Arbeiter-Zeitung vom 5. Januar 1915
Feuilleton.
Karl Goldmark zum Gedächtnis.
Das Leben dieses Meisters, sein Werden und Wirken, sein Erfolg und sein dauernder Ruhm heißt Kampf. Aeußeres Schicksal hat in den Anfängen die innere Entwicklung vorausgenommen. Die Revolution des Jahres 1848 stellte den achtzehnjährigen Goldmark aus eigene Füße. Mit vierzehn Jahren war der arme Judenjunge aus einem Nest am Plattensee nach Wien gekommen. Der böhmische Geiger Jansa, Lehrer am Konservatorium, nahm sich der musikalischen Erziehung des Knaben, der ältere Bruder Goldmarks des leiblichen Unterhalts an. Der Bruder, der an der Erhebung lebhaft teilgenommen hatte, entkam nach Amerika; auch Jansa mußte flüchten, weil er es gewagt hatte, in einem Konzert zu Gunsten ungarischer Flüchtlinge mitzuwirken. So stand Karl Goldmark plötzlich allein. Rasch entschlossen, verdang er sich als Violinspieler ins Carl-Theater. Die harte Schule feiner Jünglingsjahre ließ ihn immer mit denen empfinden, die den Kampf auf ihre Fahne geschrieben haben. Für die Wiener Arbeiterfänger ist in den Sechzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts der Chor »Ein armer Mann, ein braver Mann« geschrieben worden, der auch zu Ehren des achtzigsten Geburtstages Goldmarks beim Arbeitersängerbundesfest 1910 aufgeführt wurde. Innige Freude empfand Goldmark über die Kunstbestrebungen des Proletariats. Er hat die Arbeiter-Symphonielonzerte wiederholt besucht und jedesmal seinem Staunen und seiner Anerkennung für die Ausnahmsfähigkeit dieser Hörer lebhaften Ausdruck gegeben. Der berühmte Meister hat sich niemals auf das bequeme Altenteil längst erworbenen Lorbeers zurückgezogen; weder im Urteil über jüngere Kunstgenossen, an denen er immer die Begabung, ohne Rücksicht auf seinen persönlichen Geschmack, zu fördern suchte, noch im eigenen Schaffen, das bis zur letzten Woche seines Lebens nicht ausgesetzt hatte. Vor einigen Monaten erst sind neue Lieder und Klavierstücke Goldmarks erschienen, an symphonischen Dichtungen arbeitete er und unablässig war er bis in die letzte Zeit auf der Suche nach einem singspielmäßigen Operntext. Solange er lebte, beherrschte ihn der Zwang des Schaffens. Seine Schöpfungen aber, seine Werke sollten sein Leben darstellen und sie bezeichnen den Kampf, dem dieses Leben gewidmet war: der Eingliederung in die deutsche Kunst.
Nicht von Haus aus ward ihm dies gegeben. Ein Ungar war Goldmark trotz seiner ungarländischen Abstammung nun freilich nicht. Jedenfalls nicht in seiner Musik, ganz abgesehen davon, daß Goldmark niemals ein Wort Ungarisch verstanden hat. Zum Deutschen aber erzog er sich durch seine Kunst. Als dem Achtzigjährigen zu seinem Geburtstag die verdienten Huldigungen dargebracht wurden, hatte ich es an anderem Orte gewagt, diesen inneren Lebenskampf als das Entscheidende seiner Kunst darzustellen uns den Triumph seiner Kunst im Lebenssieg zu erblicken. Goldmark, in seiner milden Weisheit, dankte herzlich für die Ehrung, die ihm durch diese Darstellung erwiesen worden sei. Ich weiß kein besseres Totenopfer darzubringen als eine ähnliche Betrachtung, die auf die Wahrhaftigkeit eines Künstlerlebens geht.
Internationalen Ruhm brachte Goldmark seine erste Oper »Die Königin von Saba« (1875). Goldmark war damals schon ein angesehener Tonsetzer, durch Orchesterwerke, darunter die »Sakuntala«-Ouverture, durch Kammermusik in der öffentlichen und häuslichen Musikpflege bereits wohl bekannt. In seiner Kammermusik knüpft er bezeichnenderweise an Mendelssohn an. Mendelssohn war schon durch seine Geburt ein deutscher Jude, dessen Rezeption eine Generation der durch Reichtum und Geist hervorragenden und darum bürgerlich bereits rezipierten (das heißt aufgenommenen) Familie vorgearbeitet hatte. So leicht hatte es Goldmark nicht, auch nicht so leicht wie sein engerer Landsmann Joachim, der als Nachschaffender schneller den Weg zur deutschen Kunst finden konnte als der selbstschaffende Goldmark. Gerade weil der schöpferische Künstler aus sich selber seine Kunst holen muß, war es schwerer. Die Mauern des inneren Ghettos mußten gesprengt werden, ehe der Weg frei war.
