Frische und Liebenswürdigkeit

Allgemeine musikalische Zeitung in ihrem sechsten Heft des Jahres 1877 andeutet. Demnach wurde am »Donnerstag den 25. Januar […] das Concert zum Besten des Orchesterpensionsfonds im Saale des Gewandhauses abgehalten. Wir hörten in demselben zum ersten Male hier: Ouvertüre zu »Gudrun« von Oskar Bol[c]k, ›Ländliche Hochzeit‹ in fünf Sätzen von Carl Goldmark und ›Walkyrenritt‹ aus dem Musikdrama ›Die Nibelungen‹ von Rich. Wagner. Von allen neuen grösseren Orchesterwerken, die uns im Laufe dieses Winters vorgeführt wurden, hat, mit Ausnahme der Brahms’schen Symphonie, kaum eines einen so günstigen Eindruck gemacht wie das Goldmark’sche; es ist in demselben Alles so geistig ausgereift und dabei so fein, reizvoll und charakteristisch, wie in wenig neuen Tonschöpfungen. Das Werk kam unter des Componisten eigener Leitung sehr präcis zur Darstellung und schlug bei dem Publikum entschieden durch. Auch Bolks’s Ouvertüre berührte infolge ihrer gut erfundenen und geschickt aneinandergefügten Einzelheiten recht angenehm.«

Der Leipziger Korrespondent des Musikalischen Wochenblattes überrascht in der Ausgabe vom 2. Februar 1877 mit einer Bemerkung, die in keiner andern mir bislang vorliegenden Rezension vorkommt (und deshalb in dem beigefügten Text hervorgehoben wurde). Die positive Resonanz steht auch hier außer Frage und wird überdies durch Elisabet von Herzogenberg bestätigt, die ihrem »Brieffreunde« Johannes Brahms am 29. Januar launig berichtet: »Die Goldmarksche Ländlichkeit zog freundlich an uns vorüber, beim Publikum sprach sie sehr an. Bei der Gartenszene wurde mir sehr schwül, bei der Posaunenstelle himmelangst … Die Szene war auf dem Programm fälschlich ›Brautlied‹ genannt, aber kein Mensch wunderte sich darüber, und die Kritik besprach sie als solches! Goldmark war ganz zufrieden mit seinem hiesigen Erfolg, was uns so freute; man muß dem Menschen gut sein.«

Den Empfänger des Schreibens wird’s gefreut haben, und das desto mehr, als er kurz vor seinem Kollegen selbst in Leipzig einen nahezu vollständigen Sieg errungen hatte:

• Die beiden letzten Wochen waren für Leipzigs Musikleben von anregendstem Verlauf, indem zwei der bedeutendsten Tonsetzer der Gegenwart, Johannes Brahms und Carl Goldmark, ihre neuesten Orchesterwerke im Gewandhaus persönlich zur Aufführung brachten. Ersterer feierte hier einen Triumph, wie ein solcher in den Annalen der Gewandhausconcerte zu den grössten Seltenheiten gehört. Bis auf Einzelne, in deren trockenem Gehirn der Samen des Verständnisses für die Grossthaten unserer Zeit ewig nicht aufgehen wird, und welche die compositorischen Leistungen der Neueren mit ihrer verrosteten Beckmesser-Elle messen, empfanden Alle minder oder mehr, dass der musikalischen Production unserer Zeit mit Brahms’ Symphonie ein bleibendes Denkmal gesetzt wurde. Wir haben den Eindruck, den uns das Werk nach zweimaligem Hören hinterliess, an dem ber. Concertabend nur bestätigt gefunden und wüssten auch heute keine Composition dieser Gattung nach Beethoven zu nennen, welche sich in Bezug auf Macht und Tiefe der Empfindung wie Meisterschaft der Ausführung mit der Brahms’schen Symphonie messen könnte, so hoch wir auch beispielsweise Rob. Schumann in dieser Richtung halten. – Für Goldmark’s »Ländliche Hochzeit« war es günstig, dass diesem Werke von vornherein ein bescheideneres Ziel gesetzt wurde. Die Tonsätze, welche Goldmark in dem Rahmen seines ländlichen Bildes bietet, riefen kraft ihrer Frische und Liebenswürdigkeit durchweg allgemeinstes Entzücken hervor, sodass man bez. des Debüts des Gastes in den classischen Räumen des Gewandhauses ohne Weiteres einen glänzenden Sieg constatiren darf. Während Brahms von Leipzig aus nach Breslau reiste, um auch dort die mittlerweile erfolgte und ebenfalls günstigst verlaufene Aufführung seiner Symphonie persönlich zu leiten, begab sich Goldmark über Dresden* nach Wien zurück. (Musikalisches Wochenblatt vom 2. Februar 1877, Seite 11)

* In Dresden soll, wie der einschlägigen Presse zu entnehmen ist, Goldmark geradezu »sensationell« gewesen sein.