Die Königin triumphiert (1875)

…  wird an der Wiener Hofoper die seit Jahren angekündigte, stets im Gespräch gehaltene Königin von Saba uraufgeführt. Noch drei Tage vor dem nunmehr wirklich definitiven Ereignis hatte Isidor Gaiger, der Feuilletonist der Wiener Morgen-Post, in einem amüsanten Artikel davon berichtet, daß die Premiere der Oper, an der Carl Goldmark beinahe zehn Jahre gearbeitet haben sollte, noch einmal verschoben worden sei, weil die Darstellerin der Sulamith, Frau Marie Wilt, auf Grund eines grippalen Infekts nicht habe pünktlich auftreten können. Als dann aber die seit langem ersehnte, wie eine Offenbarung herbeigewünschte Königin – in Gestalt der Sängerin Amalie Materna – über die Bühne geht, ist der Triumph für alle Beteiligten ein vollständiger. Auf vielen Seiten kann die Leserschaft der wichtigsten Wiener Blätter in den nächsten Tagen noch einmal nachlesen, was sich an jenem denkwürdigen Abend zugetragen hat, welch gute Figur die Damen Materna, Wilt und Hermine von Siegstädt an der Seite ihrer Kollegen Gustav Walter, Johann Nepomuk Beck, Hans Freiherr von Rokitansky und Theodor Lay gemacht, wie sich Chor und Orchester glanzvoll in Szene gesetzt und wie tapfer der Dirigent Wilhelm Gericke die komplexe Partitur bewältigt habe.

Den Anfang macht August Wilhelm Ambros in der Wiener Zeitung vom 11. März mit einem gewaltigen Bericht (worin der Name des Komponisten des öfteren auf »-ck« endet); ihm folgen am 12. März Eduard Schelle in der Presse und am 13. März Eduard Hanslick in der Neuen Freien Presse, bevor Isidor Gaiger in der Morgen-Post vom 14. März eine seiner eigenartigen Rundum-Betrachtungen erscheinen läßt. Unter dem Eindruck des mächtigen Publikumserfolgs bringen die Neue Freie Presse und die Morgen-Post zwei Portraits, deren vielfach nahezu identischer Wortlaut einen gewissen Argwohn weckt: Sollten sich Daniel Spitzer am 18. März und sein Kollege Isidor Gaiger am 19. März etwa auf ein und dieselbe Vorlage gestützt haben, deren ungenannte Quelle in bescheidener Unauffälligkeit hinter den Kulissen sprudelte? Vielleicht findet sich ja eines Tages die beiden gemeinsame Vorlage in einem bislang noch ungesichteten Archiv …

Fast auf den Tag verging ein halbes Jahr, bis Die Königin von Saba, die sich inzwischen als echter Bühnenerfolg erwiesen und bereits ihre Fühler nach anderen deutschsprachigen Bühnen ausgestreckt hatte, in einer geschickt eingerichteten und beworbenen Neufassung ihre zweite Wiener Premiere erlebte. Eduard Schelle nutzte die Gelegenheit zu einer weiteren gründlichen Betrachtung, mit der wir den Überblick über das Geburtsjahr des Werkes beenden wollen. Weitere »Resonanzen« werden folgen.

Es sei darauf hingewiesen, daß die »Bebilderung« der einzelnen Artikel nachträglich unter Verwendung allgemein zugänglicher Materialien erfolgte, um die kolossalen Bleiwüsten der historischen Blätter ein bißchen aufzulockern — und natürlich, um die Charaktere der ersten Stunden, Tage und Wochen ein wenig plastischer hervortreten zu lassen.