Feinfühlig bis in das innerste Detail …

Feuilleton.

Das Heimchen am Herd.
Oper in drei Abtheilungen (frei nach Dickens’ gleichnamiger Erzählung) von A. M. Willner.
Musik von Carl Goldmark.
(Zum ersten Male aufgeführt im Neuen deutschen Theater am 18. October 1896.)

Die Berichterstatter, die über die Erstaufführungen dieses neuen Werkes bisher geschrieben hatten, haben auf die Erzählung der Texthandlung gewöhnlich verzichten zu müssen geglaubt. Vielleicht geschah dies aus feinempfundener Rücksicht für das Publikum, dem die Vermuthung einer mangelhaften Belesenheit nicht vorgehalten werden sollte, vielleicht auch der überaus intimen Familienereignisse wegen, welche die Grundlage der Begebenheiten bilden. Warum soll es aber verschwiegen werden, daß der bejahrte Postillon John und dessen schmucke Gattin, Frau Dot, trotz ihres ansehnlichen Altersunterschiedes ein recht glückliches Ehepaar vorstellen; warum will man uns verbergen, daß zu diesem beiderseitigen Glücke, trotz mannigfacher Eifersüchteleien, nur noch die Erfüllung des geheimen Wunsches nach einem kleinen Postillon fehle? Das kluge Heimchen, das am Herde des Paares über den Frieden und die Freuden des Hauses wacht, plauschte doch am Ende Alles in recht indiscreter Weise aus. Ja es geht in seiner Philanthropie sogar so weit, daß es dem in finsterer Eifersucht dahingrübelnden Vater den bereits geborenen Nachfolger sammt Peitsche und Wagen in effigie Nachts im Traume vor die Augen führt, gleichsam aus Vorsicht, um die schädlichen Folgen der Tags darauf erlebten Ueberraschung durch das zarte Gcständniß im voraus zu mildern. Und was das zweite Liebespaar des Abends betrifft – da gibt es schon gar keinen Grund zu besonderer Discretion. Daß einem alten verliebten und reichen Gecken wie Tackleton eine junge liebesbedürftige Braut just vor der Trauung – von einem wiedergefundenen jungen Liebhaber weggeschnappt wird – das ist ein Malheur, das sich auch sonst noch auf Erden ziemlich häufig ereignet. Einen Vorzug hat überhaupt das Hauptmotiv der Dickens’schen Erzählung: es ist in Bezug auf seine Popularität so alt, wie das Menschengeschlecht selbst. Und das will viel sagen im Hinblick auf die Befürchtung, die sonst an die Lebensfähigkeit von Bühnenspielen geknüpft zu werden pflegt; – denn was so lange in der Empfindung des Menschen lebt und noch weiter leben wird, das kann fürwahr nicht so leicht aus der Mode kommen. Faßt man nun die Eignung des Motivs der Erzählung vom Standpunkte der Möglichkeit einer musikalisch-dramatischen Bearbeitung in’s Auge, so kann man über den glücklichen Griff von Textdichter und Autor nicht lange in Ungewißheit bleiben.

