Derlei Musik ist klingende Neurasthenie

Feuilleton
»Der polnische Jude.«

(Eine elsässische Volkserzählung in drei Akten nach Erckmann Chatrian. Text von Henri Cain und P. B. Gheusi. Musik von Camille Erlanger. Erste Aufführung an der Wiener Hofoper am 4. Oktober 1906.)

Es gibt Leute, die Erckmann-Chatrian für einen Dichter halten, die nicht wissen, daß dieser Name die Kollektivfirma zweier gemeinsam arbeitender Romanschriftsteller war und daß Erckmann und Chatrian zusammen noch lange keinen Dichter geben. Es ist nicht ohne Interesse, diese literarische Doppelfigur etwas näher zu betrachten. Emil
Erckmann und Alexandre Chatrian, beide dem Elsaß entstammend, errangen in der zweiten Hälfte des dritten Kaiserreichs glänzende äußere Erfolge, nicht nur bei ihren engeren Landsleuten, sondern namentlich in der Schweiz und in Deutschland. Ein gewisser gemütvoller Ton in den von ihnen vorwiegend gepflegten Dorfgeschichten erweckte auch jenseits des Rheins etwas wie verwandtschaftliche Gefühle und begründete den Glauben, daß dieses Beste in ihrer Schreibweise ihrer alemannischen Abstammung zu danken sei. Kurze Zeit später aber, als sie nach dem Rückfall ihrer Heimat an das Deutsche Reich, in maßlos hitziger Weise für Frankreich optierten und ultrachauvinistisch wurden, verloren sie mit ihrem ursprünglich germanischen Wesen auch rasch ihre große Popularität. Zum größten Teile im Elsaß oder in der benachbarten Pfalz spielend, zeichnen sich die der guten Schaffensepoche angehörenden Erzählungen Erckmann-Chatrians durch liebenswürdige Detailmalerei, gewandte Charakterzeichnung der Hauptpersonen und einen zwar mitunter etwas derben, aber gesunden Humor aus; auch begünstigte es die Verbreitung dieser Werke in außerordentlicher Weise, daß alles Erotische und Anstößige darin vermieden war. Vielleicht den größten Anteil an der Volkstümlichkeit des Autorenpaares hatte aber ihre notorisch kaiserreichfeindliche Gesinnung, der sie in Wort und Schrift beredten Ausdruck verliehen haben. In den späteren, nach 1870 erschienenen Werken, wie: »L’histoire d’un plébiscite, racontée par un des 7,500.000 Qui« (1872), »Le Brigadier Frédéric« (1874), »Maître Gaspard Fix« (1876), ganz besonders aber »Le grand-père Lebigre« (1880) tritt die extrem chauvinistische Richtung der Verfasser, ihr ungezügelter Hast gegen alles Deutsche und ihre Ausbeutung der gemeinsten Tagesleidenschaften in so widriger Art zutage, daß selbst unter ihren Landsleuten nur die rohesten daran noch Geschmack finden konnten. Auf der Bühne hatten fünf Stücke von Erckmann-Chatrian nachhaltige Erfolge: Eine dramatische Bearbeitung von »Ami Fritz«, ferner »Les Rantzau« und die Militärschauspiele »Madame Thérèse« und »Massena et Souwarow; la Guerre«. »Le juif polonais« ging so ziemlich über alle namhaften Bühnen Europas. Auch unser Laube ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen, den »Polnischen Juden« am Wiener Stadttheater zur Aufführung zu bringen. Seither ist es von Erckmann-Chatrian allerorten still und stiller geworden und wenn nicht Pietro Mascagni und der böhmische Komponist Weiß nach Opernbüchern gegriffen hätten, deren textliche Grundlage »Freund Fritz«, den ›Rantzau« und dem »Polnischen Juden« entnommen waren, würde man die Namen Erckmann-Chatrian wohl kaum noch nennen hören. Fast scheint es, als ob ein eigener Unstern über den Werken jener Komponisten walte, die nach Büchern Erckmann-Chatrianscher Provenienz greifen. Der siegestrunkene Mascagni mußte an »Freund Fritz« sein erstes Sedan erleben, »Die Rantzau« sahen ihn völlig ohnmächtig vor sich und der tschechische Komponist Weiß konnte mit seiner achtunggebietenden Partitur zum »Polnischen Juden« nur drei oder vier Aufführungen am Theater an der Wien erreichen. Nun hat sich diesen zwei an Erckmann-Chatrian verbluteten Tondichtern in Herrn Camille Erlanger ein dritter Komponist angeschlossen, einer, der es – man weiß nicht recht, ob man leider oder Gott sei Dank sagen soll – nicht nötig hat, gute Opern zu schreiben, um an der Wiener Hofoper aufgeführt zu werden. Das der Erlangerschen Musik zugrunde liegende Textbuch rechtfertigt schon bei flüchtiger Betrachtung schwerwiegende Bedenken. Es hat so gut wie gar keine fortschreitende Handlung, und ein überaus monoton wirkender, düsterer Grundzug, dem fast gar keine helleren Kontraste mildernd gegenübergestellt sind, waltet von der ersten bis zur letzten Szene so dominierend vor, daß wohl nur ein ganz großes musikalisches Talent imstande gewesen wäre, mit diesem Hauptübel einigermaßen zu versöhnen. Die fast ausschließlich kompilatorische Tätigkeit des Freiherrn v. Erlanger, der in den so unendlich langen drei Akten seiner Oper so entsetzlich wenig produktive Betätigung des eigenen Geistes offenbart, konnte diesen schwer zu behandelnden Stoff unmöglich genießbarer machen. Der Handlungskern präsentiert sich, aus seinem sehr überflüssigen Beiwerke losgeschält, folgendermaßen:

