… den kühnsten modernen Producten zur Seite stehend

Welch frischer Geist waltet dafür [NB: gegenüber den Gesellschaftsconcerten] in den philharmonischen Concerten! Die Programme fesseln stets auf’s Neue die Besucher, sei es, daß darin Säulen des classischen Repertoires […] sei es, daß prächtige Novitäten in die Welt eingeführt werden. Von den letzteren hat Goldmark’s Ouvertüre zu »Sappho« tiefen Eindruck erzielt. Man kann diesem Werke in dem knappen Raume eines Concertreferates nicht gerecht werden. Den müßigen Streit über die Frage der Programmmusik, der wieder aufflammt, weil ein bisher als »sicher« geltender Mann vom künstlerischen Range Goldmark’s höchst moderne Pfade einschlägt und statt einer einfach »tragischen Ouvertüre« eine Ouvertüre zu »Sappho« schreibt, diesen Streit schafft natürlich auch das jüngste Werk des berühmten Componisten nicht aus der Welt. Man rechtet mit Goldmark, der schon vor vielen Jahren seine »Sakuntala«- und »Penthesilea«-Ouvertüre geschrieben hat, welche allerdings weit weniger als jene zu »Sappho« dem großen Publicum als Programmmusik verständlich werden. Wenigstens ist die Gestalt Sappho’s weit mehr populär zu nennen, als jene der beiden anderen Ouverturen-Frauen. Ich möchte eben nur auf einen Umstand Hinweisen, der für die Frage nicht unwesentlich ist: Goldmark hat eine Ouvertüre zu »Sappho«, also die musikalische Einleitung eines Sappho-Dramas geschrieben; ich glaube, daß da ebenso wenig von reiner Programmmusik z. B. im Sinne von Lißt’s »Tasso« oder »Ideale« die Rede sein kann, wie bei Beethoven’s »Egmont«-Ouvertüre. Im Moment, wo die Musik auch nur mittelbar an das Drama sich anlehnt, sind die ästhetischen Bestimmungspuncte wesentlich andere, als allenfalls bei der symphonischen Dichtung. Der Componist, der die Ouvertüre zu einem Drama schreibt, steht ebenso unter dem Eindrücke desselben, wie der Zuhörer durch die Ouvertüre auf das Kommende vorbereitet werden will. Von diesem Gesichtspuncte aus, der dadurch nicht alterirt werden kann, daß das Werk aus äußeren Gründen im Concert und nicht im Theater erscheint, wird man auch als Gegner der Programmmusik schwerlich etwas gegen die Titelbezeichnung einwenden können.

Was jedoch diesen Erörterungen, mögen sie nun pro oder contra Programmmusik gehen, die Spitze abbricht, ist die wirklich großartige Anlage, der Gedankenreichthum, die blühende Frische des Werkes, das – in seiner Structur und Harmonik den kühnsten modernen Producten zur Seite stehend – einen glänzenden Beweis von der schöpferischen Vollkraft Goldmark’s gibt. Es klingt fast unglaublich, aber es ist wahr, daß Goldmark sogar in der Behandlung des Orchesters absolut Neues geboten und Klangwirkungen hervorgebracht hat, welche selbst nach Berlioz und Wagner originell sind.

Das Werk – von den Philharmonikern glänzend gespielt – rief begeisterten Beifall hervor, den der anwesende Componist mit gewohnter Bescheidenheit auf das Orchester abzulenken versuchte.