun die Musik in ihrer Entwicklung überhaupt, wie sie aus der Zeit der contrapunctistisch überladenen und, weil unmelodisch, auch ungenießbaren Polyphonie (Periode Dufay’s 1380– 1450 und Ockenheim’s 1450– 1480) nach und nach zur harmonischen Einfachheit und Klarheit überging, von da allmälig mit dem Festhalten des melodischen Elements nach allen Seiten hin sich bereichernd zur heutigen Stufe der Vollkommenheit anlangte, so könnte man mit einigem Rechte an die Möglichkeit einer Weiterbildung auf rein instrumentalem Gebiete zweifeln.

*) Wir wollen hier die Frage, ob die in jüngster Zeit so vielfach bekämpfte und vertheidigte Programmmusik nach der oben bezeichneten Seite hin ein Fortschritt genannt werden darf, eigentlich unberührt lassen, und unsere subjective Ansicht nur dahin aussprechen, daß, da der jedesmalige Vorwurf (Programm) einerseits Bedingung für die formelle Gestaltung wird, andererseits die specifische Musik gleichsam auf das Gebiet der Textmusik geführt wird, man in formeller Beziehung größere Mannigfaltigkeit erreicht (wenn anders die, durch die wechselnde Situation gebotenen Momente durch einen mehr innerlich verbindenden Faden zu einem einheitlichen Ganzen verwoben und dadurch der zusammenhanglosen Zerstücklung der organisch gegliederten Form entgegengewirkt wird), und da die Natur, das Leben, mit ihren tausendfach wechselnden Situationen vielfache Anregung bieten, man große poetische Wirkungen erzielen kann. Vielleicht bekämpfte man bisher auch nur mehr die Art und Weise, wie man auf diesem Gebiete vorzugehen pflegt, als die Sache selbst. (Blätter für Musik, Theater und Kunst vom 10. August 1860)

II

Ich sage dies absichtlich in unbestimmter Form. Denn kann man einerseits nach dem bereits erlangten Höhengrad die Möglichkeit eines noch ferneren Fortschrittes nicht begreifen, noch viel weniger das in jüngster Zeit oft dafür Gebotene als solchen betrachten; so denke man doch an die große Lehrmeisterin Geschichte; sie läßt uns kein Recht, zu einem so apodiktisch negirendem Urtheile. Ihre Blätter zeigen, daß man zu allen Zeiten die möglichste Vervollkommnung erreicht zu haben glaubte, und Niemand eine fernere Entwicklung für möglich hielt; was eigentlich hier in der Natur der Sache liegt, da der bestimmte Maßstab für das zu erreichende Ziel fehlt.

In den Schwesterkünsten, z. B. Malerei. Sculptur, ist die Natur in ihrer unendlichen Mannigfaltigkeit das Modell, dessen Schönheit vollkommen zu erreichen des Künstlers letzte Aufgabe ist. Man hat also in der Natur den vergleichenden Maßstab in Händen, wie weit diese betreffende Kunst noch der Fortbildung bedarf. Allein wo ist dieser Maßstab in musikalischen Dingen zu finden? Lassen wir daher in Würdigung dieses Umstandes einem künftigen Genie die Möglichkeit des Fortschrittes unverkümmert vorbehalten (es bezeugt ja eben dadurch seine Genialität, daß es das Ungeahnte verschließt [?erschließt?]) und glaube man einstweilen an die Unmöglichkeit desselben.

Die Wahrnehmung dieser Unmöglichkeit wird überhaupt nur Jene betrüben können, welche die Kunst nicht in ihrer eigentlichen Aufgabe, sondern als ein etwa zu lösendes Problem betrachten.

Gleich der Religion ist Veredlung, höhere Gesittung, Civilisation ihr letzter Zweck.

Eigentlicher Fortschritt im Sinne der Bereicherung und Erweiterung ist Nothwendigkeit. Bedingung in jeder Kunst, die noch nicht zum Abschluß ihrer möglichen Entwicklung, zur vollkommenen Reife gelangt ist. Einmal dieselbe erreicht, ist nur mehr Neugestaltung nothwendig; aber dann ist letztere auch Lebensbedingung, soll nicht Stagnation, Rückgang eintreten.

Natürlich begreife ich unter dieser Neugestaltung nicht das absolut Neue in Allem und Jedem. Einerseits kann man es, um der drängenden Forderung der unersättlichen Zeit zu genügen, im Sinne der Produktion überhaupt nehmen; anderseits und wohl das Wichtigere, begreife ich darunter, daß bei vollkommener Objektivität des Kunstwerkes, die vollkommene Subjectivität des Individuums zu Tage tritt.