Die Musik war seit jeher die verläßlichste Vermittlerin des Unaussprechlichen. Handelt es sich um bloße Schilderung von inneren Seelenvorgängen und Empfindungen, dort reicht ihre Macht weit über die Wirkung des bloßen Wortes hinaus. Vielleicht war dies der Grund, weshalb sich beide Autoren zu ihrem Stoffe gleich mächtig hingezogen gefühlt haben, zumal auch noch das Walten des guten Hausgeistes, der sich ihnen in der Gestalt des Heimchens am Herde offenbarte, eine herrliche Gelegenheit für poetische Illusion, für geheimnißvolle Stimmungsmalerei vermittelte. Daß sich insbesondere Goldmark, der große Meister aller musikalischen Stimmungsmalerei, von dem Banne des ihm entgegengaukelnden Märchenzaubers sofort angeheimelt fühlte, scheint uns leicht begreiflich. Und so mächtig ist dieser Zauber gewesen, daß er einen Pinsel, der bisher nur im Dienste der weltlichen Pracht zu schwelgen gewöhnt war – in die anspruchslose» Grenzen eines idyllischen Familiengemäldes zurückdrängte, in dem sicheren Bewußtsein: auch hier eine Welt von Pracht – allerdings mit ungreifbar vertieftem Hintergründe – erstehen lassen zu können. Und die fleißige Hand des Meisters, die uns in so schillernden Farben die Ueppigkeit des Orients, die Gluth der menschlichen Leidenschaften und die Größe der äußeren Natur zu schildern verstand, sie versagte keineswegs in der Dürftigkeit des sich also selbst zugemessenen bescheidenen Raumes. Trotzdem hat Goldmark in seiner neuen musikalischen Schöpfung keineswegs seine ursprüngliche Natur verändert. Das, was mit ihr geschah, war gleichsam nur die Umkehrung von Innen nach Außen, welche ihre bis dahin noch verborgen gebliebenen Zauber offenbarte. So liebevoll und innig haben wir den Meister zu uns noch nie sprechen gehört; so durch und durch menschlich, mit allen unseren tiefsten Empfindungen auf’s Innerste verwoben, ist er uns noch nicht genaht. Wenn sich der Reiz von gleißend einschmeichelnden Melodien auch nicht aufdringlich dem Ohre offenbart, so möge dies eher für einen Gewinn als für einen Nachtheil hingenommen werden. Dessen ungeachtet athmet die ganze Partitur doch reiches melodisches Empfinden, wenngleich ein solches, das in vornehm künstlerische Formen beständig zurückgedrängt erscheint. Die musikalische Gedankensprache ist kernig, feurig, überzeugend. Es fehlt ihr weder an Milde, noch an Kraft. Ein unaussprechlicher sinnlicher Reiz durchschimmert das Ganze, während scharfe Charakteristik die dramatischen Gegensätze belebt. Eine unabsehbare Fülle der blendendsten Ausdrucksmittel steht dem Autor zu Gebote in seiner glänzenden Instrumentirung jener untastbaren eigenen Offenbarungen seines schöpferischen Geistes, welche seit dem Erscheinen Goldmark’s in der gesammten Musikwelt Schule gemacht haben. Wie erscheint hier Alles so gründlich und wohlüberlegt, wie fleißig durchgearbeitet und abermals nachgeprüft, um des richtigen Maßes der Wirkung völlig sicher sein zu können. Welcher Fleiß und welche Gediegenheit leuchten uns aber erst aus der Verarbeitung der musikalischen Themen, aus der Kühnheit der Modulation, aus der Vornehmheit des harmonischen Baues entgegen! Wenn es einen Mißton gibt, der aus diesem so sorgfältig, mit der Ueberlegenheit eines ergrauten Meisters zusammengefügten Ganzen entgegenklingt, so könnte derselbe nur noch in einem gewissen Schwanken in Bezug auf stylistische Einheit gesucht werden. Der unmittelbare Drang nach packender Volksthümlichkeit scheint den Tondichter zu manchen Gegensätzen verlockt zu haben, die den Pulsschlag verschiedenartigen Blutes verrathen. Diese Abschweifungen sind theils slawischer, theils ungarischer Färbung, eine natürliche Thatsache, welche in der eigenen Nationalität des Meisters ihre Erklärung finden dürfte.

