Der Kaiser verläßt den Berg
Zwei Monate vorher, am 8. Dezember 1898, hatte Hausegger, den Angaben der gedruckten Partitur zufolge, mit der konkreten Arbeit am Barbarossa begonnen. Der Höhenflug des eben gehabten Doppelerfolgs als Dirigent und Komponist, diese zuversichtliche Erkenntnis der eigenen »Berufung« (von mir aus: gegen alle Badenis dieser Welt!) zaubert einem Szenarien vors innere Auge, die keine noch so prächtig ausgestattete Bühne würde realisieren können; alles flötet, trompetet und geigt dem Fortgang des angefangenen Werkes entgegen; und mit diesem selbstgenerierten Schwung dampft man heimwärts, um aufs Höchste beseligt zu berichten und in Tönen zu dichten und rechnet am allerwenigsten damit – den Vater in den letzten Zügen zu finden.
Im ersten Teil habe ich das Verhältnis zwischen Friedrich und Siegmund von Hausegger so hinreichend beleuchtet, daß sich wohl jedes einigermaßen empfindsame Gemüt die Größenordnung des Verlustes wird vorstellen können, den der Sohn seit jenem 23. Februar 1899 zu bewältigen hatte: »Sein Vater […] war eben nicht nur sein Vater, sondern auch sein Lehrer, sein Freund und Berater. Man muss freilich diesen seltenen Mann, diese prachtvoll in sich geschlossene Persönlichkeit gekannt haben, um zu begreifen, was das sagen will,« schrieb Hauseggers Grazer Freund und »Propagandist« Oscar Noë 1906 in seinem Beitrag zu den Monographien moderner Musiker. [8] Er wußte aus eigener Anschauung, daß das keine Redensarten waren, denn auch er hatte von den Kenntnissen und Anschauungen des Herrn Doktor profitiert, und er hatte aus der ersten Reihe beobachten können, wie aus dem begabten, nur drei Monate jüngeren Freunde Siegmund ein Hoffnungsträger entstand – kaum merklich gelenkt, angeregt und korrigiert durch subtile Impulse, künstlerisch im allgemeinen und schöpferisch im besonderen an einer unfühlbaren Leine gelassen, die nur in der Nähe seichter Geschmacklosigkeiten hätte angezogen werden müssen, bei dem kindlich-wichtigen Ernst des Sprößlings jedoch nur selten zur Anwendung gekommen sein dürfte.
Dem einen oder anderen Esoteriker sollte allerdings zu denken geben, wann Friedrich von Hausegger den irdischen Schauplatz verlassen hat. Sein Prinzip, sich nicht in die kreativen Belange des Sohnes einzumischen, könnte ihn in einen (unbewußten?) ästhetischen »Gewissenskonflikt« mit seiner eigenen, ausführlich dargelegten Abneigung gegen jegliche Programmusik gebracht haben – schließlich hatte er noch einige Tage vor seinem Tode im Grazer Tagblatt lesen können, wie’s Jung-Siegmund in München mit seiner dionysischen Antwort auf den Don Juan ergangen war, und er mußte wissen, daß der Barbarossa von noch konkreterem Kaliber werden würde als das kompakte Selbstportrait vorher. Noch so ein Erfolg aus dem eigenen Hause, und der schönen Theorie von der Musik als Ausdruck wären einige ihrer Stützpfeiler weggebrochen.
Wir lassen’s mit diesem kurzen Seitenblick auf das »Jenseits des Künstlers« und des Philosophen bewenden und begeben uns wieder auf den sicheren Boden der Tatsachen, die deutlich genug sind. Für Siegmund, der am 16. August siebenundzwanzig Jahre alt werden wird, enden mit einem Schlag »die sorglos heiteren Jugendtage«. Es gilt, sich neu zu orientieren. Die Stelle des zweiten Dirigenten beim Kaim-Orchester verbietet das ständige Hin und Her zwischen München und der Heimatstadt Graz. Das heißt: Haushaltsauflösung, Umzug (mitsamt der Mutter Hedwig), Einzug, Auspacken, Sortieren und all die alltäglichen Handreichungen, die auch dem glühendsten Idealisten wenigstens vorläufig die Lust auf welterlösende Kreationen verleiden können. Es scheint jedoch, daß sich der nunmehr erwachsen gewordene Künstler rasch etabliert hat: Bald mehren sich die Zeichen für eine sehr glückliche Hand bei der Wahl und Aufführung des symphonischen Repertoires, das er auf seine Münchner Programme setzt – und am 3. September 1899 schließt er die Partitur des Barbarossa ab, der einige Monate brachgelegen hatte. zurück voran