Mendelssohn äußerte einst zu Lobe: »jeder Komponist könne seine Individualität in seinen Werken zur Geltung bringen. Er trachte nur seiner Subjektivität, der Ader im Goldschachte des Geistes auf die Spur zu kommen. Irgend eine Spur, ein Fünkchen dieses Ichs muß sich wohl finden. Dieses Fünkchen zur Flamme zu machen, sei dann seine Aufgabe. Allein es ist dies leichter gedacht als ausgeführt. Es scheint mir dieser Behauptung auch der praktische Boden zu fehlen.«

Die bedeutende Subjectivität (und nur von einer solchen kann billiger Weise die Rede sein) soll, anstatt sich suchen zu lassen, von selbst hervordrängen. Sie läßt sich auch bei allen bedeutenden Komponisten an bestimmten Umrissen erkennen.

Ergibt sich auch z. B. bei Beethoven in der nur ihm eigenthümlichen, von Ausdrucksfähigkeit strotzenden Charakteristik seiner Gedanken (man unterscheide hier wohl Gedanken von Melodie oder Cantilene im engern Sinne) tritt sie bei Schubert, namentlich in seiner Kammermusik an der stark accentuirten, fast an das nationale Element streifenden Rhythmik stark kenntlich hervor; so bleibt doch das charakteristischste Merkmal der Subjectivität der besondere, jedem hervorragenden Componisten eigene Typus der Melodie.

Am deutlichsten ist diese Wahrnehmung bei Mendelssohn. Dieser hat sich keiner Bereicherung oder Fortbildung der Kunstmittel weder in formeller, noch rhythmischer oder harmonischer Beziehung besonders zu rühmen; unterscheidet sich also vom kulturhistorischen Standpunkte in nichts Wesentlichen von seinen unmittelbaren Vorgängern, und doch erkennen wir ihn schon auf hundert Schritte weit, – in so scharfen Umrissen ist seine Individualität gezeichnet. Diese liegt also nur in dem besondern Charakter seines Gesanges oder seiner Melodie. Aus alles dieses gestützt, will ich nunmehr einen Satz aufstellen, der aus den ersten Blick vielleicht etwas barok erscheinen kann, der indessen einiges Richtige enthalten dürfte, zum mindesten aber Anlaß zu weiterem Nachdenken über die Sache bietet.

Ich bin nämlich der Meinung, daß die Melodie, aus orientalischen Nationalweisen entnommenen Skalen gebildet, in Anwendung mit den heute schon so sehr entwickelten reichen Schaffensmitteln, dem Kunstobject auch eine neue originelle Gestalt geben müßten. Ich betone ausdrücklich die orientalischen Nationalweisen, weil sich die abendländischen, wie z. B. die italienischen, spanischen, schottischen, norwegischen, mehr durch Tonfall, eigenthümliche Figuren, rhythmische Accente als durch Scalendifferenz unterscheiden, Letztere hingegen in den orientalischen Weisen auf das Mannigfaltigste zu finden sind. Hier nur wenige, verschiedenen Nationalgesängen entnommenen Beispiele:

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Ich überlasse es Jedem, sich selbst aus der Masse der verschiedenen Nationalmusik-Charactere die Scalenverhältnisse herauszusuchen. (Blätter für Musik, Theater und Kunst vom 14. August 1860)

III

Daß ich mich bemühe, diese Scalenverhältnisse nur den Nationalweisen zu entlehnen und nicht unabhängig selbst zu bilden, mag zum Theil darin seine Erklärung finden, daß ich mich dadurch dem Vorwurf der Theoretiker, mich mit imaginären Scalen zu befassen, die eigentlich andere zu Grunde haben und nur durch zufällige # und b diese Form annehmen, entziehen möchte. Ein Vorwurf, der, da wir nicht im griechischen Zeitalter leben, allerdings einige Schwierigkeit böte.

Doch selbst zugegeben, diese Scalen basiren auf andere, und sind nur zufällig gebildete, so beeinträchtigt das die hier gegebene Anregung doch durchaus nicht; der theoretischgebildete Komponist wird ihre Abstammung kennen und sie danach harmonisiren. Die Melodie gewinnt aber i» jedem Falle die besondere Eigenthümlichkeit und der Zweck ist somit erreicht. Meine Behauptung unterstützt der praktische Beweis, daß bereits große, umfangreiche Werke in dieser Weise geschrieben wurden, welche die Möglichkeit der praktischen Verwendung dieser Scalen außer alle Frage stellen. Solche sind: die ungarischen Opern Erkel’s, Doppler’s, Kaiser’s (Császár), die russischen Opern Glinka’s, die persischen Lieder Rubinstein’s und viele Andere.

