… ein kräftiger dramatischer Puls

Goldmarkiana.

Zu den wenigen lebenden Tondichtern, die unbekümmert um den stets heftig wogenden Kampf der Parteien und Meinungen – im Kreise der Schaffenden, der Kritik und des Publikums – in stiller Klause Taten von bleibendem Werte vollbrachten, zählt Karl Goldmark. Was ihn, den Nestor der deutschen Opernkomponisten, hoch über einen großen Teil seiner Kollegen erhebt, sind nicht die Erfolge, die seine Werke durch ihre dramatische Kraft errungen, nicht ist es nur die Größe in der Erfindung und die Farbenpracht seiner blendenden Instrumentation, was wir an Goldmark lieben und bewundern müssen, es ist vielmehr der aus jedem Takte seiner Arbeiten sprechende Ernst und das stets Ueberzeugende der eigenen Persönlichkeit. Ist Goldmark ja bei allem Reichtum seines Orchesters immer und in jedem Takte Tonkünstler geblieben, ohne jemals den Weg zu betreten, Klangvirtuose zu werden. Gleich seinem von der Schablone abweichenden Werdegang hat auch die Entstehung jeder seiner Opern ihre Eigenart. Dreizehn Jahre nach dem großen Erfolge der glutenvollen, in allen bösen Künsten gewiegten Aethioperkönigin erklang erst des Zauberer Merlins Laute und als diese sprang, da schwieg auch der Meister. Stumm blieb sein Mund fast eineinhalb Jahrzehnte, bis Großvaterglück ihm wieder die Zunge löste und er eines Tages dem geliebten Enkelkind sein »Heimchen« schenkte, in dessen zarten Tonpoesien vielleicht das Edelste, das Wärmste von Goldmarks Menschentum erklingt. Mit fünfundsechzig Jahren gab er uns seine in herber Schönheit adelig leuchtende »Kriegsgefangene« (Brieseis), als Siebzigjähriger den seinerzeit von Mahler abgelehnten »Götz«, bald darauf schuf Goldmarks unaufhaltsam gestaltende Phantasie das »Wintermärchen« und jüngsten Meldungen zufolge sprießen in der Feuerseele dieses Wundergreises schon wieder neue Keime … Nun, Goldmark hat ja, wie sein »Götz«, eine eiserne Hand, einen wetterharten Kopf und ein weiches Herz, drei Verbündete, mit denen er noch lange Jahre hinaus rüstig schaffen und siegen möge.

Ein ähnliches Beispiel von Produktivität finden wir in der ganzen modernen Tonkunst nur noch bei Verdi. Der Parallelismus des künstlerischen Gestaltens beider Meister zeigt sich vor allem darin, daß bei aller Konnivenz an die stilistischen Evolutionen ihrer Kunst, Verdi sowohl als auch Goldmark ihrer innersten schöpferischen Individualität treu blieben, daß die Marke ihrer Persönlichkeit noch durch alle Formen überall zum Durchbruch gelangt; eine weitere interessante Erscheinung ist es, daß beide Künstler erst in hohem Alter Beziehungen zum musikalischen Humor finden: Verdi in seinem »Falstaff«, Goldmark im »Heimchen« und teilweise auch im »Götz«, den das k. k. Hofoperntheater, sonst die Wiege aller dramatischen Schöpfungen Goldmarks, erst jetzt, an des Meisters achtzigstem Geburtstage zur Erstaufführung brachte.

