Programmmusik in des Wortes durchgreifender Bedeutung

… konnte Carl Goldmark in den Nummern 25 und 26 der Neuen Zeitschrift für Musik eine detailgenaue, begeisterte Analyse seines Opus 13 lesen: Graf Ferdinand Peter Laurencin, der langjährige Mitarbeiter des Blattes, hatte sich die jüngst bei dem Wiener Verlag Dunkl erschienene Partitur mit einem solchen Verständnis vorgenommen, daß selbst Berichterstattern, die den dramatischen Vorwurf nicht recht mit der musikalischen Reflexion hatten ineins bringen können, nachdenkenswerte Anregungen geliefert wurden. Der opulente Artikel (NZfM vom 15. Juni 1866 und vom 22. Juni 1866) ist nachfolgend im vollen Wortlaut und mit sämtlichen Notenbeispielen wiedergegeben, die seinerzeit abgedruckt wurden.


Concertmusik

Carl Goldmark, Op. 13. Ouvertüre zu »Sakuntala«. Wien, J. N. Dunkl. Partitur, zwei- und vierhändiger Clavierauszug. Preis der Partitur 1 Thlr. 25 Ngr.

Jeder Gebildete kennt Kalidasa‚ s Drama »Sakuntala«. Gleich vertraut ist wol auch jeder Literaturkundige mit dem der deutschen Ausgabe dieses Gedichtes vorgedruckten Goethe’schen Empfehlungsbriefe. Es bedarf sonach keines weiteren Eingehens auf den dem vorliegenden Partiturwerke zu Grunde liegenden Stoff. Um übrigens jedem irgendwie dringlichem Bedürfnisse nach genauerem Verstehen feines jüngsten Opus nachzuhelfen, hat der Componist demselben eine gedrängte Inhalts-Erzählung des indischen Dramas vorangestellt. Man wolle dieselbe auf der dritten Seite der durch Dunkl’s rüstige junge Verlagshandlung sehr nett ausgestatteten Partitur-Ausgabe nachlesen.

Goldmark’s Schöpfung ist Programmmusik in des Wortes durchgreifender Bedeutung. Ihre Themen sind nicht allein Stimmungsbilder; sie sind individualisirte Charaktertypen.

