Der Ritter lauscht im Schatten der Bäume …

Karl Goldmark ist keiner von den modernen musikalischen Vielschreibern, welche den Markt Jahr um Jahr mit leichter Waare beschicken und bei dem massenhaften Verbrauch unserer öffentlichen Concert-Institute immer auf gute Geschäfte rechnen dürfen. Eine ebenso vornehme wie bescheidene und zurückhaltende Künstlernatur, öffnet er die spröden Lippen nur, wenn die innere Stimme ihn antreibt, zu verkünden, zu singen und zu sagen, was in ihm lebt. Jedes seiner Werke stellt eine Summe von Studien und Erfahrungen dar, mit welcher ihr Urheber Zeugniß ablegt von dem Geist und der Richtung seines künstlerischen Strebens, und jedes bezeichnet im Verhältniß zu früheren Werken einen bemerkenswerthen Fortschritt, der sich ohne ernste Sammlung und strenge Arbeit nicht erklären läßt. Daher ist Goldmark zwar im Zusammenhange seiner Production stets Derselbe, scheint aber in jedem neuen Werk ein Anderer zu sein. Die langen Generalpauscn seines Schaffens sind kein Zeichen von Ermüdung oder Verdrossenheit, sondern bedeuten die nothwendige Zeit einer im Stillen thätigen Vorbereitung, die nur auf den gegebenen Augenblick wartet, um mit dem Tutti aufgesparter und vereinigter Kräfte fröhlich loszubrechen. Wer sich also daraus gefaßt gemacht hatte, in Goldmark’s Es-dur-Symphonie so etwas wie eine zweite vermehrte und verbesserte Auflage seiner »Ländlichen Hochzeit« zu empfangen, wird überrascht gewesen sein, als er ganz andere Dinge zu hören bekam, die mit gefälligen und unterhaltenden Orchestersuite nicht das Geringste gemein haben. Das Publicum liebt im Allgemeinen solche Ueberraschungen nicht. Aber es befand sich bei der ersten Aufführung der neuen Symphonie (im sechsten Philharmonischen Concert) in einer willigen und empfänglichen Sonntagsstimmung und bereitete dem Componisten die verdienten Ehren. Er wurde nach dem ersten, dritten und vierten Satze mehreremale hervorgerufen, und es fehlte nicht viel, so hätte das »Allegro quasi presto« wiederholt werden müssen.

Goldmark’s zweite Symphonie ist in Wahrheit seine erste. Denn an Stelle des ehemaligen, in engeren Formen sich bewegenden Idylls erscheint ein größer angelegtes Epos, und die breitere Form setzt den ihr entsprechenden reicheren Inhalt voraus. Welches oder welcher Art ist un der Inhalt der Es-dur-Symphonie? Steht ein Held an ihrer Spitze, um zu kämpfen, zu leiden und zu siegen, ein Halbgott des Streites, der im Geiste des Componisten vom Eroberer und Bezwinger der Völker zum idealen Befreier der Menschheit emporwächst? Nein. Der Erwählte Goldmark’s gilt uns für einen beschaulichen Charakter; sein Reich ist der Friede, und er besitzt gerade so viel Thatkraft, um sein Ererbtes oder auch Erworbenes ungeschmälert zu behaupten. Andere vor ihm haben das Land seiner Väter erobert, er aber hat es nur durchackert und angebaut und freut sich an bevorzugter Stelle seines gesicherten Gutes. Ohne Mühe und Anfechtung ist es dabei nicht abgegangen, aber diese Beschwerden sind das Salz seiner Freude gewesen und haben den Werth seiner Errungenschaft gesteigert.

