Schaffen • Schöpfen • Künden …

IV.

Musik muß strömen! Gibt es Schöneres,
als in ihren Strom zu kommen?

Heinrich Kaminski

Im Februar 1914 kam ein völlig mittelloser Heinrich Kaminski in München an. Seine ganze »Barschaft« bestand in einer preußischen Briefmarke, die in Bayern nichts galt. Die Gönnerin Martha Warburg, die für den Heidelberger Klavier- und Kompositionsunterricht sowie für die Berliner Ausbildung aufgekommen war, hatte nach der Erklärung des Lehrers Paul Juon, Kaminski habe nunmehr alles gelernt, was er ihm beibringen könne, ihre Zuwendungen auf die Miete der kleinen Wohnung beschränkt und darauf beharrt, daß ihr Schützling fortan seinen sonstigen Unterhalt selbst bestritte. Dieses Ansinnen – so richtig es im Ansatze auch war – führte indes zwar zu wahren Glanzleistungen des Hungerkünstlers, nicht aber zu den wirklich gewünschten Resultaten: Die Reichshauptstadt war ein hartes Pflaster, kein Nährboden für den jungen Mystiker, der also dankbar das Angebot eines aus München stammenden Studienfreundes annahm und fürs erste bei dessen Eltern unterkam. Die einstige Klavierlehrerin des nämlichen Kommilitonen, eine Frau Hirzel-Langenhan, ließ es sich gemeinsam mit dem nach wie vor treuen Fräulein Warburg angelegen sein, ein geeigneteres Terrain zu besorgen: In Ried bei Benediktbeuren mietete sie ein leerstehendes »Ausgedinge« (Altenteil eines Bauernhofes), und bald hatte Kaminski einen heimeligen Platz, wo er seinen angefangenen 69. Psalm zu Ende schreiben und das Klavier unterbringen konnte, das er noch in Berlin-Zehlendorf hatte.

Ganz in der Nähe stand das »Häuschen« des Ehepaares Franz und Maria Marc. Wann genau die beiden mit Heinrich Kaminski bekannt wurden, läßt sich nur schwer sagen. Definitiv unrichtig ist die oftmals nachgeplapperte Behauptung, es sei damals, mithin im Frühjahr 1914, zwischen dem Komponisten und dem sechs Jahre älteren Maler eine Künstlerfreundschaft entstanden. Wohl war man sich bald begegnet – auf dem Dorfe geradezu zwangsläufig – , doch ein näherer Kontakt entsteht erst, als sich Marc trotz aller Vorstellungen seiner Gemahlin freiwillig zu den Waffen meldet und an die Westfront zieht. Künftig wird Kaminski Maria Marc im Klavierspiel unterweisen. Sie wird die Fortschritte und die künstlerischen Erwägungen dieser Stunden hinaus ins Feld berichten. In den »Briefe[n] aus dem Felde« vom 1. September 1914 bis zu jenem idiotischen 4. März 1916, an dem Franz Marc bei einem Erkundungsritt von einem Granatsplitter getötet wird, bricht sich mancherlei, was während dieser Unterweisungen gesagt und getan ward. Und es hat ganz den Anschein, als habe – über das Relais der Maria Marc – zwischen den beiden Mystikern jetzt eine Kommunikation stattgefunden, die den so oft leichtfertig benutzten Begriff der »Freundschaft« überhaupt erst mit Leben erfüllte.

Franz Marc hat zweimal – im Juli und im November 1915 – Heimaturlaub erhalten. Rund zwei Dutzend Mal erwähnt er den Namen Kaminsky [sic!] in seinen Briefen. Doch das skizzenhafte Charakterbild, das er von dem damals noch nicht Dreißigjährigen entwirft, zeugt von einem staunenswerten Gespür, das alle bisher so leichtfertig angestellten Vermutungen über die »höheren Welten« der Mystiker zu bestätigen scheint. »Daß Kaminsky wirklich Komponist ist, wußte ich gar nicht. Dann verstehe ich natürlich, daß er nicht in dem Sinne zum Musizieren zu bringen ist. […] Ich sehne mich nach nichts mehr, als einmal einen Komponisten spielen zu hören.« (27. 3. 1915) – »Schreib mir einmal: ist K. produktiv! Schafft er wirklich, oder lebt er nur rein?– (29. 3. 1915) – »Kaminsky scheint ja eher ein reiner Mensch zu sein; aber ich muß erst etwas von seiner eigenen Musik hören, auf die ich furchtbar gespannt bin.« (13. 4. 1915) – »Was macht der gute Kaminsky? Erzähl mir nur weiter von ihm, was er sagt und denkt und tut.« (21. 7. 1915)