Auf die Einzelheiten der Partitur übergehend muß bei der Fülle hervorragender Momente auf eine erschöpfende Darstellung im Detail verzichtet werden. Nicht unerwähnt darf bleiben, daß gleich das mit mächtigem Schwunge hingeworfene Vorspiel ein glänzendes Bild orchestralen Lebens entfaltet, indem es die menschliche Seite der Handlung mit der bestrickenden Eigenart der herrlich instrumentirten Elfenmusik in geistreiche Verbindung zu bringen weiß. Sie versin[n]licht das rastlose Weben des um das Glück des Ehepaares besorgten Hausgeistes, dessen erstes Auftreten auf der Scene schon einen musikalischen Sieg verkündet. Viel Gemüthstiefe verräth das erste Arioso der Hausfreundin May, in dem sich ein bischen Magyarenblut verräth. Ein frisches Postillonlied des heimkehrenden John packt sofort durch kecken Rhythmus und feine Charakteristik. Eine Summe tiefster Empfindungen spiegelt sich in Eduards erster Scene, die uns mit der heimathlichen Herzensgeschichte dieses Liebhabers vertraut zu machen weiß. Köstlich gearbeitet ist die reizende Chorscene, welche die Briefvertheilung vermittelt und durch deren flottes musikalisches Gewimmel Funken seltenen Erfindungsgeistes und meisterlicher Anordnung sprühen. Feinfühlig bis in das innerste Detail ist der nachfolgende Act ausgeführt, der den intimsten Beziehungen des sich neckenden Ehepaares gewidmet ist. Die reizend coquette Schmuckscene Dot’s bedeutet darin den Gipfelpunkt, während das nachfolgende Quintett, der einzige vollständig durchgearbeitete polyphone Satz der Partitur, ein leuchtendes Motiv unter schwungvoller Stimmführung zum Klangsiege emporführt. – Der dritte Aufzug, der in Bezug auf Lebhaftigkeit und Raschheit seiner Entwicklung den übrigen voransteht, entzückt durch die Behaglichkeit des Humors, welcher die Gestalt Tackleton’s umgibt, um dem nachfolgenden Contraste der schönen Liebesscene zwischen Eduard und May umso wirksameren Vorschub zu leisten. Das Intermezzo des 2. Actes ist eine frische Arbeit, deren flotter Humor sich gegen die Sentimentalität der sonst üblichen Zwischenactsergüsse sehr vortheilhaft abhebt. Ueber die glänzende Aufnahme des Werkes wurde bereits gestern berichtet. Wie oftmal Meister Goldmark mit seinen Künstlern gerufen wurde, ließ sich nicht zählen, das Publicum konnte sich an der abgeklärten Ruhe seiner freundlichen Erscheinung, die mit den Wahnsinnsanfällen hervorgestürmter Autoren so vornehm contrastirte, gar nicht sattjubeln. Die Aufführung der vortrefflichen Oper gehörte zu den besten, die wir an unserer Bühne bisher erlebten. Meister Goldmark selbst erklärte, daß sie mit jedem Hoftheater concurriren könne. Im Vordergrunde des Eindruckes stand Frl. Islar, die mit ihrem Heimchen eine wahrhaft poetische Gestalt schuf. – Aeußerlich schmuck und darstellerisch ebenso feinfühlend als discret erwies sich Frl. v. Ruttersheim in der Partie der Dot, während Frl. Alföldy als May den ganzen Wohllaut ihres süßen Organs zur Geltung brachte. – Herr Elsner sang den Eduard mit der inbrünstigen Wärme seiner schönen Stimmmittel, wobei Empfindung und Kraft des Ausdruckes sich gleiche Wage hielten. Herr Dawison traf das Richtige in Spiel und Ton, um die sympathische Gestalt des glücklichen Gatten in den Vordergrund treten zu lassen, während Herr Sieglitz in vortrefflich grotesker Maske das Bedürfniß des Humors ganz allein aus eigenen Mitteln bestritt. Die Leitung des Herrn Capellmeisters Schalk war musterhaft, das schwungvoll dirigirte höchst populär empfundene Intermezzo mußte wiederholt werden. Für die glänzende Regie und Ausstattung wurden die Herren Ehrl und de Vry durch besondere Hervorrufe geehrt.
Dr. v. B.
(Prager Tagblatt vom 20. Oktober 1896)