Die Goldmark’sche Muse ist nicht tragisch genug …

Die letzten Wochen des scheidenden Musikjahres brachten noch Vieles und Gutes. Die Philharmoniker haben es lobenswerther Weise in ihrem vorletzten Concerte gewagt, Liszts Dante-Symphonie, und zwar in ganz ausgezeichneter Art, aufzuführen. Dafür wurde ihnen aber auch von ihren zu spät kommenden und zu früh gehenden Abonnenten die unzweideutigste Mißbilligung ausgesprochen. Die Abonnenten der philharmonischen Concerte sind stets (wir wissen nicht, warum) persönlich gereizt, wenn der Name Liszt auf dem Programme steht. Liszt einfach mit Zischen abzuthun, ist eine Bildungslosigkeit, die sich ein großstädtisches Publicum nicht zu Schulden kommen lassen sollte, wohl ein Mittel, um dem philharmonischen blasirten Publicum frischere, naivere und auch verständnißvollere Elemente zuzuführen: die Popularisirung derselben in der Art, wie dies Herr Hof-Musikverleger Gutmann bereits heuer zum Schlusse der Saison mit den beiden letzten Hellmesberger’schen Quartettabenden, auf die wir noch zurückkommen werden, mit bestem Gelingen versucht hat. Die Abonnementspreise der Philharmoniker sind viel zu hoch. Dieselben sollen ganz einfach um die Hälfte ermäßigt werden, und die Anzahl der Concerte kann dann ruhig auf das Doppelte, von acht auf sechzehn, in jeder Saison vermehrt werden. Die Philharmoniker hätten dadurch keinen materiellen Ausfall, dafür aber den Gewinn, künftighin vor einem empfängnißvolleren, herzenswärmeren Publicum zu spielen. — Doch wiederum zu Dante-Liszt. August Wilhelm Ambros, der große Kunst- und Musikgelehrte, zieht sie unbedingt der Berlioz’schen »Symphonie phantastique« vor. Der erste Satz (Inferno) ist – ungeachtet der blasirten Zischer von letzthin – eine gewaltige, tief poetische Orchesterdichtung. Wie großartig klingt das erste, mit schwerem chromatischen Schritt von D nach Dis in die Tiefe absteigende Motiv, wie grandios tragisch das in H-dur über dem Quartsextaccorde, wie ein Triumph der ewigen Verdammniß, einherschreitende Thema, wie schaurig (im Fünfvierteltacte) säuseln die Sechzehntel der Geigen, begleitet von pizzicirten Bässen, die den Accord Cis-Eis-Gis-H-D auf- und absteigend zerlegen, dabei unheimlich belebt von gestopften Hörnern und glissando nach aufwärts rauschenden chromatischen Harfengängen ! Rührend ist die Fis-dur-Episode: Die Schrecknisse der Hölle mildern sich, das unglückliche Liebespaar Paolo und Franccsca da Rimini wandelt uns entgegen, begleitet von den schmachtenden Terzen der beiden Clarinetten, die sich zu der wunderschönen ergreifenden Weise, in Fis-dur von den Geigen so schmerzlich-innig im Siebenvierteltact gesungen, herausgestalten. Weder Berlioz, noch Brahms haben in ihren symphonischen Werken ein Motiv, eine Stelle, welche an Herzenswärme, an romantischem Zauber auch nur annähernd an diese einzige Episode in Liszts großartigem Musikpoem heranreicht. Allerdings – wir geben es zu – der zweite Satz (Purgatorio) ist weit und breit ausgesponnen und dabei thematisch zu dürftig. Er bringt, nach der tragischen Größe und Gewalt des ersten, Erschlaffung anstatt Läuterung, bis uns das edel-schöne »Magnificat«, aufgebaut über das Ritualmotiv des dritten Kirchentones, befreiend in lichte Gefilde emporhebt. In diesem Concerte haben die Philharmoniker unbewußt vergleichende Religions-Philosophie getrieben. Vor dem christlichen Mysterium der »Divina commedia« haben sie den grandiosen hellenischen Mythus vom gefesselten Prometheus ins Programm gesetzt. Liszt hat die Schrecknisse der Hölle, Goldmark in seiner Ouvertüre »zum gefesselten Prometheus des Aeschylos« die Qualen des gefesselten Prometheus musikalisch nachgedichtet. In beiden, dem christlichen Mysterium und dem hellenischen Mythus, ist das musikalisch dankbare Motiv die Qual der Verdammniß, in welche der gegen göttliches Gesetz und göttlichen Willen sich auflehnende Mensch fällt. Hier findet die Musik mit dem Ausdrucke des leidenschaftlichen Schmerzes, dessen nur sie allein in so erschütternder Art fähig und mächtig ist, einen grandiosen Vorwurf.

Die Goldmark’sche Ouvertüre hebt mit großen, bedeutenden Zügen an, die sie aber in ihrem weiteren Verlaufe nicht ganz festhalten kann. Ihr größter Vorzug ist die glänzende, mächtig wirkende Instrumentation; auf diesem Felde ist Goldmark heute unbestritten der erste Meister. An musikalischem Reichthum wird seine Promrtheus-Ouverture entschieden von seiner Frühlings-Ouvertüre überragt. Die Goldmark’sche Muse ist nicht tragisch genug für die Prometheus-Mythe. Ihre schönsten Blüthen entfaltet sie in den berauschenden Liebesnächten in den Gärten Salomonis, in den Gefilden Indiens oder in den festlichen Klängen, unter denen die sagenhafte sabäische Königin in Zion einzieht. Selbst in der Frühlings-Ouverture, die Goldmark wohl zweifellos in dem reizenden Gmunden, seinem Lieblingsaufenthalte, geschrieben hat, blitzt ungeachtet ihrer sonnigen Freundlichkeit hie und da ein fremder, eigenthümlicher Zug auf. Goldmark ist der orientalische Romantiker, auf diesem Felde hat er sich seinen Platz unter den ersten Tondichtern unserer Zeit erobert, hier hat er eine neue, ihm völlig eigene Tonsprache und in derselben seine schönsten und besten Werke geschaffen. Für den »Prometheus« fehlt Goldmark Tragik und wohl auch Einfachheit der Empfindung. Welcher Tondichter unter den lebenden kann überhaupt diesem ungeheuren Mythus beikommen? Sicherlich Keiner. Beethovens »neunte Symphonie«, die ist allerdings voll des prometheischen Mythus; da bäumt es sich himmelanstürmend auf mit unbändigem Trotze im ersten Satze. Aber wer kann es gleich diesem Uebermenschen nachthun? […]