Die »Königin von Saba« ist noch eine jüdische Oper schlechthin. Das Jüdische steckt nicht allein, nicht einmal hauptsächlich in Ort und Zeit der Handlung, auch nicht in der bewußten Verwendung altjüdischer Gesänge und ähnlicher musikalischer Motive. Aus den Eindrücken der individuellen Jugend, die in ihrem Unbewußten die Erfahrungen und Leiden ganzer Generationen trägt, springt doppelt stark das Jüdische dieser Oper, Sie ist jüdisch und nicht orientalisch. Auch der »Barbier von Bagdad« spielt im Orient, auch Cornelius verwendet in diesem »Barbier« orientalische Motive. Doch der Barbier ist keine orientalische, sondern eine deutsche, in jedem Takt deutsche Oper. Der Schauplatz einer Handlung, ihre Zeit, kann niemals den nationalen Charakter des Werkes bestimmen. »Fidelio« spielt in Spanien, ist eine deutsche Oper, die jeder gute Deutsche im Herzen trägt. »Don Giovanni« spielt in Spanien, »Figaros Hochzeit« ebenfalls, sind überdies auf einen italienischen Text komponiert: sind es darum nicht Heiligtümer des deutschen Nationalschatzes? Die Italiener empfinden beide Opern Mozarts als unitalienisch. In der »Königin von Saba« scheint der Text dem Komponisten entgegenzukommen. Das Gegenteil ist der Fall. Sie hat ihrem Komponisten Ruhm und Macht gebracht, dies als den einzigen Vorteil für den Kampf um Aufnahme seines Künstlertums in die deutsche Kunst. Der Text jedoch hat den Entwicklungsgang aufgehalten, die Aufgabe verschoben, das Ziel verrückt. Der Text unterdrückt nach Kräften alle Entwicklungsmöglichkeiten der Musik, über das Jüdische hinauszukommen, das hier nicht mehr ein nationales Bewußtsein zur Grundlage hat, sondern ein Fremdgefühl. Alle großen Werke der deutschen Opernliteratur enthalten eine sittliche Idee, ein Weltproblem; daran entzündet sich die Kunst, ob nun der Worte, ob der Töne. Auch ein Text, der unter der Musik steht, kann die Möglichkeit zur musikalischen Auswicklung einer Idee bieten. Dies fehlt der »Königin von Saba«. So ward die Musik hier auf sich allein gestellt; sie allein mußte das Künstlerische liefern, sie allein das Kunstwerk schaffen. Unbändig viel Kunst mutzte verschwendet werden, bloß um den Musiker, den Künstler gegen den Text zu behaupten; vieles sog der Text auf, was aus einer nachwirkenden Vergangenheit kam. Um dies alles hinauszuspülen, mußte ein Katarakt von Musik niederrauschen. Freilich, die Worte sind der deutschen Sprache entnommen. Mosenthal, der Librettist der »Königin von Saba«, galt einmal als deutscher Schriftsteller; nirgends ist er es so wenig, so gar nicht wie hier. Die »Königin von Saba« bliebe textlich undeutsch, auch wenn ihre Handlung in ein mythisches Germanentum verlegt wäre, so wie der »Barbier von Bagdad« deutsch bleibt, obwohl sein Text aus »Tausendundeiner Nacht« stammt. Die stärkste Kraft Goldmarks ist seine Melodik. Aus Anlaß einer Diskussion über Fragen der Kunst schrieb er mir einmal: »Das Wort ist und bleibt das Wichtigste. Ohne dieses ist die edelste Musik auf dem Theater gegenstandslos. Aber ich behaupte, daß kongruente warmblütige Melodie das Wort vertieft.