Die durch vierundzwanzig Tacte fortgesponnene Einleitung (Fdur, 3/4 Tct, Andante assai) versinnlicht und vergeistigt zugleich musikalisch das Schwüle, Drückende der Athmosphäre. Der Componist führt zu diesem Ende sehr bezeichnend zuerst tiefliegende Fagotte, Bratschen und Violoncelle mit sogenannten leeren Quintengängen in das Treffen. Diese setzen ihr geheimnißvolles, grau in grau gefärbtes Tonspiel etwa acht Tacte lang fort. Erst im neunten Tacte gebietet der zwar gedämpfte, aber trotzdem entschieden hervortretende Dreiklang auf der Unterdominante, also reines Bdur, diesem dunklen Drange einen kurzen Halt. Es ist ein Trugschluß, der hier zur Geltung kommt. Demungeachtet verbreitet gerade dieser ganz bestimmt ausgesprochene Accord eine gewisse Klarheit über das ganze bisher entrollte Nebelgebilde. Die Stellung dieses Bdur ist sonach eine in spannendem Sinne dualistische. Es liegt hier nämlich eine in ihrem wesentlich consonirenden Wesen demungeachtet dissonirende Harmonie zum Grunde. Ihre Geltung als Dissonanz rechtfertigt sich durch nachstehende Erwägung: ein solcher plötzlich innehaltender Accord macht auf eine länger fortgesponnene Reihe sogenannter Irr- und Truggänge gefaßt. Der Hörer erwartet eine Wendung, die von dem bis jetzt festgehaltenen Gedanken- und Formengange ablenkt. Mit ebendemselben Rechte läßt sich hinwieder von einem Ruhepuncte solcher Art das Umgekehrte behaupten. Er ist ein sogenannter Halt-Accord, folglich ein räthselhaft hingestelltes Fragezeichen an und für den Hörer. Jeder derselben forscht gewiß eben jetzt um so begieriger nach dem unmittelbar Kommenden. Halt-Accorde, wie immer im Einzelnen geartet, fallen ja bezüglich ihrer fesselnden Wirkung genau mit Dissonanzen in Eins zusammen. Demungeachtet weist sowol der hier auf auftretende Accord als solcher, wie auch jedes Einzelglied (Intervall) desselben auf jene Wurzel hin, die im reinsten Consonanzgebiete liegt. Nur durch seine hier behauptete örtliche Stellung wird er zu einer Ab- oder Unterart des Dissonanzengeschlechts umgestaltet. Es liegt sonach in diesem Accorde eine absonderliche Art von Enharmonik oder Mehrdeutigkeit vor. Man könnte dieselbe vielleicht nicht so ganz unbezeichnend: eigentliche, geistige, verhüllte oder symbolische Enharmonik nennen, ein Gegenbild zur formell klar ausgeprägten, eigentlichen Enharmonik. Von diesem mehrdeutigen Accorde angefangen bis zu dem der Form nach vollständigen, wesentlich aber neuerdings trugartigen Abschlusse der Einleitung auf g/g/c als Dominante der Haupttonart, wird das träumisch-dunkle Ton- oder vielmehr Accordenspiel in gleichem Sinne und mit zusehends erhöhter Wirkung fortgesetzt. Das sogenannte Inganno bleibt, wie die Enharmonik in eben dargelegten Sinne, herrschender Typus der ganzen Stelle. Der Componist führt uns ganz unvermerkt, weil eben streng organisch, in solche Tonartgebiete, die als dem Haupttone bald näher, bald entfernter verwandte sich darstellen. Zu dem bis jetzt festgehaltenen Streich- und Blas-Orchester tiefer Lage treten allmählich Clarinetten, Hörner, zweite, erste Geigen, endlich bald dumpfe, bald hellere Paukenwirbel. Die anfänglich leeren Accorde ertönen immer fülliger, bis sie auf dem Tonicadreiklange (Tact 17) in klarer Bestimmtheit sich vernehmen lassen, um (Tact 18—24) nochmals in das nach allem Hinblicke geheimnißvolle Dunkel sich zu hüllen. Nun erst tagt der Hauptgedanke des Werkes. Allein selbst dieser kann sich nicht ganz vom bisher festgehaltenen clair-obscur der musikalischen Zeichnung trennen. Melodisch genommen, trägt er allerdings ein sattsam klares Gepräge. Auch geistig und seelisch stellt er sich als Personification der gleich zart- wie tieffühlenden, im vollen Wortsinne minneseligen Sakuntala, des Haupt-Charakters, fest. Allein die diesem musikalisch wahrhaft schön, echt weiblich keusch erfundenen und durchgeführten Thema verliehene Rhythmengestalt schwebt gleichsam zwischen drei hier als grundverschieden aufzufassenden Welten, der 3/4, 9/8 und 1/4 (??) Sphäre. Man urteile selbst. Die ersten Violoncello und Clarinetten bringen nämlich, von den Fagotten, zweiten Geigen, Bratschen, zweiten Violoncellen und Contrabässen begleitet, folgendes Thema:

