Feuilleton.
Zu Goldmarks achtzigstem Geburtstage.
Mit dem Lexikon darf man die Goldmark-Feiern der musikalischen Vereine nicht kontrollieren, nur mit dem Herzen. Der achtzigste Geburtstag des Meisters rückt heran, aber er ist noch nicht da. Karl Goldmark ist am 18. Mai 1830 geboren; mehr als vier Monate, kostbar in diesem Alter, trennen ihn vom »Achtziger«. Er wird es kaum so eilig haben wie die gratulierenden Orchester und Kammermusiker. Allein ihr Eifer ist löblich, gilt der besten Sache und reißt mit. Mit leiser Rührung sagt man sich, daß der verehrte Mann heute nicht bloß der älteste und bedeutendste Tondichter Wiens ist, sondern auch unter allen lebenden Opernkomponisten der älteste und berühmteste. Der Aelteste! Daran heißt es bei Goldmark mit Vorsicht rühren. »«Niemand hört es gerne, daß man ihn Greis nennt“ – Goldmark am wenigsten. Altersvorrechte mag er als Künstler nicht genießen; keine Abnahme der Kräfte fühlend, pflegt er bewundernde Versicherungen, auch der Hörer fühle sie nicht, dankend abzulehnen. Mit siebzig Jahren stand er mitten in reger Produktion, und dürfte auch mit achtzig seiner Phantasie nicht Halt gebieten. Ob nicht auch heuer im schönen Gmunden eine neue Partitur gereift ist? Die Wellen des Traunsees werden es wissen; vorläufig haben sie das Geheimnis nicht weitergeraunt …
So leicht reißen wir uns dennoch nicht von einer Altersziffer los, die, an sich Ehrfurcht gebietend, dem Musiker angenehm zu denken geben mag. Das Alter, von dem der Psalmist singt, wurde von dessen nachgeborenen Kollegen oft erreicht, oft überschritten. Erst kürzlich versenkte sich ein fleißiger Statistiker in tröstliche Spekulationen über die Langlebigkeit der Musiker. An 140 Tonkünstler wußte er aufzuzählen, die über das siebzigste Lebensjahr gelangt sind, darunter Männer wie Händel, Gluck, Haydn, Grétry, Spontini, Rossini, Meyerbeer, Spohr, Gounod und Liszt. Den Berg der Achtzig, ja den Eisgipfel der Neunzig erklommen achtzig Musiker seiner Zählung, unter anderen Rameau, Hasse, Cherubini, Franz Lachner, Auber, Ambroise Thomas und Verdi. Die Musik sah Vier-, Fünf- und Neunundneunzigjährige, wie Gossec, Preyer und Forkel, in ihrem Dienste, und selbst ein Hundertjähriger, wie Manuel Garcia, gehörte ihr zu. Einige besondere Lieblinge der Götter haben diese allerdings früh zu sich genommen, so drei ganz Durchdrungene, heilige Gefäße der Gnade, wie Mozart, Schubert und Mendelssohn. Im ganzen jedoch scheint es, als ob die lebenstärkende Heilwirkung, welche die Alten der Tonkunst zuschrieben, zunächst deren Jünger selbst an sich erführen. Opernkomponisten scheinen besonders begünstigt; indem sie ihren Gestalten dramatisches Leben einflößen, stärken sie das ihrige. Hohe künstlerische Leistungen sind in der Musik im hohen Alter nichts Seltenes: man denke an Händel, an Haydn, an Verdi. Auch Goldmarks Alter »blüht wie greisender Wein«, mit dem Dichter zu sprechen.
