Das Streichquartett im Vaterland

… der langjährige Rezensent des Vaterland, auf Neuigkeiten aus Goldmarks Werkstatt. Und auch er zeigt sich freundlich bemüht, die Wartezeit mit einer schönen Berichterstattung zu überbrücken, die dem »Defizit« eine vorteilhafte Wendung gibt:

Als wir neulich über Robert Volkmanns großes Trio in B-moll sprachen, erwähnten wir auch der beiden Componisten Johannes Brahms und Carl Goldmark. Hellmesbergers fünfter Ouartettabend gibt uns Gelegenheit auf letzteren heute zurückzukommen. Zwar ist es keine Novität, die wir zu hören bekamen. Das B-dur-Quartett von Carl Goldmark ist uns seit ungefähr sieben Jahren bekannt. Seitdem es der Componist in seinem eigenen Concerte zum ersten Male der Oeffentlichkeit vorführte, ist es auch bereits in Hellmesbergers Soireen einmal gemacht worden. Letzten Sonntag erschien es nun wieder auf dem Programm. Das Publikum schien das opus wie eine Novität zu behandeln, denn es rief nicht nur die Ausführenden, sondern auch den Componisten. Dies scheint uns ein Beweis, daß dieses Quartett erst jetzt sich dem eigentlichen Verständnisse des Publikums erschlossen habe. Obzwar es bei seiner ersten Aufführung nicht, wie seinerzeit das Trio von Volkmann auf Opposition stieß, so kann man doch behaupten, daß sich das Publikum erst jetzt in die eigenthümliche Komposition hineinzuleben begonnen habe. Und dies ist gar nicht zu verwundern, denn eigenthümlich ist dieses B-dur-Quartett allerdings und keineswegs in die Kategorie jener wohlklingenden Musikstücke einzureichen, die nach einmaligem Hören sofort verstanden werden. Diese Eigenthümlichkeit bezieht sich nicht nur auf das Eine oder andere Moment, sondern auf alle Momente, durch welche sich ein von dem schablonenhaften Herkommen abweichenden, in selbstgewählten Formen bildender Geist bekundet. Die Melodie schreitet bei Goldmark selten in einer Weise vor, daß man beim Anhören derselben den nächsten Schritt errathen könnte, und nicht zu leugnen ist, daß derselben manchmal eine Herbheit innewohnt (wie beispielsweise das Thema im vierten Satze), an die man sich allmälig gewöhnen muß, um sie schön zu finden. Harmonische Neuheiten wird man bei Goldmark nicht lange suchen müssen; aus jeder Seite der Partitur finden sich überraschende Wendungen und Fortschreitungen; am originellsten aber zeigt sich der Componist im Rhythmischen, und man braucht aus dem B-durQuartett blos das Scherzo anzuhören, um zu der Ueberzeugung zu gelangen, daß der Componist ganz andere rhythmische Effecte hervorzubringen versteht, als diejenigen, welche seit Mendelssohns »Sommernachtstraum« Gemeingut sämmtlicher im Kammerstyl componirenden Musiker geworden sind. Wenn irgend Einer auf Goldmarks rhythmische Bildungen Einfluß hat, so ist es Hector Berlioz, mit dessen Scherzo »Fee Mab« eine neue Periode der Rhythmik beginnt. In dem in Rede stehenden B-durQuartett hat der erste Satz den größten Aufschwung, die stärkste Energie. Die männliche Kraft des Componisten tritt in keinem der folgenden Sätze so bedeutend hervor, wie in diesem. Im Scherzo zeigt sich, wie bereits gesagt, die größte Freiheit in der Beherrschung des Ton-Materials. Luftige Geister tanzen da vor unseren Augen den Rhein [sic!], darein ertönt gar ernst der gezogene Gesang der Viola, wie der Gesang eines Menschen in dem verwirrenden Geisterspuk. Etwas Neigung zum Bizarren verräth sich im Thema des vierten Satzes, was ganz besonders da hervortritt, wo das Hauptthema zu einer Fuge verwendet wird und die an sich herbe Phrase durch die häufige Wiederkehr nur noch herber erscheint. Nirgends aber spricht sich die reine Erfindung und tiefe Empfindung so ungetrübt und ungebrochen aus, wie in dem Adagio. Dieses Adagio ist der wehmuthvolle Erguß eines echten Künstlergemüthes. Man kann es nicht anhören, ohne bis ins Innerste getroffen und von jener Wehmuth beschlichen zu werden, von der es selbst gänzlich erfüllt ist.