goldmark_nzfm_sakuntala_2Gefühls-Mysticismus, und zwar jener ganz spezifische, in Kalidasa’s Gedichte lebende und treibende, klingt beredt genug aus jedem Zuge dieses Themas. Sogar in dem ganz äußerlichen Beiwerke dieser Hauptstelle des Werkes prägt sich die eben kurz skizzirte Stimmung überzeugend ab. Man bemerke u.A. die beinahe tactweise einander drängenden Zeitmaße und Vortragswechselungen. Schon hier zeigt sich klar, was der Componist wollte. Durchgreifende Einheit zwischen Wort und Ton war sein Ziel. Nicht blos die Gesammtstimmung, nicht nur die allgemeinste Lebensathmosphäre der indischen Dichtung sollte hier ihr treues Ton-Echo finden. Jede Einzelsituation, jede Charaktergestalt der Vorlage sollte durch das Mittel geistiger, ja selbst äußerlicher Musik-Symbolik klar vor Sinn und Geist hingestellt, der ganze Mensch durch diese tönende Nachzeichnung in Anspruch genommen werden. Diesem Endzwecke hat schon das vorangestellte Thema mit Glück nachgestrebt. Ueber dieses Thema, welches nun neuerdings aufgenommen, in die zweite Violine und Bratsche verlegt wird, erhebt sich (S. 5 &c.) in erster Geige und Hoboe ein von der Hauptmelodie ganz unabhängiger, nicht minder zart und fein gefühlter Gesang. Man könnte denselben als eine fortgesetzte Zeichnung des Charakterbildes der Heldin des Dramas auffassen. Nach einem anderen Gesichtspuncte könnte dieser zweite, mit dem ersten eng vermählte Gedanke wol auch als ein Symbol der aufkeimenden Liebe des Königs Duschianta zur schmucken Sakuntala gelten. Rein musikalisch genommen tritt dieses Seitenthema, wie dessen Vermählung mit dein ersten Grundgedanken, sehr wirkungsvoll heraus und bildet eine durch Eigenartigkeit des Colorits sehr anregende Zeichnung. Hier steht das Thema. Der Leser halte es mit seinem Vorgänger zusammen und urtheile dann selbst über die geistvolle Synthese beider Gesangsstellen:

goldmark_nzfm_sakuntala_2b

Die ganze eben angeführte Stelle ruht bis zum vorletzten Tacte auf dem Tonica-Orgelpuncte. Dieser Halteton giebt dem Componisten Anlaß zum Uebereinanderthürmen von allerlei harmonisch contrapunctischen Combinationen feinduftigster Wirkung. Schon die oben erwähnte Vergesellschaftung der beiden Themen gehört als ein musikalisch beachtenswerthes Moment hierher. Es ist dies eine Entwickelungsphase des ganzen Gebildes, die, wie ebenfalls gezeigt, auch vom Standpunkte der Programmmusik nicht blos streng gerechtfertigt, sondern geistig hervorragend, einen sprechenden Zug feinen Gefühles und auf der Zeithöhe stehenden Bewußtseins bildet. Zugleich kommen hier aber bemerkenswerthe combinatorische Züge an den Tag; so z. B. ganz überraschende Vorhalte und Durchgänge einzelner Stimmen und Accorde. U. A. nimmt hier (S. 6, T. 5-6) der Componist Act von dem wol erst in jüngster Zeit gründlich emancipirten, weil selbständig, unvorbereitet auftretenden übermäßigen Dreiklange. Die Führung der Mittelstimmen bietet hier – auf die strengste thematische Grundlage gestellt, die sich nur denken läßt, da keinen Augenblick von dem Festhalten der beiden oben erwähnten selbständigen Melodien abgegangen wird – eine Fülle anregender Züge, die den berechtigten Geistessohn der Jetztzeit in jedem Schritte offenbaren.

S. 8, T. 1 taucht ein neues Bild empor, das, scheinbar Episode, gar bald (S. 9, T. 2 u. s. f.) zu einem organisch nothwendigen Momente des Ganzen wird. Dieser fast scherzoartig auftretende Satz bildet nämlich, enharmonisch zwischen Dmoll und Ddur obschwebend, die unfehlbare Brücke zu jener fanfarenhaften Themengestalt, die als typisches Charaktersinnbild des der Jagdlust fröhnenden Königs Duschianta anzusehen ist. Es spiegelt sich darin ein frohes, fast wildes Treiben, dessen Gegensatz zu dem bis jetzt festgehaltenen mystischen Traum- und Schwärmerleben sattsam prägnant sich abstuft. Diese Schein-Episode lautet nämlich – der Oberstimme nach, aus deren melodischer Führung die harmonische Einkleidung unschwer hervorgeht – wie folgt:

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Das übermüthig-genußdürstige Königsthema, die musikalische Verpersönlichung Duschiantas, tritt hinwiederum in nachstehender Gedankenform zu Tage:

