… er sieht, dass er nichts mehr sieht

»Merlin.«
Operndichtung in drei Acten von Siegfried Lipiner.
Musik von Carl Goldmark.
(Erste Aufführung am 19. November 1886)

I. Die Dichtung.

Merlin, eine Sagengestalt, die als Seher, Barde und Zauberer vom Norden aus abenteuernd die Literatur aller Länder durchstreifte, hat den Weg zur Opernbühne erst durch einen modernen Barden, Siegfried Lipiner, gefunden. Wir durften wol erwarten, dass der Dichter des entfesselten Prometheus den Stoff des Merlin bei der knorrigen Wurzel packen und uns eine gewaltige musikalische Tragödie, ein finsteres dramatisches Gegenstück zum Parcival schaffen würde; wie man Immermann’s »Merlin« auch eine »verkehrte Messiade« genannt hat. Dort Parcival, der in seiner Reinheit den Gral erwirbt und die Menschheit erlöst – hier Merlin, der sich vergebens rühmt: »Dem Gral schaff ich die echten Hüter!« Er verfehlt dieses höchste Ziel, weil er irdischer Versuchung nicht widerstehen kann. Als Sohn des Satan und der heiligen Jungfrau zu einem dämonischen Widerspiel des Gottessohnes geworden, verkörpert Merlin den allergrimmigsten Widerspruch. Was bedeutet der innere Kampf eines Faust gegenüber dem titanischen Ringen Merlin’s? Ein Product des Lichtes und der Finsterniss, des Geistes und des Fleisches, fühlt Merlin wol das wilde Satansblut in den Adern, gibt aber selbst noch an der Schwelle des Verderbens das für den Satanssohn aussichtslose Ringen nach dem reinen Lichte der Göttlichkeit nicht auf. Diese niederschmetternde Tragik findet in Immermann’s »Merlin« erschütternden Ausdruck; Satanas hält dem Merlin einen grausigen Spiegel vor, da er ihm höhnend zuruft:

Aber das bleibt haften
Gross, unbeugsam, stier;
Sie wollen zu ihm und sind bei mir!

Lipiner hat sich für die dramatische Gestaltung dieses von dem Wesen Merlin’s unzertrennlichen, tiefen Grundgedankens zu schwach erwiesen. Er hat viele Züge, die er in den Sagen, bei Immermann und namentlich in dem französischen Roman des Robert de Borron gefunden, vereinigt und eine Zauberoper geschaffen, in welcher eitler Flitter die Gedanken theils verbirgt, theils tödtet. Die Verwandlung tritt an Stelle der Handlung, und alle möglichen Geister müssen den Geist ersetzen. Wer den Merlin der Sage und in der Gestalt, wie ihn Immermann gebildet, bewundert hat, wird ihn in der Oper Lipiner’s kaum wiedererkennen. Er ist da von Beginn der Oper an ein elender Spielball dämonischer Mächte … Ein Bild der Dichtung Lipiner’s wird dies erweisen.

Merlin, Hofseher und Hofbarde des Königs Artus – »Vergangenes, Künftiges ist ihm bewusst« – verhilft diesem christlichen König durch seine Seherkraft und seine engen Beziehungen mit den Mächten der Hölle zum Siege über die Heiden. »Die Hölle zwingt er zu des Himmels Werke.« Das erbittert einmal seinen höllischen Knecht, den Dämon . Dieser weiss jedoch dem Satanssohne, der in der Hölle natürlich Protection geniesst, nicht beizukommen. Er holt sich Rath bei der »allwissenden« Fee Morgana , die nun zur Hebeamme der Handlung in der ganzen Oper wird. Ganz ohne zwingenden Grund plaudert sie, nach misslungenen Anläufen zum Schweigen, mit feenhafter Schwatzsucht, aber mit dem Ausdruck des Bedauerns für Merlin, dem Dämon das Geheimniss aus, dass Merlin durch die sündige Liebe zu einem Weibe seine Seherkraft verlieren wird. Ein Weib wird ihn blenden, und dann verklingt auch seiner Harfe Zauberspiel.