« Hier Her will unter »Wort« nicht das sprachliche Gebilde, sondern der Text im allgemeinen verstanden werden. Indes, Goldmarks Melodien sind seinen Texten glücklicherweise nicht kongruent, ihnen nicht vollständig angepaßt. Das Wort ist Goldmark für die Entwicklung zum deutschen Musiker fast niemals eine Hilfe gewesen. Es blieb ihm eine nicht gut zu umgehende Bedingung für ein Bühnenwerk. Es kann nicht wundernehmen, daß Goldmark, der sich immer zu deutscher Musik zugehörig fühlte, den äußerlichen Zugang dort erblickte, wo ihm der Weg zum Ruhme sich eröffnet hatte, in der Oper. Nach der »Königin von Saba« kam „Merlin«, dann »Das Heimchen am Herd«, jedes grundverschieden von dem anderen, jedes Goldmark und doch nur ein Stück von ihm. Der auffallende Wechsel der Stimmungsgebiete, auch des Stils, bedeutet kein Jagen um den äußeren Erfolg, sondern ein immer heißeres Ringen um Eingliederung in den Kreis deutscher Kunst. Das »Heimchen am Herd« nimmt mit Glück volkstümliche Elemente in die Musik aus; fast wirkt es, musikalisch genommen, wie eine Weiterbildung des deutschen Singspiels. Auch das Beste am »Wintermärchen« trägt diesen deutschen Singspielcharakter. Der äußere Erfolg eines Werkes hat mit dem Erfolg für die innere Entwicklung nichts zu tun. Goldmarks erfolglosestes ist sein deutschestes: »Die Kriegsgefangene.« Die Szene, da Priamus die Leiche seines Sohnes [von] dem siegreichen Achill erbittet, zählt zu dem Schönsten, was je für die deutsche Oper geschrieben wurde. Allerdings stammt in dieser einen Szene der Text von Homer, nicht von einem Librettisten. Die Fehler der »Kriegsgefangenen« ruhen gleichfalls in der Bedeutungslosigkeit des Wortes für den Komponisten; aus einem inneren Gefühl für die deutsche Sprache ist der hier sprachlich sehr annehmbare Text nicht komponiert.
Wem das Wort so gleichgiltig ist, der kann kein Dramatiker im höchsten Sinne sein. Er ist Symphoniker, er ist, was auch die siegreiche Kraft seiner Opernwerke ausmacht, ein Lyriker von hinreißendem Pathos. Der Deutsche Goldmark hat sich eigentlich ohne seine Bühnenwerke, fast gegen sie gebildet. Er spricht zu uns vornehmlich in den symphonischen Dichtungen, die er bescheiden Ouvertüren nennt. Sie stehen musikalisch höher auch als seine eigentlichen Symphonien, darunter die unter dem Namen »Ländliche Hochzeit« sehr bekannte und viel gespielte. In den symphonischen Dichtungen hat Goldmark seinen künstlerischen Schwerpunkt gefunden, vornehmlich durch sie der deutschen Kunst als Vollbürger sich eingeordnet. In der Ouvertüre zum »Gefesselten Prometheus«, die als Muster seiner symphonischen Dichtungen gelten darf, lebt jene sittliche Idee, ohne die kein Kunstwerk bestehen kann. Hier wirkt ein originaler Künstler, der sich selber mit dem Werke setzt. Wer vermöchte der »Königin von Saba« anzuhören, daß auf ihre Melodik nicht bloß der Orient, sondern auch Johann Sebastian Bach Einfluß nahm? In den Ouvertüren aber, in ihrer kühnen zwingenden Harmonik, die mit der Melodie zugleich gegeben ist, lebt der Geist deutscher Kunst, der Goldmark mit den erlauchten deutschen Meistern verbindet. In der Melodie sah Goldmark die Persönlichkeit des Künstlers, und Goldmarks Melodik ist in der Tat sein Persönlichstes. Dieselben menschlichen Erfahrungen, die immer und überall eine Kunst geschaffen haben, gehen hier durch das Medium einer neuen künstlerischen Persönlichkeit. Die Kunst erneuert sich im Künstler, die neue Individualität ist der Fortschritt. Der neuesten deutschen Musik stand Goldmark mit Zweifeln, doch mit Duldsamkeit gegenüber. Ob die Entwicklung deutscher Musik Verbindungen zu Goldmarks Kunst zeigen wird, ist für die Frage der vollständigen Eingliederung Goldmarks von Bedeutung. Auch ein Mendelssohn lebt trotz Wagner in dem weiter, was den Geist deutscher Musik ausmacht. Ob Goldmark, der ein Leben von unerhörter Kraft daran setzte, sich diesem Geiste zu vermählen, ganz so glücklich sein wird, kann nur die Zukunft entscheiden. Die Wirkung seiner Kunst weist jedenfalls über die Zeit des Entstehens hinaus. Dr. D[avid] J[osef] Bach.