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Die äußerliche Wirkung dieser Stelle ist wahrhaft glanzvoll. Schritt für Schritt gipfelt sich die dynamisch-orchestrale Kraft derselben. Auch der innere Tiefgehalt des eben näher bezeichneten Themas weiß den Hörer ganz mächtig zu fesseln. Die eben besprochene Wendung beweist, wie lebendig im Autor namentlich Berlioz’ Einfluß fortwirke. Ich betone das Wort lebendig. Denn von ängstlichem Nachahmen ist schon deshalb in dieser ganzen Gruppe keine Spur zu finden, weil sich dieselbe ungemein fließend aus dem unmittelbar Vorhergegangenen entspinnt. Dieser Passus ergiebt sich als ein organisch nothwendiges Moment des ganzen Werkes. Er ist weit entfernt, eine leere Effect-Phrase zu sein. Ref. ergreift hier den Anlaß zu dem für diese Partitur ein für alle Mal gültigen Geständnisse, daß sich Goldmark hier als ausgeprägter Orchestermann und als feiner Kenner aller nur möglichen instrumentalen Wirkungen in des Wortes auserlesenstem Sinne bewährt hat. Was er hier niedergeschrieben, klingt und klappt auch vollständig. Alles hier Niedergelegte hat geistigen und seelischen Halt. Alles läßt sich theils auf den Grundcharakter, theils auf das Einzelpersönliche des Gedichtes leicht zurückbeziehen. Der Componist hat alles künstlerisch Erlernbare überwunden. Er versteht es, wie wenige Jünger der süddeutschen Tonschule, die Ergebnisse seiner vielseitigen Belesenheit in allem probehaltigen Aelteren und Neueren seiner Kunst geistig zu verwerthen.

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Auf S. 14 setzt das bisher im Bereiche der B-Tonarten gehaltene Bild enharmonisch ins Geschlecht der bekreuzten, und zwar nach Edur um. Es entspinnt sich an dieser Stelle ein neuer, offenbar Sakuntalas keimendes Liebesverhältniß mit König Duschianta zeichnender Gedanke. Der zuerst in den Hoboen und englischen Hörnern auftretende und von keuschen Klängen der Fagotte, Hörner, Harfen und des Streichquartetts begleitend umspielte, dann aber von den ersten Geigen noch breiter und nachdrucksvoller betonte, ausnehmend zarte Gedanke lautet in ursprünglicher Fassung wie folgt:

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Wie gezeigt, versinnlicht uns auch dieses Thema wieder ein neues Element des Kalidasa’schen Dramas. Goldmark ist auch hier, wie überall, dem künstlerischen Willen seiner Zeit ganz nahe gekommen. Ueberdies athmet diese Stelle auch ein ganz eigenes phantastisch-schwunghaftes Leben nach melodisch-rhythmischer Seite. Es ist so recht eigentlich ein romantischer Phantasiegedanke. Freien Fluges schwärmt er dahin und flößt dem ihm Lauschenden gleiche Regungen ein. Er lehnt sich an keine bestimmte Richtung, zeigt aber in All und Jedem tiefes Verständniß und innige Durchdrungenheit von allen Bestrebungen der Gegenwart. An reizvoll orchestralem Farbenreichthume sucht die eben erwähnte Stelle ihresgleichen. Die einzelnen Instrumentalgruppen tragen ebenso individuelles Gepräge, als ihr Verein den im Orchester und seinen Klangwirkungsgeheimnissen vollends heimischen Praktiker bekundet.