Heinrich Kaminski arbeitet an seinem Streichquintett fis-moll. Und denkt und tut so ziemlich das genaue Gegenteil dessen, was seinen komplementären Widerpart damals umtreibt. Der sucht nach der »reinen Form«, Kaminski hingegen nach dem organischen Wachstum, das Form wird – und beide haben, wenn man das Medium ihres jeweiligen Kündens betrachtet, auf ihre Weise recht. Der Maler lebt noch immer in der absoluten Gewißheit, daß man »siegen« werde. Der Komponist verabscheut den Krieg, den der »Brieffreund« wenigstens im ersten Jahr noch als etwas Mystisches empfindet: »ich fühle den Geist, der hinter den Schlachten, hinter jeder Kugel schwebt, so stark, daß das Realistische, Materielle ganz verschwindet …« (12. 9. 1914). Doch in einigen wesentlicheren Punkten herrscht Einigkeit: daß das »Geistige Reich« bleiben wird, was immer geschieht; daß Reinheit des Denkens und des Tuns Vorrang vor allen inhaltlichen Erwägungen hat. »Ich zeichne und male nie vor der Natur, sondern lediglich aus dem Gedächtnis oder mehr: aus der Phantasie, Formkompositionen, ähnlich wohl, wie ein Musiker schafft,« schreibt Franz Marc am 30. Mai 1915 einer »Absenderin von Liebesgaben«, die ihn offenbar um eine Skizze gebeten hatte. Und wenn Heinrich Kaminski später konstatiert, es sei »nicht Sache der Kunst, Gefühle auszudrücken. Musik ist da, um zu klingen und lebendig zu sein. Sie stellt nichts dar. Sie ist Leben an sich« – dann mögen inzwischen zwar anderthalb Jahrzehnte vergangen sein, die prinzipielle Einstellung zum ErSchaffen aber hat sich nur vertieft und nicht gewandelt.

Während infolgedessen das Streichquintett, das im Herbst 1916 vollendet und am 12. März 1917 in München uraufgeführt wurde, trotz verschiedentlicher Vermutungen keine Trauermusik für Franz Marc ist – Kaminski widmete die Komposition Bruno Walter –, so haben sich in der »halb-abendfüllenden« Schöpfung gleichwohl viele gedankliche Übereinstimmungen und Scheindiskrepanzen niedergeschlagen, die desto faszinierender sind, als das Verhältnis zwischen Ursache und Wirkung ein Wechselseitiges war. Wenn etwa Franz Marc und einige seiner Zeitgenossen, darunter der musikalisch-geniale Paul Klee, ihre Formen finden, ist uns immer auch der »Weg dorthin« nachvollziehbar: Die abstrakten Linien und Bögen, die tönenden Farbflächen und Schichtungen enden in quasi gegenständlichen Rehen oder Pferden beziehungsweise in einer Fuge in Rot, einem Notturno mit Horn und einem Alten Klang. Sie wachsen wie die Musik, die Heinrich Kaminski schreibt. Mit einigem guten Willen werden wir im ersten Satz seines Quintetts den vielfach propagierten »freien Sonatensatz« herausdestillieren können; für das Andante dürfen wir das große, dreiteilige Lied annehmen; und in dem ländlerartigen Scherzo wird der Analytiker das klassische A-B-A schon deshalb aufspüren, weil er damit rechnet. Wie aber, wenn wir uns – wiederum nur versuchsweise – einfach einmal auf die Ereignisse so einlassen, als wären wir bei ihrem Entstehen von Anfang an dabei?

