Schaffen • Schöpfen • Künden …

III.

In jedem Lufthauch war ein neues Werden ausgespannt
(Ernst Stadler, Vorfrühling)

So tragisch und bedauerlich es immer ist, wenn sich das Krummschwert des äußern Verfalls glühend ins DaSein senkt, um das »wësen« von seiner vermeintlichen Sterblichkeit zu überzeugen: Wir werden von all diesen traurigen Facetten ablassen und uns obendrein, wenn’s auch noch so schwer fällt, aller satirischen Glossen und Marginalien enthalten müssen, die sich bereitwillig herbeidrängen, sobald wir – immer freilich nur beim »Nebenmenschen« – eine Diskrepanz zwischen Ideal und Erfüllung glauben entdecken zu können. Wie lacht nicht unser sarkastisches Gemüt, wenn wir einen Karl May ins Reich des silbernen Löwen streben sehen, derweil er sich im »wirklichen Leben« mit einer Kuh namens Emma herumzankte. Wie vergnügt kichert der Dämon, daß sich der Philanthrop Ludwig van Beethoven mit seinem Gesinde über die Zahl der Kaffeebohnen stritt. Und welch kostbare Randnotiz böte schließlich nicht ein Heinrich Kaminski, der bei der Kasseler Uraufführung seines Concerto grosso im Juni 1923 am erklärten Ziel – der »Diktatur des Taktstrichs« nämlich ein Ende zu setzen – ganz gehörig vorbeischoß und seine spektakuläre Kreation spektakulär in den Boden dirigierte?

Was ließe sich nicht alles ins Feld führen, um den schöpferischen Geist namens Heinrich Kaminski in seinem Käfig festzuhalten! Man könnte ihn beispielsweise einen berechnenden Egoisten nennen, weil er, statt seine Banklehre abzuschließen und also was zum Einkommen der Familie beizutragen, mit Selbstmord droht, um an eine Universität zu kommen, die er aber gleich wieder schwänzt, da ihm ein ältliches, betuchtes Fräulein den Klavier- und Kompositionsunterricht bezahlt. Geeignet wäre auch der »unmoralische Filou«: Nur, weil er so bedeutende Fortschritte in der Musik macht, daß ihn das Sternsche Konservatorium in Berlin aufnimmt, muß er doch nicht sang- & klanglos das Mädchen mit dem unehelichen Kinde [4] in Heidelberg sitzen lassen! Und hat auch keine Skrupel, nachdem er in Berlin – noch immer auf Kosten des spendablen Fräuleins – bei seinen erstklassigen Lehrern »ausgelernt« hat, dank einer weiteren Gönnerin auf dem bayerischen Land den Künstler zu spielen. Ist das kein Drückeberger und Simulant, der zusieht, wie »alle Welt« in die Schlacht marschiert, selbst aber der ersten Einberufung durch die Fürsprache einer einflußreichen Dame von Adel entgeht und sich beim zweiten Mal eine pünktlich eintreffende Bronchialschwäche nimmt? Unverantwortlich ist es auch, mitten im Kriege zu heiraten und nachher fünf Kinder [5] in die Welt zu setzen: Als Künstler!!! Sich als Patriarch aufzuspielen, der der Familie und seinen Schülern gegenüber nur eine Meinung gelten läßt – die eigene!?

Daß sich seine musikalischen Kreationen inzwischen immer größerer Beliebtheit erfreuen; daß ein Bruno Walter etwa den 69. Psalm für Chor, Kinderchor, Tenor und Orchester, der noch in Berlin begonnen und im bayerischen Ried vollendet wurde, mit gewaltigem Triumph uraufführt; daß der bereits erwähnte Mäzen Werner Reinhart, nachdem er in der Schweiz eine Aufführung des Streichquintetts gehört hat, aus purer Begeisterung zum lebenslangen Sponsor Kaminskis wird; daß der Bielefelder Wilhelm Lamping aus eigener Initiative im Musikverein eine Sammlung durchführt, weil die Chorwerke, die man bis dato hat singen dürfen, als Offenbarung empfunden werden, für die man sich schlicht bedanken will: daß also viele Menschen, die mit der Persönlichkeit und ihrem Schaffen in Berührung kommen, eine eigentümliche Ausstrahlung verspüren, einen frischen Lufthauch, ein neues, unverbrauchtes Werden, eine Ahnung am Ende gar von jenen Landschaften, die uns die Schulweisheit längst hat austreiben wollen – das wird nolens volens gegen die Liste der »Verfehlungen« anzuführen und aufzuwiegen sein.