Der Dämon triumphirt: »Das schönste Weib, ich sah’s, ich lock’ es her.« Er meint das bedenklich lästige und jagdfreudige »Fräulein von der Quelle«, welches dann wirklich, »Hirschlein« suchend, in mehr als verführerischem Jagdgewand mit voreiligem Hallali in den Kreis des gesammten königlichen Hofstaats hüpft und Merlin in einem begeisterten Siegesgesang unterbricht. Das Fräulein, im Volke Viviane genannt, macht dem Barden sofort glühende Liebeserklärungen, die sie mit der in solchen Fällen erprobten Bemerkung, dass sie ihn eigentlich schon lange kenne, einleitet. Da der Seher sich des Fräuleins absolut nicht zu erinnern weiss, so erscheint ihre Aussage wenig glaubhaft. Merlin lässt sich – sonst so allwissend – vom Ritter Lanzelot schnell über Viviane nähere Auskunft geben, findet sie bald wunderschön und geräth so in die Falle. Zu spät geht ihm dann wieder sein Seherlicht auf, aber er sieht, dass er nichts mehr sieht.

»Kettengeklirr – o schreckliche Macht –
Ich sehe nichts mehr – welch tiefe Nacht!«

Auch die Harfe, die er schnell probirt, will nicht tönen. Nach einigen unwesentlichen Spässen mit einem Ruhmeskranz, den Artus schliesslich dem Merlin aufsetzt, und nachdem Merlin, scheinbar zu Vernunft gelangt, die Viviane wieder verstösst, fällt der Vorhang über dem ersten Act.

Die über die Massen ungeschickte Exposition erweckt unzählige Bedenken. Die Theatermaschine, welche sonst höchstens am Schlusse den Knoten zerhaut, hat Lipiner gleich zu Beginn der Handlung auffahren lassen. Die Fee Morgana, welcher jede organische Verbindung mit den handelnden Personen mangelt, führt durch ihre Schwatzhaftigkeit allein die Bestrafung Merlin’s herbei, lähmt aber durch ihre Weissagung auch jedes dramatische Interesse. In dieser Preisgebung des Geheimnisses an den Dämon liegt eigentlich schon die Strafe für Merlin, und wir suchen vergebens nach einer Schuld, welche dieser Strafe zu Grunde liegen soll. Vom rein menschlichen Standpunkte – und Lipiner schreibt doch nicht für Höllenbewohner – ist in den Diensten Merlin’s für den christlichen König nicht die geringste Schuld zu finden, so sehr auch der höllische Dämon dagegen eifern mag … Es ist selbstverständlich, dass dieser Merlin, der als gotterleuchteter Seher sich ohne besonderen Seelenkampf in das erste beste, im wahrsten Sinne hergelaufene »Fräulein« verliebt, unsere Theilnahme kaum verdient. Nicht dass der Seher liebt, bedrückt uns; sondern dass er sich von diesem Quellenfräulein so blitzschnell, durch die verführerische Erscheinung geblendet, fesseln lässt. Auch wird man das peinliche Gefühl nicht los, dass eben der Dämon dieses unheimliche Strohfeuer sinnlicher Liebe entfachte. Aber jedenfalls ist die Theilnahme für Merlin ganz ertödtet, nachdem er seine Seherkraft – wie nicht anders zu erwarten – durch sein unwürdiges Vorgehen verloren hat. Die Exposition der Handlung bedeutet also schon ihr Ende. Der Held der Oper ist in den beiden folgenden Acten nicht mehr als ein gehetztes Wild, nicht einmal mehr Edelwild.