Etwa so, wie in jüngerer Zeit ein gewisser Sergiu Celibidache, dessen Mentor Heinz Tiessen übrigens beim selben Wilhelm Klatte in Berlin lernte wie Kaminski, sich mit seinen ungewöhnlichen Thesen vom »Erleben der Musik« den bekanntesten Werken der Literatur genähert und diese vielmals zu wahrhaft mystischem Weltenbau erhoben hat: Gewiß könnten wir zergliedern, wie die weit gespreizten Oktaven, Septimen und Sexten das gesamte Quintett motivisch verklammern. Wie sich über kleinste Metamorphosen aus einer Figur zweier Sechzehntel mit anschließender Achtel plötzlich eine neue, retrograde Gestalt ergibt. Wir könnten die harmonischen Verläufe durchforsten, uns fragen, ob nicht hin und wieder den Spielern des Stückes mit neuen Akkoladenvorzeichen besser gedient wäre als mit der sturen Beibehaltung der drei Kreuze auch dort, wo man sich inmitten einer höheren B-Tonart befindet. Es ist aber auch möglich, gleich in dem Atemzug der beiden ersten Takte mitzuatmen und sich nach dem kurzen Aufzucken des tänzerischen Impulses dahintreiben zu lassen: »Musik muß strömen! Gibt es Schöneres, als in ihren Strom zu kommen?« fragte Heinrich Kaminski – und mehr als zwölf Jahre früher, bei der Premiere des Quintetts, kam bereits die Antwort, als ein Münchner Rezensent urteilte, man sei beim Hören »in den Storm innerlichsten Miterlebens gerissen« worden. Ekstase und Besinnung, dichte Polyphonie und geruhsames Fließen, überraschend aus »andern Welten« kommende und doch aus der gemeinsamen Substanz organisch gewachsene Gegenbewegungen, dazu eine schier unüberschaubare Fülle an Tempowechseln (als Spiel mit der Zeit?); im zweiten Satz und besonders auch in dem gewissermaßen »zwiefachen« Ländler ein gelegentliches Vorstoßen zu Anton Bruckner – Mystiker auch er mit allen Konsequenzen – und immer wieder der Tanz der Einzelstimme wie des Ensembles: Das sind einige der zentralen Erlebensstränge dieses Quintetts, das sich, ganz nebenbei bemerkt, nicht nur in vier, sondern auch in zwei übergreifenden Tableaux beschreiben ließe, da die beiden ersten Sätze attacca miteinander verbunden und durch den »Atemzug« des Anfangs zum Bogen gefaßt sind, während das Ländler-Scherzo und das Finale ihrerseits einen attacca-Komplex darstellen.

 

Das Finale hat Heinrich Kaminski als Fuga bezeichnet, und prompt entdeckt man seit jeher in dem gigantischen Gebilde die gehörigen »Themeneinsätze«, die zwar nicht schulmäßig, aber eben doch »fugiert« behandelt werden, oder man flüchtet sich (bei einer »Fuge« durchaus nicht unangebracht) in Floskelwerk, das prophylaktisch vom »erstaunlichen Reichtum an Erscheinungsformen« schwärmt, auf daß niemand die Noten einer näheren Inspektion unterziehe. Dann dauert es nämlich gar nicht lange, und unsere Schulweisheit löst sich in mikroskopische Bestandteile auf. Dieses krönende Schlußstück des Quintetts ist, wie aus dem als Notenbeispiel mitgeteilten Thema und seinen Abspaltungen ersichtlich, keineswegs als Fuge, sondern vielmehr als »Zentri-Fuge« komponiert. Nicht die Abfolge verschiedener »Einsätze« bestimmt den Verlauf, sondern innnerhalb eines an sich geschlossenen Systems fliegen verschiedene Motive aus ihrem Zusammenhang heraus, um sich neu zu gruppieren, nach ihrer Verdichtung (erstmals bei 1’53ff)

in anderen Bewegungen zu organisieren, völlig den Puls zu wechseln (3’50 der Übergang in breite Triolen)

oder die erreichte Kompression durch Rarefizierung (Sehr ruhig, 4’25ff)

in gleichsam gasförmige Urzustände überzuleiten, von denen aus ein weiterer Schöpfungsvorgang in Angriff genommen wird.

»Wir übersehen heute in dem großen geistigen Gewühle, in dem Europa steckt, durchaus noch nicht die wahren Linien und Formen,« schreibt Franz Marc am 2. Dezember 1915 seiner Frau. »Vielleicht sind die Ansätze in der Malerei prominenter als in der Musik, – aber auch da werden sie sein; man muß nur sehr scharf horchen, – nicht in Konzerten, sondern nach innen horchen, sowie man die neue Malerei nicht in Ausstellungen suchen darf, sondern auf der Straße, im Leben und in der Nacht. Ich sehe sogar deutlich die neue Musik, den ganzen neuen Kontrapunkt: im Sternenhimmel.« Ich wage zu behaupten, daß Heinrich Kaminski den Inhalt dieses Briefes gekannt hat – wie so vieles, was damals zwischen Ried und der Westfront hin- und herging –, und daß er, dem Ludwig van Beethovens spätes Quartettschaffen in jedem Falle geläufig war, mit seiner »Fuga« tatsächlich den neuen Kontrapunkt mit einer in sich mehrfach geschichteten und gefalteten Architektur von der Sonatenform bis hin zum Tanz aus dem Innern und dem Urgrund sowohl mystisch wie auch intellektuell hat vereinen wollen. Das ist freilich nur eine vorläufige Einschätzung, denn der Reichtum der Beziehungen, das Kaleidoskop dieses klingenden Planetariums, die »offene Geschlossenheit« der Musik und die schiere Wucht ihrer Ekstasen muß viele Male erlebt werden, bis »die Zeit reif« ist.
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