Die Phantasie ist jung geblieben

Das sechste Konzert der Philharmoniker stand wieder unter der Leitung Ernst von Schuchs. Karl Goldmarks neue Ouvertüre »In Italien« wurde mit Jubel aufgenommen. Es war südländisches Feuer in dem Beifall – das Publikum selbst schien ins Italienische übersetzt. Ja, es gibt noch ein C-dur, wie es einen italienischen Himmel gibt; mögen die Leute darunter sich noch, so sehr verändern. Goldmarks »Italien« ist nicht etwa das alte klassische, auch nicht das neueste – es ist das ewige. Die Lust, die mit dem Hauptthema in fliegenden Tanzrhythmen aufstürmt, ist unsterblich. Das kecke As-dur-Motiv der italienischen Bubenschaft gilt wohl auch für alle Zeit. Man sieht in dem blitzenden Motiv der Oboe die Jungen im Sprunge, ihr Treiben dann im Straßengewimmel. Die volkstümlichen Themen der Ouvertüre sind nicht, wie es jetzt in Paris, London, Neapel zur Komponistenmode geworden ist, direkt von der Straße aufgelesen. Das italienische Volksleben ist vielmehr in die Vorstellung des Tonsetzers eingegangen, und aus seiner persönlichen Empfindung gestaltet er das Tonbild als den ästhetischen Widerschein beglückender Erlebnisse. Das wird immer die Methode gesunder Künstler bleiben. Bei dieser künstlerischen Läuterung ging von der Farbenpracht im Durchgang durch die Gefühle des Meisters nichts verloren. Auch das Intermezzo, ein Bild vom ruhigen Strande oder vom quelldurchrauschten Haine – das mögen die Tondeuter entscheiden – ist doch entschiedenes Italien, gewiß das südliche, wo noch immer – Goldmarks Harmonik weist darauf – Formen und Farben und Gesten des Orients hineinspielen. Die Phantasie, die Kombinationskraft Goldmarks ist jung geblieben. Das Feuer, das die Jugend von heute in sich zu löschen trachtet, damit sie dunkel, mystisch erscheine, lodert noch hell in Goldmark, ging auf den temperamentvollen Dirigenten und von ihm aufs Orchester über, das in atemraubendem Tempo über die stark gehäuften Schwierigkeiten der Partitur mit Virtuosität hinwegstürmte. Karl Goldmark wurde mit Schuch unzähligemale gerufen. Nur die voraussichtliche Länge des Programms verhinderte eine sofortige Wiederholung der Ouvertüre. Das Konzert wurde mit dem feierlichen Marsch aus den »Ruinen von Athen« von Beethoven erhebend begonnen und mit Schuberts C-dur-Sinfonie glanzvoll beschlossen.

(Wiener Zeitung vom 27. Januar 1904)