Der elsässische Dorfgastwirt Mathias hat vor fünfzehn Jahren in einer verschneiten Christnacht einen reichen polnischen Juden erschlagen und beraubt, der bei ihm zu Gaste gewesen war. Mit dem erbeuteten Gelde hat Mathias sein verschuldetes, von Feilbietung bedrohtes Anwesen lastenfrei gemacht und spielt die Rolle des Biedermannes dann so meisterhaft, daß er sich allgemeiner Hochachtung zu erfreuen hat. Genau fünfzehn Jahre nach der Mordnacht, wieder am heiligen Abend, weilt Mathias wieder in seiner Gaststube, da ertönt Schlittengeklingel, die Türe öffnet sich und herein tritt der erschlagene polnische Jude! Der Wirt sinkt vor Entsetzen bewußtlos zu Boden. Hinterher erfährt man jedoch, daß es natürlich nicht der Erschlagene war, der bei seinem Mörder vorsprach, sondern der Sohn des Ermordeten. – In stillen Nächten und einsamen Stunden wird Mathias jetzt in noch erhöhtem Maße von furchtbaren Gewissensqualen gefoltert. Er hört immer das fürchterliche Schellengeklingel des Schlittengauls, mit dem der polnische Jude seinerzeit vorgefahren ist.

Dieses Glöckchengeläute wird Mathias zum Schicksal; es rüttelt zerstörend an seinen Nerven, erregt seine Sinne bis zum drohenden Wahnwitz, scheucht den Schlaf von seinen Lidern und verfolgt ihn bis in das Reich der Träume. In der Hochzeitsnacht seiner einzigen Tochter, der er von dem Gelde des erschlagenen polnischen Juden dreißigtausend Frank als Mitgift gibt, träumt Mathias, der dem Hochzeitstrunk über Gebühr zugesprochen hat, daß er vor Gericht steht und daß ihm auf hypnotischem Wege das Geständnis seiner grausigen Schuld entrungen wird; er taumelt verstört aus dem Bette und sinkt, vom Schlage gerührt, tot zu Boden.