Felsengegend im zweiten und dritten Akt

Der zweite Act bringt uns in dramatischer Beziehung thatsächlich keinen Schritt weiter. Er ist eine lange Bestätigung und Wiederholung des Bekannten. Merlin beweist durch eine sehr lächerliche Scene, dass er das Gedankenlesen, welches dem König Artus früher die Verschwörer verrieth, wirklich nicht mehr zu Stande bringe und seine Seherkraft verloren habe. Es folgt die Erneuerung der Bekanntschaft Merlin’s mit Viviane in allzu intimer Weise und eine zweite Auflage seiner Strafe. Viviane geräth nämlich in Merlin’s Zaubergarten, erlaubt sich mit Hilfe des Dämons daselbst allerlei Indiscretionen mit Merlin’s Zauberapparaten, und entfesselt das Corps de ballet durch unvorsichtige Handhabung eines Zauberschleiers. Merlin hält mit Viviane ein langwieriges, dramatisch wenig motivirtes Zwiegespräch, welches der Dichter dem grossen Duett in Tristan nachgebildet hat. In ihrem Liebesgirren stört sie kaum eine Rotte Krieger, welche Merlin vergebens zu Hilfe rufen. Der Seher ist so kurzsichtig geworden, dass er der Viviane verräth, wie sie ihn durch den Schleier für ewig fesseln könne Da Merlin endlich doch seiner Pflichten für den König sich zu erinnern scheint und angeblich fortstürmt, gebraucht Viviane den Zauberschleier »nach Vorschrift«, und mit einem Donnerschlag wird Merlin, so schnell die Theaterarbeiter es vermögen, in eine öde Felsengegend gezaubert, wo er mit glühenden Ketten an einem Felsen angeschmiedet erscheint. Teuflisches Lachen des Dämon. Viviane stürzt entsetzt zu Boden. Der Vorhang fällt zum zweiten Male, eigentlich unter denselben Verhältnissen wie im ersten Acte, denn Merlin ist eben noch einmal bestraft.

Und wieder könnte die Oper zu Ende sein, zumal auch die Quellen von weiteren Schicksalen Merlin’s nach seiner Verbannung und Fesselung nichts berichten. Der Dichter bereitet aber neue Ueberraschungen. Die erprobte Maschine Morgana hilft den Faden weiter spinnen, und Viviane tritt in den Vordergrund, nachdem Merlin endlich völlig abgewirthschaftet hat. Wir begreifen nicht, was Lipiner veranlasste, die in seiner Oper ohnehin entkräftete Merlin-Sage durch eine eigenthümliche Lösung gänzlich zu verdünnen. Lipiner hat im dritten Acte zu »Merlin« gleichsam einen »zweiten Theil« gedichtet, dem sein Versöhnungsministerium Morgana auf die Beine helfen soll. Die gütigste aller Feen erscheint der verzweifelten Viviane im Traume, bedauert das Vorgefallene und gebraucht die schlechte Ausrede, dass der Dämon sie im ersten Acte zur Botschaft »zwang«. Da Viviane sich selbst die Schuld an dem Unheil zuschreibt, tröstet sie Morgana mit den verheissungsvollen Worten:

Liebe, stärker als der Tod,
Wird des Unheils Mächte zwingen –
Liebe, stärker als der Tod,
Wird in tiefster Herzensnoth
Ew’ges Heil dem Freunde bringen

Mit einem Male hat also die Oper gänzlich umgeschlagen. Wie Gounod’s Faustoper eigentlich eine »Margarethe« wurde, so zerschellt hier die gewaltige Merlin-Sage an den Klippen dramatischer Hilflosigkeit, und Viviane wird zum heilbringenden Rettungsboot, über dem man das Wrack Merlin zu vergessen hat.

Wenn nur der Dichter nicht auch diesen letzten Act durch die geschäftige Morgana hätte aus dem Schoosse seiner Phantasie heben lassen. Braucht denn das Publicum die Verkündigung eines Scenariums? Man sehe, wie lose auch die dramatischen Fäden des angeschobenen letzten Actes geknüpft sind. Der gefesselte Merlin wird von den Rittern des Königs, die merkwürdigerweise den Seher in dem Öden Felsgeklüft zu finden wissen, wieder einmal zur Rettung einer halbverlorenen Schlacht geholt. Der Dämon lässt Merlin frei, weil dieser sich der Hölle ergibt. Doch wir fürchten nicht für Merlin. Denn hinter dem Possenspiel lugen die Verheissungen der weisen Frau hervor. Merlin fällt zwar in der Schlacht – er geht bei dem ersten Actschluss als Seher, bei dem zweiten als untauglicher Seher und bei dem dritten als gefesselter Geliebter im Ganzen also dreimal, zu Grunde – Viviane aber erinnert sich ihres Traumgesichts und stösst sich an der Bahre -Merlin’s unter den Flüchen des betrogenen Dämon den Dolch in die Brust. »Zum Frieden leite sie hinan, o Liebe die du obgesiegt« singt der Chor, und das Publicum kann beruhigt auseinander gehen – est [!] ist Alles gerettet. Die Liebelei des Merlin und der Viviane wird erst am Schlusse der Oper nach dem Recepte der Morgana endlich durch seelische Regungen gehoben. Wie diese Liebe sich im ersten Acte anlässt, möchte Niemand glauben, dass sie einmal »obsiegen« werde.