Und diesem Alter nahen wir mehr mit Glückwünschen, als mit Analysen und Würdigungen. Am wenigsten soll unser Meister abermals an Bedeutung und Erfolg seiner ersten Oper gemahnt werden. Diese orientalische Königin ist ihm oft vorgerückt, ihr Einzug in Zion mit seinem Einzug in den Ruhm reichlich zusammengestellt, sein Bild bis zum Ueberdruß aus dem Holz der Zedern vom Libanon geschnitzt worden. Freilich kündet dieses Werk am kräftigsten seine Eigenart; was voranging, fand hier seine Erfüllung, was folgte, haftete darin mit irgend einer Wurzelfaser. Nennen wir Goldmark einen der ersten Musiker des Geistreichen mit nationalem Einschlag. Aber das Geistreiche, so recht bezeichnend mit den Ueberraschungen der Farbe und des Zusammenklanges einsetzend bei Goldmarck [!], hat ihm nie das Herz erkältet, die exotische Würze nicht die gesunde Kraft des Erfindens und Gestaltens beeinträchtigt. Dramatische Anlage lehrte ihn Konzentration, gab ihm die Richtung auf geradlinige Wirkung; echtes, blutwarmes Temperament wahrte ihn vor den ernüchternden Spielen des Chercheurs. Seine Musik sprang immer wie eine heiße Quelle aus ihm empor, wurde »interessant« ohne Kühle und ohne die Linie des Schönen zu brechen. Man hat ihn oft an Wagner zu löten gesucht. Mit Unrecht; er hat mit diesem nur das schärfere dramatische Pathos, das glühende Kolorit gemein. Ein Zug zum Einfachen, Volkstümlichen in Goldmarks Wesen ist nicht zu übersehen. Er verrät die große Sehnsucht nach Entspannung, wie sie die Geistreichsten unter den Musikalisch-Geistreichen erfaßt. Mit Vorliebe horcht er dorthin, wo das Heimchen des Volksliedes zirpt; mitten unter den glühenden Rosen aus dem Osten sprießen ihm deutsche Feldblumen. Goldmarks Figur steht hellbeleuchtet da, wenn man des Empfanges gedenkt, der der Musik seiner Jugend bereitet worden. Auch vor ihm hätte man gerne die Tür zugeschlagen, wie vor jedem in der Tonkunst auftauchenden neuen Gesichte. Auch in ihm sah man den irregeleiteten Bilder- und Dekorationsmusiker, auch ihm hielt man peinliche Absichtlichkeit, krankhafte Originalitätssucht vor; auch bei ihm stellte man verbrecherische Lust an Dissonanzen vor Gericht, den Hang zur Ueberhitzung und Ueberspitzung. Noch vor zwanzig Jahren ist Goldmark von ihm wohlgesinnter Kritikerfeder der Dissonanzenkönig genannt worden. Wäre dies richtig, dann hätte er sehr konstitutionell, sehr milde und weise regiert. Oder man müßte ihn heute für einen depossedierten Fürsten halten, dessen Reich der Dissonanz mittlerweile an das mächtigere der Konsonanz anheimgefallen ist, wie das in der Staatengeschichte der Harmonie nicht selten vorkommt. Ob nicht Goldmark lächelnd zurückdenkt, wenn er heute von der Direktionsloge des großen Musikvereinssaales herab den Klängen Strauß’ und Mahlers lauscht? Gewiß, die Musik dieser Geistreichen klingt wieder ein bißchen anders als die seine; aber die Schlagworte, mit denen sie empfangen wird, sind dieselben. Ohne Goldmarks Lebenswerk überschauen zu wollen, sei nur der Zuwachs der letzten zehn Jahre berührt, der Weg von der festlichen Geburtstagsstimmung bis zur gegenwärtigen knapp durchmessen.
Mehrere Orchesterstücke fallen in diese Zeit, aber auch zwei große Bühnenwerke. Ein rasches Produzieren für Goldmark, den Bedächtigen, lange Feilenden. Abkehr von der Schwere und Leidenschaftlichkeit jüngerer Tage, Vereinfachung des Stils bezeichnen diese Strecke. Großer Erfolg fiel der neuen Konzertouverture zu, die der Komponist »In Italien« betitelt hat. Italienischer Tag und italienische Nacht sind hier gleich lebensvoll geschildert. Die erste der Opern war »Götz von Berlichingen«. Offenbar zog es den Menschen Goldmark zu Goethes Gestalt, und in schönem Irrtum folgte auch der Künstler. Dies Schauspiel mit seiner bunten Fülle von Begebenheiten widerstrebt ebenso der musikalischen Behandlung, wie sein schlichter, derber, wortkarger Held. Hoch klingt das Lied vom braven Mann – empfanden wir bei der Aufführung – aber er darf es nicht selber singen wollen. Schon der eigentliche Titel der Oper »Szenen aus Götz von Berlichingen« spiegelt die Not des Librettisten. Und es gibt Szenen, die gar nicht aus »Götz sind, eher, wie ein neu hinzugedichteter Pagenauftritt, aus einer älteren Operette. Goethe für Opernzwecke auszuweiden – das sieht das deutsche Empfinden lieber fremden Nationen überlassen. »Faust«, »Mignon«, »Werther«: dreimal Goethe und dreimal französische Opern. So stand entschiedenem Durchdringen des »Götz« das Buch entgegen, nicht die Musik, die nicht immer neuer Goldmark ist, aber doch echter Goldmark in der melodischen Erfindung, in der Harmonik, in der Instrumentation. In den Adelheid-Szenen glüht ein erstaunliches dramatisches Feuer, und Götz hat, wenn er Weislingens Verrat erfährt, rührende Töne von bezwingender Schönheit.