Goethes »Götz« als Opernstoff! Im Momente war ich seinerzeit verblüfft, denn die Tatsache hörte sich befremdlich an: Der biedere »Götz«, der in unserer aller Erinnerung als der Freund rascher Entschlüsse lebt, seine kecken Anschläge und stetes Zuschlagen selbst durch Ströme von Melodien und Rezitationen hemmend und verlangsamend!? Nein! Gottfried von Berlichingen ist wahrlich kein Opernheld! Aber das bewegte Bühnenbild: der Bischofshof zu Bamberg, der Heilbronner Gerichtssaal, die heilige Feme, die aufrührerischen Bauern, das alles mußte den raublüsternen Librettisten reizen. Und die sinnliche Zauberin Adelheid, ihr als Gegensatz gegenübergestellt, Götzens Schwester Maria und die treue Elisabeth, der aufgeweckte Knappe Georg, der schwankende Weichling Adalbert von Weislingen (Opernheld par excellence), der betörte Bube Franz – fast muß man staunen, daß die fundgierigen Operntextschreiber nicht schon längst diesen, gute Beute versprechenden Jagdzug unternommen haben. In weiser Voraussicht der kommenden kritischen Rügen und Klagen über Versündigung an den heiligsten Geistesgütern der Nation seitens ruchloser Librettistenhände, vor denen es keine Sicherheit gäbe, hat der Textdichter – wenn man in diesem Falle so sagen darf – sein Opus bloß »Szenen aus Götz von Berlichingen«*) (frei nach Goethe) benannt. Das war auch im Hinblick auf die Veränderungen bei der Wandlung des Dramas in das Opernbuch klug und vieles damit gerettet! Noch klüger aber wäre es vielleicht gewesen, die Oper »Adelheid von Walldorf« zu benennen, denn Adelheid und die von ihr gezogenen Kreise bilden in der Tat den eigentlichen Mittelpunkt des neugeschaffenen Werkes, abgesehen davon, daß die Charakterisierung der sündigen Ritterswittib dem musikalischen Wesen des Komponisten am nächsten liegt. Hat Goldmark auch selbst viel von dem schlichten und treuherzigen Götz an sich, so mußten ihm doch die Verführungsszenen der Adelheid am besten gelingen. Hier hat er auch tatsächlich die überzeugendsten Töne angeschlagen und in denselben eine Art Renaissance der eigenen Erfindung geboten. Dem mitreißenden Schwung der Fis-moll-Stelle im Duett Franz–Adelheid »Für immer Dein« (2. Akt, 2. Abteilung) kann sich wohl niemand entziehen. Ebenso echteste Goldmarke ist die Ges-Dur-Kantilene der Adelheid »Komm’, Wand’rer, süßer Knab’« (3. Akt, 2. Abteilung). Mit etwas zuviel Behagen am Krassen und Grausigen ist die heilige Vehme und gar die Erdrosselungsszene illustriert, in welcher uns keine der abstoßenden Einzelheiten erspart bleibt. Weniger gut charakterisiert finde ich die Figur Götzens – oft macht es den Eindruck, als ob der Komponist sie nicht auf allen ihren Wegen mit der gleichen Liebe umgeben wollte – sie und Franz und Weislingen teilen sich oft in bekannte melodische Wendungen des salomonischen Günstlings Assad. In lebendiger Frische ziehen die schönrhytmischen Zwischenspiele vorüber, sehr geschickt ist die bei Goethe von Georg erzählte Pagenszene hier auf die Bühne gebracht und vom Komponisten mit netten Heimchenr[h]ythmen ausgestattet worden. Weniger gefällt es, wenn Franz seine Reime nach einer Weise beginnt, der Merlins Hymnenthema gar zu deutlich Gevatter gestanden und wenn Weislingens Bube, betört von den Reizen der Circe am bischöflichen Hofe, seinem Herrn begeistert deren Schönheit preist, erscheint förmlich die Pracht des salomonischen Tempels in Jerusalem, der durch die morgenländische Buhlerin verführte Assad liegt zu den Füßen seines Königs …

Bringt Goldmark in seinem »Götz« auch nichts Neues, noch Verblüffendes, durch die ganze Oper geht dennoch vielfarbiges Leben, pocht ein kräftiger dramatischer Puls. Die Musik hat hier zuviel mit sich selbst zu tun, um dem Dichter und seinem Zwischenträger recht zu lassen. Immer wieder flüchtet sie ins Orchester, wenn die Figuren auf der Bühne auszukühlen drohen. Der Gesang ist auf den Pflichtteil gesetzt, das volle reiche Erbe des genialen Musikers wird unter die Instrumente verteilt. Eine wohlgepflegte Partitur, ein wenig meistersingerlich zubereitet, reinlich Arbeit ohne Himmelsstürmerei und volle Hingabe, reiches Detail, gutes Gedächtnis, ohne den schönen, hinreißenden Schwung aus den Tagen der »Königin« und des »Merlin«, aber durchwegs ureigenste Fechsung.

Die Aufnahme des von Weingartner trefflich vorbereiteten und von Wymetal inszenierten Werkes war, wie vorauszusehen, eine überaus freundliche. Nach jedem Bild setzte reicher Beifall ein und am Schlusse jedes Aktes mußte der greise Meister mit den Hauptdarstellern wiederholten Hervorrufen Folge leisten; in herzlich bewegten Dankesworten an das Publikum gab er der Hoffnung auf ein Wiedersehen an seinem neunzigsten Geburtstage Ausdruck. Im Vordertreffen standen Weidemann (Götz) und Frau Weidt (Adelheid). Brands Leistung als Weislingen verdient insoferne Anerkennung, als er in letzter Stunde für seinen indisponierten Kollegen Schwarz einsprang. Frau Kiurina gab den Georg mit frischem, liebenswürdig-frivolem Temperament und glänzender Stimme. Leuer (Franz) sang einen Teil seines Parts mit auserlesenem Geschmack und der entsprechenden Wirkung, Mayr (Bischof) gab mehr schönen, glanzvollen Ton als Charakteristik des Ausdrucks, ein gemäßigtes Lob, das ich Corvinus (Metzler) nur noch sordinierter erteilen kann. Mit gut entworfenen Skizzen fügten sich noch die Damen Kittel (Elisabeth), Windheuser (Maria) und Paalen sowie die Herren Stehmann und Breuer in das Ensemble. Nicht unerwähnt sei, daß der Pagenchor weit besser gelang wie das Oktett am Schlusse des ersten Bildes.

Ob der Goldmarksche »Götz« einen dauernden Erfolg haben wird? – Ich wage das nicht zu behaupten. Eine Reihe von Aufführungen mag ihm wohl sicher sein, aber wenn er dann auch vom Repertoir verschwindet, es hat sich doch gelohnt, ihn kennen gelernt zu haben. Möchte nur unsere Hofoper sich nie in den Dienst geringwertiger Aufgaben zu stellen brauchen. Carl L. Heidenreich.

*) Der von Rudolf Raimann mit Geschick besorgte vollständige Klavierauszug sowie das Textbuch ist im Bühnen Verlag von Emil Berte & Cie. (W. Karczag & K. Wallner), Wien, erschienen.

(Wiener Montags-Journal vom 23. Mai 1910)