Wie man sieht, fehlt diesem Drama – und ein solches soll das Buch zum »Polnischen Juden« doch wohl sein – so ziemlich jedes charakteristische Merkmal seiner Gattung. Es kann und darf uns in einem guten Drama nie zugemutet werden, etwas zu glauben auf Grund von Voraussetzungen, die wir, den Dichter ergänzend, hinzudenken müssen. Die dargestellten Vorginge einer richtig geführten dramatischen Handlung beginnen für uns da, wo sie der Verfasser beginnen läßt, sowie sie unbedingt dort enden, wo die Darstellung des Dichters endet. Jede Frage über das Kunstwerk hinaus wäre kindische Verwechslung der ideellen Welt des Dramas mit der Wirklichkeit. Ein Bühnenwerk, das solche Fragen überhaupt aufkommen läßt, ist rundheraus gesagt – schlecht. Das Buch des »Polnischen Juden« krankt außer einer ganz ungewöhnlichen Armut an eigentlichen Vorgängen schon daran, daß es uns ein Geschehnis als treibende Kraft aufoktroyieren will, das sich fünfzehn Jahre vor Beginn des eigentlichen Stückes ereignet hat! Aus diesem Haupt- und Kardinalfehler entspringen die vielen weiteren Mängel des Stückes. Vermöge des krassen Mangels eines deutlich wahrnehmbaren treibenden Ereignisses fehlt es überall an dem einem echten Drama eigen sein sollenden Charakter des Vorwärtsdrängenden sowie an der unerläßlichen dramatischen Geschlossenheit und Lebendigkeit. Es fehlt auch der eigentliche Konflikt, der Kampf, das Gegeneinanderwirken der Kräfte. Dem guten Drama entzieht sich die Darstellung eines bloßen Innenlebens, alles bloß Zuständlichen, wie es die Figur des Mathias erraten läßt, der drei Akte lang einen lediglich inneren Kampf kämpft, den man zu selbstverständlich findet, um tieferen Anteil daran nehmen zu können. Auch das Ende des Helden läßt gänzlich kalt, denn er stirbt an der mit überzeugendes Recht verpöntesten aller dramatischen Krankheiten, an einem ganz Deux ex machina, an einem Schlagfluß, der übrigens, wie der Buchautor nicht sehr schlau andeutet, auch durch übermäßigen Alkoholgenuß verursacht sein kann! – Diese rein zufällige apoplektische Katastrophe kann weder als Sühne noch als eine eigentliche Lösung betrachtet werden, sondern höchstens als der leider viel zu lange verzögerte Schluß eines ungewöhnlichen langweiligen Theaterabends. –

Herr v. Erlanger hat zu diesem Stücke eine Musik geschrieben, die in ihrer Art zu den größten Merkwürdigkeiten zu zählen ist. Sie ist kompilatorisch von der ersten bis zur letzten Partiturseite und macht den Eindruck eines stellenweise ausgesprochen komisch wirkenden Potpourris. »Lauter gute Tips« wäre eigentlich der richtige Titel für diese wahl- und stillose Ragout aus allen musikalischen Küchen. Leoncavallo, Richard Wagner, Puccini, Gounod, Mascagni, Tosca, Massenet, Smetana, Meyerbeer und – Koschat führen das große Wort in Erlangers Partitur; in sklavisch getreuer Nachahmung spricht Erlanger die Sprache all dieser Meister, ohne uns auch nur ein Wort aus Eigenem zu sagen. Er verwendet weltbekannte deutsche und im Elsaß sehr verbreitete Volkslieder in schwerer Menge, ohne irgendwelche innere Beziehung zu den szenischen Vorgängen und mit stellenweise unfreiwillig-parodistischer Wirkung. Qualvolle Harmoniefolgen und schauderhaft anzuhörende Modulationen wechseln mit melodischen Anläufen ab, die zauberhaft rasch ein jähes Ende finden. Im Orchester quiekt es von gestopften Trompeten und Hörnern und ein schier unerhörter Mißbrauch wird mit solistisch verwendeten Blechbläsern getrieben. Ein unnatürlicher musikalischer Sprechton, dessen Monotonie nur höchst selten durch einen interessanten orchestralen Gegensatz gemildert wird, herrscht auf der Bühne vor, dazu ein immer und immer wiederkehrendes Schellengeklingel, das auch solche Menschen rasend machen könnte, deren Gewissen durch keine Blutschuld bedrückt wird – wahrlich ein nervenzerstörendes musikalisches Treiben! – Zwischen all dem unmusikalischen Wust, den Erlanger in seiner Oper zusammengetragen hat, fehlt es allerdings nicht völlig an Stellen, die etwas Sinn für Melodik verraten; aber da gesellt sich zumeist eine furchtbar gesuchte und gequälte Harmonik hinzu, die jeden freundlicheren Eindruck zunichte macht und bleischwer an dem dürftigen Melodiefädchen lastet. Ein ganz besonders Beispiel für die Unnatürlichkeit der Musik Erlangers ist der Hochzeitschor im zweiten Akt. Schlichte Landleute, simple Bauern stimmen einen Gesang an, der an harmonischer Ueberladenheit und Kompliziertheit im krassesten Gegensatze zu allen Begriffen von rustikalem Erfinden und ländlicher Einfachheit steht. So darf – gegebenenfalls – ein aus Professoren und Lehrerinnen einer musikalischen Hochschule zusammengesetzter Chor singen, niemals aber eine Anzahl gewöhnlicher Bauern!