Haben nun die früheren Erörterungen ergeben, daß der besondere Typus der Melodie zur Neugestaltung genügt; so erübrigt es nur mehr den Nachweis zu bringen, daß der hier in dem speciellen Falle sich ergebende Typus auch den ästhetischen Anforderungen genüge, und diese aus obenangeführten Scalen gebildeten Melodien auch im classischen Sinne edel sein können; ferner daß ihnen genug allgemeines Ausdrucksvermögen innenwohnen kann, um sich zur Höhe kosmopolitischer Kunst zu erheben.

Es findet sich in den früher bezeichneten nationalen Kompositionen gewiß viel Schönes, Edles, ja Gediegenes; es ist dies jedoch mit allen den charakteristischen Merkmalen nationeller Eigenthümlichkeit verbunden, in welchem Sinne ich natürlich meine Behauptung nicht gemeint wünsche. Finden wir hier jedoch auf empirischem Weg schon den Nachweis, daß selbst diese Nationalmusik im Allgemeinen nichts Verletzendes hat, so finde ich in den, blos aus den Scalen derselben gebildeten Melodien ohne nationale Ornamentik noch viel weniger Verletzendes oder Unästhetisches.

Die Kunst ist nach Hegel’s geistreicher Definition: »die Annahme der absolut geistigen Substanz der Schönheit in einem todten Stoffe. Die Aesthetik, die Lehre dieser geistigen Substanz der Schönheit, gibt uns aber nur Begriffe von der Form des Schönen und keine Modelle; Begriffe, die ihrer Natur nach mehr ein Empfinden, als ein geistig sicheres Erfassen sind, und zwar ein Empfinden, das erst nach jahrelangem Hören und Studiren gediegener Werke zu jener Höhe des Verständnisses gelangt, um mit Sicherheit den einen Gedanken für edel, den andern für unedel erklären zu können. Selbst bei dem schon vollkommen erreichten Höhengrad musikalischen Verständnisses sind wir bei dem Entgegentreten einer neuen Subjectivität noch nicht ganz unfehlbar im Urtheil, welches in Folge des, auch in der menschlichen Natur wirkenden Gesetzes der Schwere eines näheren Vertrautwerdens mit dem neuen Elemente bedarf, was die vielen Täuschungen in neuen Erscheinungen, wie z. B. die lange Zeit andauernde Nichtanerkennung her späteren Werke Beethoven’s, derer Schumann’s und Anderer zu Genüge beweisen. Da also, wie schon früher bemerkt, die Form des Schönen auch so plastisch greifbar vor uns steht, daß man sie sofort als Maßstab für jede neue Erscheinung benutzen könnte, so wird man wohl die Möglichkeit, daß die aus den oben angeführten Scalen gebildeten Melodien auch im classischen Sinne edel sein können, nicht in Abrede stellen, so sehr sie auch unserem nach ganz verschiedener Richtung hin gebildeten Geschmack fremd und unerträglich erscheinen mögen.

Den Beweis zu führen, daß die in Rede stehende Melodie auch das zu kosmopolitischer Höhe führende Ausdrucksvermögen besitzen kann, überlasse ich hier der Logik der Thatsachen. In der Instrumentalmusik mag die bloße Spielfertigkeit, das Vergnügen am schönen erwärmenden Klang, ohne nach besonderem charakteristischen Ausdrucke weiteres Verlangen zu haben, zum Theil seine Berechtigung finden. In der dramatischen Situation ist und bleibt es ein Unding. Hier ist volle, lebendige Ausdrucksfähigkeit des Gedankens Grundbedingung. Die früher bezeichneten nationalen Werke stehen aber zum größten Theil auf dramatischem Boden, welche auch mehr oder weniger den dramatischen Forderungen gerecht werden. Findet sich nun schon hier mit dem noch ganz nationalen Gewände die volle Ausdrucksfähigkeit des Gedankens. um wie viel mehr müßte diese von dem hohen, cosmopolitischen freien Standpunkte voller künstlerischer Bildung blos in der Anwendung der nationalen Scala möglich sein.

Es bleibt nur einer geniebegabten Natur vorbehalten – mit dieser Scalen-Eigenthümlichkeit gleichsam geboren – dieselbe, nicht mit Absicht, sondern als individuelles Fühlen, als etwas rein Subjektives seiner Melodiebildung zur Grundlage zu geben, um für die hier aufgestellte Behauptung den praktischen Beweis zu führen.

Ich verwahre wich jedoch davor, die hier niedergelegte Ansicht etwa als die einzige Möglichkeit einer subjektiven Neugestaltung betrachten zu wollen. Es war mir mehr darum zu thun, die Möglichkeit einer solchen überhaupt nachzuweisen. (Blätter für Musik, Theater und Kunst vom 17. August 1860)