Von dem erhöhten Standpunkt aus, welchen der Componist der Symphonie einnimmt, erschließen sich seinem Blicke weitere Perspectiven; die persönlichen Erlebnisse, auf welche er zurücksieht, dehnen sich zum Gefühl der Allgemeinheit aus und interessiren uns mehr als die Darstellung irgend eines bestimmten äußeren Vorganges. Das Allegro (dreiviertel=Tact) beginnt verheißungsvoll wie ein heiterer Frühlingstag. Seiner aus der absteigenden, thematisch bedeutsamen Quart Es-B sich entwickelnden anmuthigen Melodie entsprechen ungefähr die Worte: »Des Lebens Pulse schlagen frisch lebendig«. Leider nur geräth dieser frische Pulsschlag zuweilen ins Stocken, und der Componist muß sich, wo ihm das organische Wachsthum abgeschnitten wird, mit künstlichen Bindegliedern behelfen. Ein ideenreicher Kopf, ein feurig empfindendes Herz, dem hölzerne Arme und Beine das Fortkommen erschweren. Dem Hauptsatz antwortet ein den Violoncellen zugetheiltes, auf Quinten und Sexten schaukelndes Thema in B-dur, das sowol der Structur nach wie auch in der synkopirten Begleitung seiner Instrumentalstimme auf die analoge Violoncellstelle in Schuberts H-moll-Symphonie zurückweist. Der erste Theil bringt zwar eine Wiederholung des Hauptthemas, geht ober gleich darauf in die Durchführung über, die den Mangel an scharf einschneidenden Contrasten und natürlicher thematischer Entwicklung mit gehäuften Instrumental-Effecten zu verdecken sucht. Sehr reizend ist das aus dem Grundgedanken des Satzes herausgesponnene polyphone Gewebe des Streichquartetts, welches uns in eine fremde Welt des Traumes zu entrücken scheint. In dem forcirten Presto der Coda declarirt sich der Operncomponist; auch in der Folge tritt dieser bedenkliche Doppelgänger dem Bruder Symphoniker nicht immer förderlich in den Weg. Das zwischen Bläserchor und Streichquartett bestehende kühle Verhältniß, welches mehr auf gegenseitiger Hochachtung als auf inniger Kameradschaft beruht und den Verkehr durch häufige Pausen unterbricht, mag wol ebenfalls in dem innern Zwiespalt des Componisten seinen Ursprung haben. Wie dem auch sei, das Allegro der Symphonie ist ein gedankenreiches, ansprechendes Tonstück und unter den vier Sätzen des Werkes ohne Zweifel beiweitem der werthvollste. Das Andante (As-moll) beschwört einen Conflict herauf, dem wir völlig rathlos gegenüberstehen. Seine mit nach Saba gewendetem Angesicht auftretende, schwermüthige Melodie geht in ein declamatorisches Pathos über, das in leidenschaftlichen Zornausbrüchen vergebens nach dem erlösenden Worte stammelt. Es klingt, als seien der Dramatiker und der Symphoniker in einen grimmigen Disput gerathen und machten einander mit Trompeten und Posaunen das Leben sauer. Da loben wir uns den romantischen Irrwischtanz, welchen das Scherzo (E-dur) bringt: ein Meisterstück der Instrumentirungskunst nach Berlioz’schem Muster! Gedämpfte Violinen führen den gespenstischen Neigen mit einer unruhigen Sechsachtel=Figur an, von leisen Stößen der Bläser und Pizzicatotönen begleitet; Flöten und Oboen folgen ihnen mit chromatischem Kichern und Seufzen, und der Triangel schlägt klingelnd den Tact dazu. Das braut und nebelt, rollt und webt, leuchtet und blitzt wie auf einer mondbeglänzten sumpfigen Lichtung im Walde, über welcher die Elfen beim Scheine der Glühwürmchen tanzen. Der Ritter lauscht im Schatten der Bäume und bläst in sein silbernes Hifthorn. Ach, das silberne Hifthorn ist nur eine messingene Trompete, und sein schmelzendes Lied ein altväterisches Trompeterstücklein, das keines der leichtfüßigen Luftgebilde bethören wird, sondern naturgemäß einen zweiten Trompeter anlockt – »lebwohl Merlin«! Das kurze Finale schlägt nach einer harmonisch grübelnden, gemüthsbedrückenden Einleitung, welche die düstersten Ahnungen wachruft, glücklicherweise ein gesundes Tempo und kräftigere Töne an. Dadurch, daß der Componist sich den Vierviertel=Tact bis zu dem alla breve dieses Schlußallegros aufgespart hat – alles Uebrige wird vom dreitheiligen Rhythmus beherrscht – erzielt er die beste Wirkung. Die Themen des Finales sind, ohne größere Ansprüche zu machen, gefällig und geben zu allerlei, nicht immer erfreulichen contrapunktischen Verwicklungen die willkommene Veranlassung, um endlich in eine opernmäßige Stretta auszulaufen. Dem Lobe, welches das Philharmonische Orchester unter Herrn Richter’s ausgezeichneter Direction mit der Aufführung des Werkes sich verdient hat, reihen wir dasjenige des Herrn Reinhold Hummer an, der das Violoncellsolo in Volkmann’s D-moll-Serenade mit markiger Kraft und außerordentlicher Zartheit des Tones zum Vortrag brachte. (Max Kalbeck)