Keine von Goldmark’s Compositionen, so viele wir deren gehört haben – es sind deren zwar nicht viele – ist so ganz der Ausdruck seiner Individualität, wie dieses B-dur-Quartett und speciell das Adagio desselben. Was wir neulich vom B-moll-Trio bezüglich Volkmann’s gesagt haben, das gilt auch vom B-dur-Quartett in Bezug auf Goldmark.

Will man Goldmark’s Künstlerpersönlichkeit charakterisiren, so muß man sagen, Goldmark ist ein tief empfindender, aber kein fruchtbarer Componist. Von seinen früheren Compositionen reden wir hier nicht; in diesen wandelte er auf den Spuren Mendelssohn’s als mehr oder minder glücklicher Nachahmer. Wir reden nur von der Zeit, da es ihm gelungen, sich von den Mendelssohn’schen Fesseln zu befreien und seine Eigenheit und Selbstständigkeit zu erlangen. Einige Clavierstücke, das Quartett in B-dur, eine Suite für Violin und Clavier, die Ouvertüre zu »Sacontala« – das ist Alles, was Goldmark seit einer Reihe von sieben Jahren hervorgebracht. Gegenwärtig ist er mit der Komposition einer Oper beschäftigt. Man wird zugestehen, daß die Summe für diese Anzahl Jahre nicht zu groß ist. Goldmark verhält sich als Künstler so, wie mancher Mensch in Gesellschaft. Er ist lange schweigsam und hört zu, was die Andern sagen; da hört er denn in der Regel nicht! viel mehr Neues, als das Allbekannte, zweimal zwei ist vier. Mit diesen Schwätzern um die Wette zu reden, darin kann sein Ehrgeiz nicht liegen. Plötzlich findet er Gelegenheit, den Mund zu öffnen und was er spricht, ist ein neuer Gedanke, Nahrung für Herz und Geist. Käme es in der Kunst auf die große Summe der Werke an, allerdings dann wäre Goldmark einer der allerletzten Opferknaben im Tempel derselben, und nur wer mit dem Kaninchen um die Wette producirt, verdiente als ihr Priester genannt zu werden. So ist es aber in Wahrheit nicht. Was producirt wird, das steht in erster Frage und hernach kömmt erst das Wieviel. Wenn wir Franz Schubert oder Haydn ob der Fülle ihrer Productionen bewundern, so geschieht es, weil wir über den innern Werth dieser Productionen mehr keinen Zweifel haben. Wo sich die Tiefe der Erfindung mit der Fülle der Schaffungskraft paart, da werden wir freilich die letztere anstaunen, aber nur darum, weil die erstere so ununterbrochen offenbart. Wo sich aber diese Fähigkeiten spalten, wo die eine derselben die andere beschränkt oder gar ausschließt, da werden wir uns nicht darum kümmern, wie viel, sondern was Jemand hervorbringt; denn wie viel er auch hervorbringen mag, er bringt doch im Grunde nichts hervor, wenn ihm jene innere, drängende Kraft fehlt, aus der heraus allein etwas wirklich Empfundenes und Erfundenes hervorgehen kann. Goldmark arbeitet gegenwärtig an einer Oper, deren Text Mosenthal verfaßte. (Das Vaterland, 8. Januar 1867)