Ueber das eigenthümlich verschrobene Machtverhältniss der drei zauberischen Gewalten Merlin, Dämon und Morgana wird man sich vergebens zu orientiren suchen. Sie führen sich gegenseitig an, ohne durch innere dramatische Motive dazu berechtigt zu sein. Uebrigens muss auch die Zauberei ihre Logik haben, die wir gänzlich vermissen, wenn im dritten Acte nicht nur Merlin, sondern auch die zufällig anwesenden Artus-Ritter in Merlin’s Zaubergarten versetzt werden, wo sie sogar vor ihm anlangen. Das sind doch Menschen wie wir. Die müssen gehen, nicht fliegen. Aber in dieser Oper wird eben das warme Interesse für menschliches Handeln und Fühlen jeden Augenblick durch einen dämonischen Machtspruch kalt gestellt. Wir leben nicht wie in den Wagner’schen Dramen in einer einträchtigen Atmosphäre. Wir glauben wegen der inneren Wahrheit an den Schwan des Lohengrin, würden uns aber höchlichst verwundern, wenn er auch ein paar Ritter aus König Heinrichs Gefolge mit sich nehmen wollte … Ueber die ästhetischen Fehler in »Merlin« liesse sich ein ganzes Buch schreiben. Schade, dass auch die Musik, wie wir später zeigen wollen, durch das sprunghafte Fortstossen der Handlung in ihrem ruhigen Flusse gestört wird. Goldmark konnte sich diesmal nicht treu bleiben, weil ihm der Dichter nicht treu geblieben ist, und so fehlt auch der Musik in »Merlin« jener consequente Einklang der Stimmung, den wir in der »Königin von Saba« zu bewundern hatten.

Es ist der grösste Vorwurf für die Dichtung Lipiner’s, wenn wir nur sagen können, dass sie namentlich bezüglich der Diction besser ist als viele andere Opemtexte. Wir hatten von dem philosophisch gebildeten, talentvollen Lipiner Anderes erwartet und wollen gerne gestehen, dass wir unsere Anforderungen ihm gegenüber vielleicht zu hoch gespannt haben. Aber wir geben lieber den »Merlin« preis als das Vertrauen auf die reiche Begabung dieses Dichters. Vielleicht war es nur eine üble Laune des Poeten, dass er den gewaltigen Sagenstoff des »Merlin« nicht nach dem Musterbild des dramatischen Lehrmeisters Wagner vertieft und verdichtet, sondern leider verflacht hat.
Dr. Robert Hirschfeld.

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Die Oper fand gestern bei dem Publicum eine sehr warme Aufnahme. Der Componist wurde nach jedem Actschluss mehrere Male gerufen. Die Musik, überall bedeutend, aber nirgends feurig und frei auf strebend, wühlt nur in Sinnlichkeit, die unter der Asche lodert. Die einzelnen Gesangspartien sind bestens bedacht. Winkelmann als Merlin war der Held des Abends. Frau Materna glänzte, wo sie nicht neckisch sein musste. Reichenberg als Dämon war vortrefflich in Haltung. Gesang und Maske. Frau Kau1ich sang so schön, dass sie uns immer zu schnell entschwand. Herr Horwitz entwickelte wieder seinen heiligen Eifer, der auf uns jedoch stets komisch wirkt. Herr Sommer stattete den Theater-König Artus wenigstens mit reicher Stimme aus. Die Frauenchöre standen an Reinheit und Präcision hinter den Männerchören zurück. Vorzüglich bewältigte das Orchester unter der sicheren Leitung Jahn’s seine schwierige Aufgabe. Die Decorationen und Verwandlungen unterstützten den Dichter bestens, und jeder Einzelne trug eifrig zum Gelingen des Abends bei. Ob der lärmende Erfolg der Oper ein ganz echter war, muss die Zukunft lehren. Die Musik, welche wir noch eingehend kritisch würdigen wollen, hat uns lebhaft interessirt. ohne zu begeistern. r. h.