… in hoher Vollkommenheit ausgeführt

Mit dem feierlichen Marsche aus Beethovens »Ruinen von Athen« wurden die Besucher des sechsten Philharmonischen Konzerts begrüßt, als sollten sie bedeutet werden, daß es sich um eine besonders weihevolle Angelegenheit handelte. Dieses wie ein langer Zug weißgewandeter, grünbekränzter, göttergleicher Gestalten aus der Ferne heranschwebende Tonstück bewährt noch immer seine ursprüngliche Mission: es reinigt den Boden von allen unsauberen Elementen und macht ihn würdige, eine Stätte edelster Bildung und Gesittung zu sein. Karl Goldmark hatte sich den Marsch eigens bestellt, um einen feingetönten Hintergrund für das in prächtigen Farben leuchtende Bild seiner neuen Ouvertüre »In Italien« zu gewinnen. Aber neben dem idealen verfolgte er daneben noch einen praktischen Zweck. Die Holzbläser, denen er zwar nichts Ungebührliches, aber doch mehr zugemutet, als sie sonst zu leisten gewöhnt sind, sollten sich bei Beethoven gehörig einblasen, um der schwereren Aufgabe, die ihrer wartete, gewachsen zu sein. Die Absicht wurde erreicht, und das Werk, vom Hofopernorchester unter Schuchs energisch anfeuernder Leitung in hoher Vollkommenheit ausgeführt, eroberte das Publikum im Sturme seiner beschwingten Rhythmen. Ebenbürtig reiht es sich an ähnliche Schöpfungen Goldmarks an, welche die schöne Form der von Mendelssohn geschaffenen charakteristischen Konzertouverture aus einem reichen Ideeninhalte wieder erstehen lasten. Waren es bei den Ouvertüren zu »Sakuntala«, »Penthesilea«, »Prometheus« und »Sappho« Gestalten der Dichtung, welche die Phantasie des Musikers beschäftigten, so wurde Goldmark hier, wie zu seiner Frühlingsouvertüre, von persönlichen Eindrücken allgemeiner Art angeregt. Dem im Kampfe der Natur dem Winter abgerungenen deutschen Lenze steht die als ein strahlendes Göttergeschenk vom blauen Himmel herabgefallene primavera Italiens gegenüber. In seiner stillen Gmundner Klause mag der musikalische Einsiedler sich an den dolce avrile des Jahres 1878 erinnert haben, den er mit Billroth und Brahms in Rom und Neapel verlebte. Es war Goldmarks erste und letzte italienische Reise! Und die Erinnerung überkam ihn mit so beseligender Gewalt, daß sie ihn gleich um dreißig Jahre verjüngte. Wie mit einem Zauberschlage versetzt und das Allegro con fuoco nach Neapel, mitten unter das heftig gestikulierende, singende und tanzende, lärmende und schreiende Völkchen der Marina und des Toledo. Der Musiker hört die Melodien aus der tobenden Menge heraus – sie lachen ihn mit fröhlichen Gesichtern an und winken ihm mit schlanken, von der Sonne gebräunten Mädchenarmen –, und er vernimmt auch den beschwingten Rhythmus in dem ziel- und regellosen Menschengewimmel, der die Massen bändigt. Dann aber rettet er sich aus der wogenden Menschenflut auf den Höhenweg, der Fuorigrotta nach Pozzuoli führt, und er sieht vom Posilip die Sonne untergehen. Der wunderschöne Mittelsatz der Ouvertüre, welcher das übermütig-wilde C-dur gegen ein sanftes, andächtiges As vertauscht und den hüpfenden Zwölfachtel- zum ruhigeren Viervierteltakt ausdehnt, könnte am Grabe Virgils empfangen worden sein. Eine elegische Melodie schwebt von der Solovioline auf, die Harfe begleitet, Flöten und Klarinetten rufen wie Vogelstimmen dazwischen. Zuletzt kehrt die Musik wieder zur Stadt zurück, das ausgelassene Volkstreiben gewinnt die Oberhand, und das Werk schließt so kräftig, wie es begann. Ueber dem in glänzenden Instrumentalfarben schwelgenden Theatermusiker wird der Symphoniker von Goldmark nicht vergessen; die thematische Arbeit der Ouvertüre bietet des Interessanten genug, um ein tiefer eingehendes Studium der Partitur zu lohnen. Der höchst berechtigte Wunsch, die neue, vorerst nur im Manuskript vorhandene Ouvertüre möge bald wiederholt werden, drängte sich jedermann auf die Lippen, zugleich aber auch die Frage, warum die fünf anderen Ouvertüren Goldmarks so selten aufgeführt werden. (Max Kalbeck)

(Neues Wiener Tagblatt vom 27. Januar 1904)