Ergüsse so breiter Strömung setzen ihren Lauf bis S.26 der Partitur fort. Von da ab bis zu dem S. 37 anhebenden Wiederholungssatze sind es einzelne Theile des vorhin erwähnten Königsthemas und des Sakuntala-Hauptgedankens, die bald erweitert, bald verengert, bald in ursprünglicher, bald in veränderter Accorden- und Rhythmengestalt, bald diesem, bald jenem einzelnen Instrumente, bald dieser, bald jener Orchestergruppe überwiesen, auftauchen und mit zusehends gehobenem Nachdrucke dem Hörer eingeprägt werden. Hier offenbart sich erst vollends die freie Combinationsgabe und überhaupt das sinnvolle Geschick des Componisten in aller Art thematischer Arbeit. Die ganze Stelle macht den Eindruck des vollgültig Organischen. Das vielleicht manchen Hörer hier beirrende blose Nebeneinander der verschiedenen Themen und der einzelnen theils hauptgedanklich, theils zwischensätzlich begründeten Figuren klärt sich für den geübten Partiturleser zu einem Bilde, dessen einzelne Momente durchaus ineinander verwachsen erscheinen. G. macht hier den möglichst umfassenden Gebrauch von der Errungenschaft des polyphonen Elementes, das seit S. Bach durch die Meister der Neuzeit immer fester gestellt worden ist. Nur widerstrebend trenne ich mich von dieser vielfach anregenden Stelle. Nur vorübergehend erwähne ich ihren überschwänglichen und dennoch maßvoll angewandten Modulations- und Rhythmenreichthum. Nur im Fluge sei hingewiesen auf ihre geistvolle Contrapunctik, die da entkeimt ist dem innersten Wesen der zu Grunde gelegten Dichtung und aller bis jetzt vernommenen Musik. Nur obenhin gedenke ich des reichen Melodienstromes, der markig, gleichsam plastisch hingestellten Kernbässe, der schrittweise aufgegipfelten, aus dem Gedanken selbst innerlich nothwendig entsprießenden, glanzvollen Instrumentaleffecte, kurz all des Schönen, streng Zeitgemäßen, das dieser ganze Durchführungssatz darbietet.

Das Einlenken aus der sogenannten Durchführung in den Reprisensatz ist ein Punct, aus den bekanntlich Schumann, der Kritiker, mit vollem Rechte den größten Nachdruck gelegt. Schumann hat die Lösung dieser Ausgabe als den vornehmlichsten Probirstein wahrer Meisterschaft und als eine der beachtenswerthesten Grenzlinien dieser letzteren vom Laien- und Stümperthume hingestellt. In G.’s vorliegendem Werke vollbringt sich dieser Uebergang zwar lediglich durch rhapsodisch hingeworfene Striche. Die betreffende Stelle wirkt demnach hier nicht so recht eigentlich organisch, wie es das absolute Musikerthum von jeher erstrebt und theilweise auch erfüllt hat. Demungeachtet zeigt ebendieselbe Stelle, vom Gesichtspuncte der Programmmusik aus besehen, einen weil tieferen Halt, und ist von schlagkräftigerer Wirkung, als man bei oberflächlichem Hören, Durchspielen oder Durchsehen vielleicht zu glauben versucht wäre. Der nach klarem Dichterworte in Sakuntalas Seele hindurchgerungene Schmerz über den Verlust des Ringes rechtfertigt, nach einer andern Seite hin betrachtet, ganz vollkommen ein solches lyrisch-sprunghaftes oder aphoristisches Verfahren. Nach einem anderen Gesichtspuncte redet hinwiederum einem solchen das Wort der zwar vom Dichter stillschweigend umgangene, aber aus der Gesammtsituation leicht zu erschließende Gefühlswiderstreit in der Seele des Königs. Diesem letzteren ist wol allerdings durch Tücke des Schicksals die Erinnerung an Sakuntala geraubt worden. Demungeachtet mag ihm wol in einzelnen Lichtmomenten, die sich doch gewiß in jedem Seelenkrankenleben nachweisen lasten, zu Zeiten daß Bild seiner einstigen Liebe aufgedämmert haben. Daher das häufige Zurückgreifen seines Geistes nach früheren Stimmungserlebnissen. Daher denn auch daß Kämpfen und Durchkreuzen dieser früheren Stimmungen mit Duschiantas jetzigem Seelenzustande. Nach solchem aus Wort und Tondichtung und aus deren analogem Zusammenhalte leicht zu erschließenden Programme ergiebt sich von selbst ein freieres Schalten mit allem Melodischem und Rhythmischen. Eine solche Ungebundenheit ist nicht etwa ein an dieser bestimmten Stelle blos geduldetes Wesen; sie ist im Gegentheile eine in jeder Art nothwendige Folgerung aus allem unmittelbar Vorausgegangenen.