»Götz« ist in Budapest, dann auf einer Reihe deutscher Bühnen, nur nicht in Wien aufgeführt worden. Gustav Mahler stieß sich an dem Text, hegte aus diesem Grunde Befürchtungen. Er übersah, daß eine neue Goldmark-Oper unter allen Umständen ein Recht darauf hatte, in Wien gehört zu werden. Dafür ist der Erfolg des »Wintermärchen«, der zweiten Oper aus dieser Zeit, von Wien ausgegangen. Auch der Annahme dieses Werkes durch das Hofoperntheater standen Hemmnisse entgegen, wenn auch keine sachlichen. Die leichte Spannung, die zwischen Goldmark und Mahler des »Götz« wegen bestand, hielt den Komponisten ab, seine Oper einzureichen, den Direktor, ihn hiezu auszufordern. Ein Schulfall für die bons offices einer Mittelsperson. Unversehens fand sich Schreiber dieser Zeilen, sonst recht wenig geeignet für diplomatische Aktionen, in eine solche verwickelt. Seine Aufgabe war übrigens die leichteste; angesichts der beiderseits bestehenden versöhnlichen Stimmung hatte er nicht viel mehr zu tun, als ein Manuskript zu übernehmen und zu übergeben, war also nur, um in der Amtssprache zu reden, Einreichsprotokoll und Expedit zugleich. Die glänzende Aufnahme des Werkes steht noch in Erinnerung. Hier hemmte das Buch nicht den Tondichter, sondern förderte ihn. Die Welt des Unwirklichen, in die Shakespeares merkwürdige Komödie führt, ist so recht die Welt der Musik. Nach tragischem Anfange biegt die Handlung zur Idylle ab, um schließlich weiche Akkorde der Versöhnung anzuschlagen. Der Milde des Dichters, zu dessen letzten Schöpfungen dieses holde Märchen gehört, gesellte sich ungezwungen die Milde des greisen Musikers. Ein edles Pathos vergoldet die Hauptgestalten; der Schlußszene als ihrem Gipfel zustrebend, ist die Oper wie von warmen Strömungen des Gefühles durchflossen. Der zweite Akt brachte die notwendigen Gegensätze, überraschte durch die Frische und Melodiefreudigkeit seiner Volksszenen. Die persönlichen Begegnungen, die das »Wintermärchen« herbeiführte, brachten wertvolle Aufschlüsse über des Meisters musikdramatische Ueberzeugungen. Jedes Wort wies auf den zielbewußten Dramatiker. Genau bezeichnete Goldmark die Szenen der Oper – nicht zuletzt die große des Leontes im ersten Akt – die auf verdeutlichender deklamatorischer Gestaltung bestanden, auf Behandlung »ohne Musik«, wie er sich charakteristisch ausdrückte. Denn »Musik« – so heißt ihm in der Oper die Gesangsmelodie. Die Rechte der Gesangsmelodie seien unantastbar, sie gingen aller »Orchesterpolyphonie« vor. Es mag interessieren, daß Goldmark es war, der auf Verlängerung der Erkennungsszene drang, die, lang genug im Drama des Dichters, ihm zu kurz zu währen schien für die Musik. Wohltuend erschloß sich das Bild des Menschen, sein charaktervolles, gütiges, anerkennendes Wesen, seine echte Bescheidenheit, dieses Merkmal jedes wahrhaft bedeutenden Könnens. Nur einmal wallte sein Selbstgefühl auf, als er einer auswärtigen Besprechung der »Königin von Saba« gedachte, in der diese Oper des Mangels an Erfindung geziehen war. Mangelnde Erfindung in der »Königin von Saba«! Wo Takt für Takt in Melodie getaucht sei! Wo der melodische Stil in höchster Blüte stehe! So rief Goldmark, und wir stimmten und stimmen ihm rückhaltslos bei. Von Farbenblindheit hört man erzählen; Melodientaubheit erlebt man alle Tage.