Es wird jedenfalls gute Gründe für die Stenogramme gegeben haben, in denen die Mitglieder des Bielefelder Musikvereins die Weisheiten ihres Dirigenten Heinrich Kaminski der Nachwelt überlieferten. »Ob wir zum Leben kommen, liegt zuerst an uns selbst. Man kann ja doch nicht gegangen werden. Man kann nur gehen. Wir müssen uns also schon aufraffen und auf den Weg machen,« lautet seine klare Absage an die geistlose Gegenwart. Und: »Die Menschen heute sind besoffen vor lauter ›Tun‹. Nach Meister Eckhart kommt es aber nicht zuerst auf das ›Tun‹, sondern auf das ›Sein‹ an. Das rechte Tun fließt aus dem rechten Sein,« [6] spielt er auf die kleine Unterweisung an, in der der große Mystiker des Mittelalters Vom Nutzen des Lassens schrieb: »Die nicht großen Seins sind – welche Werke die auch wirken, da wird nichts draus. Erkenne hieraus, daß man allen Fleiß darauf verwenden solle, gut zu sein, nicht aber so sehr darauf, was man tue oder welcher Art die Werke seien, sondern wie der Grund der Werke sei.« [7]

Die Menschen müssen das besondere gespürt haben, auch wenn sie sich’s vielleicht nicht erklären konnten. »Das Mysterium der Musik hatte bereits begonnen, wenn er zum Podium hinaufkam,« berichtet ein Augen- und Ohrenzeuge [8], und erneut sind wir aufgefordert, das heute völlig unmöglich Gewordene anzunehmen: daß Heinrich Kaminski nicht nur seinen Meister Eck(e)hart, seinen Zarathustra und seinen Gautama Buddha kannte, sondern daß er selbst ein Mystiker war mit allen Konsequenzen, die diese unzeitgemäße Folgerung nach sich zieht. Der echte Mystiker definiert sich nicht durch das Tun, sondern das Sein (= wësen) bestimmt das Tun, »es sei Essen, Schlafen, Wachen oder was immer es sei.« [9] Ihn umgibt immer die Zeitlosigkeit des spielenden Kindes, das in völliger Hingabe an sein Treiben alles um sich her vergißt und dabei einen göttlichen »Ernst« an den Tag legt, der jedweden Spott – der ohnedies nur ein Abfallprodukt des Nicht-Verstehens ist – verbietet und immer an die Serenität erinnert, mit der der alte Musikmeister seinen Schüler Josef Knecht in der Kunst des Glasperlenspiels unterrichtete. Der Zeit also weitgehend enthoben, sieht der Mystiker, daß »der Mensch noch von weiter herkommt als von seinen Vorfahren«. Er verbindet sich mit andern seiner Spezies über weite »Zeiträume« hin, weil er die »Diktatur des Taktstrichs« auch für Epochen nicht gelten läßt. Der Urgrund, von dem es ihm schöpfend zu »künden« gilt, ist nie fern. Daher auch Tanz und Wort, Rhythmus und Melos als gemeinsame Antriebskräfte bis hin zu dem Experiment des Jürg Jenatsch, der auf der Annahme fußt, daß das Drama einst »aus der kultischen Versinnbildlichung der allem Sein … zugrunde liegenden Urgesetze« (Kaminski) entstanden sei. Daher aber auch, daß es den Mystiker nicht in der direkten Nähe zu seinesgleichen hält: Die Distanz, wie sie Kaminski zwischen sich und Rudolf Steiner legte und wie sie unter anderem auch im Herbst 1914 zu einem der angeblichen Künstlerfreunde entstand, mag äußerlich durch mannigfache »gute Gründe« gerechtfertigt sein – letztenendes ist sie, so unglaublich es uns aufgeklärten Gemütern auch scheinen will, eine Zwangsläufig- und Notwendigkeit.
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