Der Reprisensatz selbst weicht nur in wenigen Zügen vom Hauptsätze ab. Allein selbst in diesem unscheinbaren Detailoffenbart sich der musikalische Feinsinn des Componisten. So z. B. S. 43 bis einschließlich S. 45 der Partitur, im Gegensatze zu der, melodisch genommen, ganz gleichen, auf S. 10 bis 12 vorkommenden Stelle. Hier wird nämlich – in der schon oben erwähnten fanfarenartigen Episode – von Amoll ausgegangen, nach Cmoll, Bdur, Es dur und enharmonisch mittelst des mehrdeutigen Accordes es/ces/A nach h/e/gis und sodann durch dis/e/cis/Fis und a/dis/ …/ H nach E dur modulirt. Dort wird hingegen von der von der Cdur-Dreiklangsharmonie nach dem gleichartigen Accorde von A dur gerückt, und nach sechs Tacte langem Verweilen in dieser Tonart die helle Ddur-Region festgehalten, um später enharmonisch nach Es dur einzulenken und in dieser Tonart themengerecht fortzuarbeiten. Dies nur beispielsweise. Man begegnet an dieser Stelle noch manchen anderen, bald modulatorischen, bald orchestralen Feinheiten, die das formelle Geschick wie den dichterischen Sinn des Componisten in ein immer helleres Licht stellen. Mit ganz ausnehmender Frische, Kraft und Feinheit tritt auch hier wieder der zu bedeutendem Grade der Höhe und Intensität entwickelte orchestrale Farbensinn G.’s zu Tage. Das in Rede stehende Werk macht hier wie überall den Eindruck, als hätte G. jahrelang im Orchester gesessen und an dieser Stelle aus eigener Kraft unausgesetzter Praxis jedes Instrument als Einzelwesen, wie den ganzen, vielverzweigten orchestralen Organismus nach allen Seiten hin erprobt. Das ganze Werk wirkt demzufolge, nach diesem bestimmten Gesichtspuncte erfaßt, als vollgültiges Meisterstück. Leider muß ich es, weil eben schon weit hinausgegangen über die einer Recension solcher Art herkömmlich gesteckten Raumgrenzen, bei dieser einfachen Versicherung bewenden lassen. Nur sei im Allgemeinen noch bemerkt, daß dieser Wiederholungssatz sehr weit über die seiner bestimmten Gattung und Art nach langgewohntem Herkommen gezogenen Marken hinausgeht. Eigentlich ist er als ein vollständig geistesfreier, nur äußerlich an die von altersher gewohnte Form sogenannter Reprisensätze sich anlehnender zweiter Theil des in breitesten Dimensionen angelegten wie durchgeführten Tonbildes aufzufassen. Mögen Engherzige an solchem Uebergriffe wie immer mäkeln! Mir ist Nichts zu lang an diesem Werke. Es sind nicht Tautologien, die hier entgegentreten. Es sind vielmehr organisch bis in das unscheinbarste Glied gerechtfertigte Entwickelungen eines schon vom Ursprünge aus reichhaltigen Gedankenstoffes; es ist thematische Arbeit in durchgreifendster Bedeutung der Gegenwart, deren jeder Willige hier gewahr wird. Dies der gesunde und jeden unbefangenen Hörer und Leser erfreuende Kern des Werkes. Dies letztere ist eine wirkliche That, und zwar die eines Mannes und Charakters von ächt künstlerischem Schrot und Korn.

