Goldmark in Ueberlebensgröße

Ed H. Das dritte Philharmonische Concert begann mit Schubert’s unvollendeter H-moll-Symphonie. Wer hätte sie nicht schon schmerzlich vermißt, die beiden fehlenden Sätze dieses köstlichen Torso! Heute dürfen wir in etwas anderem Sinne froh sein, daß man uns die unvollendete und nicht die neuestens »vollendete« H-moll-Symphonie darbringt. Es hat nämlich ein Herr August Ludwig, der sich gleichzeitig mit musikalischer und literarischer Streberei beschäftigt, die zwei fehlenden Sätze aus Eigenem hinzucomponirt. Ich kenne sie nicht, kenne auch keinen Menschen, der sich rühmen könnte, sie gesehen zu haben. Aber vor mir liegt der gedruckte Prospect, in welchem der kühne Ludovicus Augustus uns die Nothwendigkeit seiner Mission beweist, einem so tiefgefühlten Bedürfnisse abzuhelfen. Er sagt: »Etwas Unvollendetes fordert, zumal wenn es schön ist, Vollendung. Vollenden ist das eigentliche Amt des Tonkünstlers.« Nun also, was braucht es mehr? Haben Mendelssohn, Schumann, Brahms ihres »Amtes« nicht gewaltet, so muß es wol August Ludwig thun. Er ist auch Verfasser mehrerer ergötzlicher Broschüren, die vermuthlich seiner durch Hanns Pudor’s Lorbeern veranlaßten Schlaflosigkeit ihr Dasein verdanken. Um so besser. Wir besitzen nun in der Musik-Literatur zwei Komiker anstatt Einen.

Auf Schubert folgte Goldmark mit einer noch ungedruckten Ouvertüre in Es-moll, betitelt: »Sappho«. Sie beginnt ganz stoff- und zeitgemäß mit einem breit ausgeführten Harfen-Solo. Daß die Harfe gleich mit einem dissonirenden Accord einsetzen werde, dürfte freilich nicht Jedermann vermuthet haben; beginnt doch selbst Smetana’s greiser Harfenist am Wyssehrad, trotz seiner großen Traurigkeit, mit dem reinen Es-dur-Dreiklange. Ein gefühlvolles Andante mit einem dissonirenden Accord anzufangen, ist immer bedenklich – etwa so, als begänne man ein lyrisches Gedicht mit dem Worte »Nichtsdestoweniger«. Ueber den Moll-Accorden der Harfe erhebt sich dann ein Gesangsthema der Oboe. Nach diesen klagenden Triolenfiguren, übermäßigen Quarten und verminderten Sexten zu schließen, dürfte die griechische Dichterin ein Geschwisterkind der »Sakuntala« und auch häufig in Palästina gewesen sein. In die elegische Einleitung stürzt sich mit überraschender Heftigkeit ein Allegro con fuoco. Es erweitert und verstärkt sich zu einem förmlichen Aufruhr, worauf das langsame erste Thema, von einer Solo-Violine vorgetragen, wiederkehrt. Nach abermaligem Aufgebot des stärksten Orchestersturmes endet die Ouvertüre feierlich mit einer Art Apotheose. Die neue Ouvertüre ist echter Goldmark, Goldmark in Ueberlebensgröße; ein Feuermeer von Leidenschaft, ein Urwald von Dissonanzen, mehr geistreich als schön, mehr aufregend als erfreulich, im Ganzen »furchtbar interessant«, wie die Berliner sagen. Die Orchestermittel sind enorm an Zahl und in eifrigster Bewegung. Wie ein verschwenderischer Cavalier macht Goldmark mit jedem Jahre größere Auslagen : drei Flöten, Englisch-Horn, Baßclarinette, drei Trompeten, vier Hörner, vier Posaunen und Contrabaß-Tuba, drei Pauken u. s. w. Kein Wunder, wenn die Composition, auch nur von ihrer sinnfälligen Seite betrachtet, uns maßlos und übertrieben erscheint. Das sind freilich relative Begriffe; Goldmark, in dessen Phantasie sich Alles wie im Hohlspiegel vergrößert, empfindet seine Darstellung ohne Zweifel als natürlich und maßvoll. Um bloßen Effect ist es ihm ja nirgends zu thun; durchaus ehrlicher und gewissenhafter Künstler, malt er die Dinge, wie er sie sieht. Er will dem Hörer niemals Sand in die Augen streuen, liebt es aber, ihn lange Strecken durch heißen Sand zu schleifen. Mächtig packt uns die um Schönheit unbekümmerte Energie, mit welcher Goldmark das Liebesleid der Sappho schildert; ich glaube, es würde diese Musik für drei Sapphos ausreichen und bliebe noch etwas übrig für eine Medea oder eine verlassene Ariadne. Die Ausleger finden da fröhliche Arbeit. Wenn einmal ein Instrumentalstück »Sappho« überschrieben ist, dann fällt es nicht allzu schwer, den Phaon, die Melitta, Sappho’s Eifersucht und ihren Sturz vom leukadischen Fels herauszufinden. Der Scharfsinn der Aus- und Unterleger operirt leicht bei also gebundener Marschroute. Mit ernsten Gründen habe ich oft gegen diese Interpretations-Kunststücke gefochten, welche auf der falschen Voraussetzung einer exacteu Ausdrucksfähigkeit reiner Instrumentalmusik fußen. In scherzhafter Weise hat Niemand sie ergötzlicher widerlegt, als Alexander Moszkowski in seiner Humoreske »Romeo oder Bismarck«. Ein junger Componist sendet an fünf verschiedene Kritiker eine und dieselbe Ouvertüre mit je einem anderen Titel: »Romeo«, »Bismarck«, »Columbus«, »Raskolnikow«, »Prometheus«. Der Scherz gelingt vollständig: jeder der fünf Kritiker erkennt in seiner Ouvertüre nicht blos ein im Allgemeinen gelungenes Porträt des Titelhelden, sondern in den verschiedenen Themen, Modulationen, Absätzen ganz entsprechende Erlebnisse oder Charakterzüge Romeo’s, Bismarck’s, Columbus’ u.s.w. Dieser geistreiche Aufsatz, der eine große Wahrheit in humoristischer Maske ausspricht, steht in »Anton Notenquetschers neuen Humoresken« von Alexander Moszkowski, denen jeder Freund gesunden Humors einige angenehme Stunden verdanken wird. … Darüber wollen wir nicht vergessen, daß Goldmark’s »Sappho« im Philharmonischen Concert ungemein gefallen und dem hochgeschätzten Componisten die Auszeichnung wiederholten Hervorrufs eingetragen hat.