… ein charakteristisches Concertstück
Karl Goldmark’s Prometheus-Ouverture, die zum erstenmal in Wien aufgeführt wurde, hat einen in ihrer Art ebenso starken und günstigen Eindruck auf das Publicum gemacht wie letzthin ihre frühlingsheitere Vorgängerin. Obwol das von Leidenschaft durchwühlte, farbenreiche Werk sich auf die Tragödie des Aeschylos zurückbezieht, wird der Komponist schwerlich daran gedacht haben, seinen musikalischen Prolog vor der tragischen Scene aufzupflanzen. Die Aeschyleischen Dramen sind gegen etwaige Versuche, sie auf das moderne Theater zu bringen, durch die spröde Erhabenheit ihres Wesens hinlänglich gefeit und sichergestellt. Was Goldmark schaffen wollte, war ein charakteristisches Concertstück, das, Dank seines gediegenen allgemein verständlichen symphonischen Inhalts, sich in völliger Unabhängigkeit von der Bühne behaupten kann. Wer die griechische Tragödie kennt, wird vielleicht in dem einleitenden Adagio, das sich über breiten Orgelpunkten auf C und G aufbaut und einem feierlichen Trauermarsch (C-moll) schmelzende Klagen der Holzbläser nachfolgen läßt, das furchtbare Geschick des von Zeus gerichteten Titanen ausgesprochen finden. Die Gottheiten der Kraft und Gewalt haben den gefesselten Prometheus herbeigeschleppt; Hephästos schmiedet ihn mit diamantenen Banden an das öde Felsgeklipp, zur Strafe für seinen Göttertrotz und zum Lohne für seine Menschenliebe. Wie der antike Dichter dadurch, daß er auf Herakles, den einstigen Befreier des Prometheus, gleich anfangs hinweist, einen Schimmer der Versöhnung über die grauenvolle Scene verbreitet, so eröffnet auch der moderne Musiker in seiner Introduction die Aussicht in eine bessere Zukunft. Das Hauptthcma des Allegros mit seinem starrsinnigen Trotz und seiner leidenschaftlichen Heftigkeit eignet sich sehr wohl zur Charakteristik des unbeugsamen Japetiden: wir glauben die herausfordernden Klagen, den wilden Jammer des Helden zu vernehmen. Aber was bedeutet jener von Oboë und Clarinette intonirte helle G=dur=Gesang, welcher den angenehm contrastirenden Seitensatz der Ouvertüre bildet? »Sanft säuselt die Luft zu der Fittige leicht hinrauschendem Schwung« – vom Meere her, welches den Felsen umspielt, schweben die silberfüßigen Töchter des Okeanos herbei und vermischen ihr Lied mit den Ausrufungen des befreundeten Dulders. Goldmark hat die bestrickendsten Klänge seines Orchesters aufgeboten, um den Chor der Meermädchen glänzend auszustatten. Bei der Wiederholung gesellt sich eine Solovioline den wogenden Melodienfluthen zu, als priese die liebliche Stimme der Chorführerin das beglückte Los Derer, die den Geist auffrischen in sonniger Lust und, von Hoffnungen gewiegt, ruhig dahinleben. Noch einmal kehrt das erste Thema zurück, ein tobendes Fortissimo des Orchesters meldet die Vollziehung des von Hermes verkündigten neuen Strafgerichtes an: Prometheus wird in den Tartaros gestürzt. Aber nach der Katastrophe beruhigt sich der Sturm der Gefühle, der tragische Donner verhallt in leisen Schlägen und mit dem C=dur=Dreiklang durchbricht die Sonne das schwarze Gewölk.
Bedarf Goldmark’s Ouvertüre, wie gesagt, keiner Erläuterung, um auf die Phantasie des Zuhörers einzuwirken, und kann der Componist es letzterer getrost überlassen, ob sie die musikalischen Vorgänge mit poetischen Bildern illustriren will oder nicht, so bleibt dagegen Liszt’s Symphonie zu Dante’s Divina commedia ohne beigedruckte Gebrauchsanweisung vollkommen unverständlich […]