Unter den vielen, bald nach dieser, bald nach jener Seite anregenden Details dieses Wiederholungssatzes will ich nur flüchtig andeutend noch jener markigen Bässe erwähnen, die sich, angefangen von S. 61, bis zu dem auf S. 63 – 65 fortgehenden Oberdominantorgelpuncte hinziehen. Der Bewegungszug erstgenannter Stelle ist vorwiegend chromatisch. Ueber ihn thürmen sich, in Gestalt einer scheinbar frei-phantastischen Episode, allerlei Arabesken empor. Diese auf den ersten Blick vermeinte Zwischensatzstelle ist aber genau im Melodiencharakter des ersten Hauptgedankens, sowie in dem der gleichfalls schon oben erwähnten fanfarenartigen Stelle begründet. Man fasse in dieser Beziehung, nach erstem Hinblicke, den Gang der Flöten und den der zuletzt genannten Instrumentalgruppe, welche in den zweiten Geigen und Clarinetten in eine Art freien Engführungsverhältnisses gestellt erscheint, in das Auge. Was ferner die Benutzung des fanfarenartigen Themenstoffes betrifft, so ist hier auf die Fortschreitungsart der Hoboen und Fagotte hinzuweisen. Solche Farbenmischung verleiht dem Tonbilde eine ganz außergewöhnliche Regsamkeit Sie gipfelt den diesem Werke schon ursprünglich einwohnenden dramatischen Zug immer mehr empor im Sinne des vollgültig Durchgeistigten. Selbstverständlich erhöht ein solches Verfahren in gleichem Grade den Außeneffect dieser eben erwähnten Stelle. In Folge des im ganzen Werke G.’s herrschenden gründlich organischen Zusammenhanges fördert eine solche Art thematischer Arbeit auch zugleich das mächtig Klappende und Zündende der Sakuntala-Ouverture als solcher. Der eben erwähnte Oberdominantenorgelpunct zieht sich durch achtzehn Tacte fort. Die Streichbässe bringen ihn in nachstehender rhythmischer Bewegung: goldmark_nzfm_sakuntala_5a

Die Pauke schlägt auf gleicher Tonstufe, nämlich auf dem g der ersten Hauptlinie nachstehenden Wirbel: goldmark_nzfm_sakuntala_5b

Die Clarinetten, Fagotte, zweiten Geigen und Bratschen setzen hierauf einen chromatisch aufwärts drängenden freien Contrapunct, zu welchem sich späterhin auch die ersten Violinen, noch später auch die Flöten und Hoboen, gleichfalls chromatisch auf- und abwärts wogend, gesellen und diese in ihrer akustisch-dichterischen Wirkung machtvollem Climax im vollen C dur-Dreiklange zum vorläufigen Abschlusse führen (S. 65, letzter Tact). Von da ab bis S. 69 wird mit dem von früher her schon bekannten Duschianta- oder Königsthema im Sinne jenes zusehends gesteigerten Effectes experimentirt, der mit der situationsgemäßen Wirkung ganz eins geworden. Dieses Moment macht (S. 69, T. 3 bis S. 73, T. 2) einer langathmigen Stretta Platz, die, theils mit orgelpunctartig feststehenden, theils stufenweise aufstrebenden Bässen ausgestattet, über das vollständig wiedergebrachte erste Hauptthema gebaut ist. Nochmals rafft sich (S. 73, T. 2) der sogenannte Duschianta-Hauptgedanke zu verjüngter Kraftgestalt empor. Er spielt in eine von Schritt zu Schritt drangvollere freie Stretta hinüber. Diese letztere schließt endlich das bemerkenswerthe Werk vollständig ab. –

Nach dem bereits Vorausgeschickten bedarf es wol keines zusammenfassenden Wortes mehr über diese Ouvertüre. Höchstens drängt es zum Ausspruche des aus Obigem gleichfalls selbstverständlich hervorgehenden Wunsches nach möglichst rascher allgemeiner Verbreitung dieses Opus. Steht es doch, wie bewiesen, auf vollkommener Zeithöhe. Darin liegt schon der Wunsch ausgesprochen, daß eine solche Künstlerthat bald populair werde in des Wortes geistigster Bedeutung. Es ist dies gleichsam ein Postulat des guten Geistes der Gegenwart, aus welchem diese G.’sche Ouvertüre als eine der reifsten Früchte hervorgegangen ist. – Dr. Laurencin.