Das Anerkennenswerteste an Erlangers Oper ist die große kompilatorische Geschicklichkeit, die darin zutage tritt. Es muß geradezu Staunen erregen, daß ein Mensch mit so wenig eigenen künstlerischen Fonds eine so umfangreiche Partitur zustande bringen konnte! Die Behandlung des Orchesters läßt trotz vieler derber Mängel und einiger Verstöße gegen die gute musikalische Sitte eine gewisse Gewandtheit und den Sinn für lebendiges Instrumentalkolorit nicht verkennen. Der Gesamteindruck der Erlangerschen Oper ist aber leider ein ausgesprochen unerfreulicher. Derlei Musik ist klingende Neurasthenie. Es ist sehr bedauerlich, daß auch Erlanger den musikalischen Nervengängern zugezählt werden muß; wir hätten von dieser Spezies auch ohne ihn gerade genug gehabt.

Ueber die zu gewärtigende Ausstattungspracht des »Polnischen Juden« waren schon seit Wochen die unerhörtesten Gerüchte im Umlaufe. Man sprach von einem Schneefall, wie er in solcher Natürlichkeit noch aus keiner Bühne gesehen worden sei. Die Salzbergwerke von Bochnia und Wieliczka sollten förmlich geplündert worden sein, um in der Wiener Hofoper das Glitzern fallender Schneeflocken überzeugend zu veranschaulichen. Man munkelte von neuen Maschinerien, die das Geheul der Windsbraut mit nicht zu überbietender Natürlichkeit imitieren sollten, und nannte die Namen von ungeheuer hochstehenden Persönlichkeiten, die Erlangers Oper bei Herrn Direktor Mahler »durchzusetzen« bemüht gewesen sein sollen. Nun, gar so arg ist es weder mit der Ausstattungspracht, noch mit dem Salzregen, noch mit den Winderzeugungsmaschinen geworden. Herr Roller hat sehr schöne, stimmungsvolle Dekorationen geschaffen, die Gerichtsszene im dritten Akt ist von eindringlicher Realistik und auch der Wind scheint in der Hofoper noch aus dem alten Loch zu blasen. – Jedenfalls kommt er noch immer von – oben. – Es wäre sonst nur schwer erklärlich, daß ein aller Ehren werter Meister wie Karl Goldmark nicht imstande war, eine Aufführung seines »Götz von Berlichingen« bei Herm Mahler durchzusetzen, während sich dem Freiherrn v. Erlanger die Pforten der Wiener Hofoper sperrangelweit öffnen. – – Wenn es aber wahr sein sollte, daß Herr Mahler aus eigenem Antrieb die Oper Erlangers zur Ausführung erworben hat, dann wäre dies ein neuerlicher, aber sehr überflüssiger Beweis dafür, daß ein hochbegabter Musiker noch lange kein tauglicher Theaterdirektor zu sein braucht. Heinrich Reinhardt.
(Neues Wiener Journal vom 5. Oktober 1906)