Bisher ist der Jubilar nicht als Opernkomponist, sondern im Konzertsaale gefeiert worden. Da war – bei der »Goldmark-Feier« des Tonkünstlerorchesters – die Sakuntala-Ouverture zu hören, das berühmte Stück, mit dem Goldmark offiziell sein Kreditiv als musikalischer Geschäftsträger des Orients überreichte. Ihre Triole hat die Welt bereist. Sakuntalas heiliger Hain weist schon auf Salomos Tempel hin, der große König Duschjanta auf die große Königin von Saba. Lebensvolle, klanggesättigte Musik voll Saft und Kraft. Und da überprüfte man auch den Eindruck der zweiten Symphonie, die ja im selben Maße der ersten, der »Ländlichen Hochzeit«, an Eigentümlichkeit nachsteht, als sie sich kräftigerer Subjektivität, der brennenden Goldmark-Farben enthält. Anknüpfungen an Klassiker sucht, einmal in einer frappanten Schubert-Umbildung. Aber wie sprüht das Scherzo dessen Trio durch seine Posthornmelodie (vor Mahler) überrascht, wie geistvoll setzt sich das Finale mit der klassischen Form auseinander! Glänzende Genugtuung hat im Laufe der Zeit das Violinkonzert erfahren, das anfänglich so wenig gewürdigt wurde. Wie konnte mlan nur dieses fortgesetzte Singen des ersten Satzes überhören, zudem ein Singen in eig’ner Weis, diesen meisterlichen Ausgleich zwischen musikalischem Gehalt und geigenmäßiger Brillanz? Das gesangolle Air des zweiten Satzes schwankt zwischen Bach und Beethoven, aber Goldmark gibt den Ausschlag. Das schwierige Werk wurde von Steffi Geyer mit schlichtem, warmem Ausdruck, mit wahrem Charme gespielt. Wie sie mit ihrem süßen, immer ernsthaften Kindergesicht, die Geige an das Kinn gesetzt, diese heißen Töne vom Podium herabsandte, glich sie einem musizierenden Engelchen, das Botschaft aus dem Morgenlande bringt.
Der Konzertverein kündigt die Ouvertüren »Prometheus« und »Im Frühling« sowie das zweite Orchesterscherzo an; die Philharmoniker werden kaum zurückbleiben. Und auch die Kammermusiker haben sich bereits gerührt und wiederholt nach dem Klavierquintett in B-dur Jugend – Goldmarks erfolgreichste Kammerkomposition ist. Es schmeckte seinerzeit wie ein frischer Trank von der Quelle, der Komponist hatte so wenig dem schweren, gewürzten Goldmark-Wein in den Becher getan. Sehr wohl erinnere ich mich der ersten Aufführung im kleinen Musikvereinssaal, an einem Abende des Hellmesberger-Quartetts. Ein Häuflein Konservatoristen, hatten wir uns in einem nun beseitigten Galeriewinkel oberhalb des Podiums eingeschlichen. Hier kauerten wir ungesehen und genossen. Gewohnt, uns an der schwülen Leidenschaftlichkeit Goldmarkscher Musik, an deren blendendem Harmonieprunk zu berauschen, stutzten wir anfangs. Wie einfach setzte der erste Satz ein, ein Stück Himmelblau statt des erwarteten Purpurrots. Doch als auch im Scherzo ein liebes Leuchtkäferchen von Melodie auffunkelte, waren wir gewonnen. Ein unvorsichtig geräuschvoller Applaus erscholl aus dem Versteck und verriet die Gäste ohne Eintrittskarte.
Nicht erst die letzten Tage lehren, welch echter Verehrung sich Goldmark erfreut. Ein widerspruchslos anerkannter Künstler, kann er von der hohen Warte seiner achtzig Lebensjahre befriedigt die durchmessene Bahn überschauen. Sein Name ist weit in die Welt gedrungen, seine Tonsprache, insbesondere die seines Orchesters, hat manchen Einfluß geübt, nicht zuletzt auf Jungitalien, das für Goldmarks »magische Töne« besondere Empfänglichkeit gezeigt hat. So viel Musik auch der seinen nachgedrängt hat, unser Meister steht fest, zählt und behauptet sein Blatt in der Geschichte. Und die letzte Zeile ist noch lange nicht geschrieben; es ist noch immer Raum für Ueberraschungen. Goldmark naht sich erst den Jahren, in denen Verdi das Wunder seiner komischen Oper geliefert hat. Sollte nicht auch er noch seinen »Falstaff« zu schenken haben? Sein Auge leuchtet frisch und schalkhaft und verrät das zugleich weise und fröhliche Herz eines glücklichen Alters. Man kann nicht wissen. Julius Korngold
(Neue Freie Presse vom 12. Januar 1910)