Die Königin von Saba (II)

Goldmark hat sich in seiner »Königin von Saba « weit entschiedener, lebensfülliger, naturgetreuer, urwüchsiger – möchte ich sagen – denn in irgend einer diesem Opus vorangegangenen That seines musikschaffenden und gestaltenden Geistes in das specifische, seinem Gesammt- und Sonderwesen eigentlich angestammte und anerzogene Element eingelebt. Jenes musikalisch hebräisirende Wesen ist nämlich in der Partitur der »Königin von Saba« zum Range eines wo nicht ausschließlich herrschenden, doch wenigstens bei jeder der Anwendung desselben offenstehenden Gelegenheit selbstständig durchbrechenden lebengebenden Factors der soeben genannten Opernmusikthat emporgeschwungen und festgestellt worden.

Anlangend Goldmark’s Art der Zeichnung und Ausprägung aller in dem von ihm zu musikalischem Beleuchtungszwecke auserkorenen Mosenthal’schen Operntextbuche vorkommenden Einzelngestalten aber ist streng wahrheitsgemäß zu bekennen und der mit geläutertem Feingefühl, Scharf- und Tiefblick enggepaarten Begabung der erstgenannten Tonsetzernatur unbedingt einzuräumen, daß Goldmark’s auf entschieden Wagner’scher Grundlage gereifter Sinn selbige Gestalten aus der bloßen Puppen- und leeren, verschwommenen Typenform befreit hat.

Nach Goldmark’s musikalischer Auslegung und Ausprägung ist denn – um das Personenregister dieses Opernstoffes flüchtig durchzugehen – die vornehmste Trägerin, der Anfangs- und Endpol, die Achse dieser »Handlung«, nämlich die »Königin von Saba« in der That jene Ortrud rediviva oder antecedens, als welche der Mythos sie hinstellt. Sie bleibt diesem »in ihr lebend entwickelten Dämon«, diesen »Selbst«, dem zu entfliehen unmöglich, vom Beginne bis zum Schlusse treu. Sulamith hingegen ruft nun in All und Jedem, das sich auf die tönendverkörperte Ausgestaltung ihres Geist- und Seelenwesens bezieht, jenem Zeichnerwurfe gemäß, den ihr Goldmark’s tonlich ausdeutender Musiklogos von erster bis zur Schlußscene ihres Auftretens angedeihen ließ, schrittweise immer wieder erneuerte Senta-Elisabeth-Elsa-Isolde oder Eva-Rückerinnerungen ebenso lebendig wach, als ihr auf anderer Seite wieder das ganz aus sich selbst, d. h. auf den Stützen einer alttestamentarisch-hebräischen Typengestalt Gestelltein durchaus widerredelos einzuräumen ist. In ganz gleichen Sinne tönen aus König Salomo’s und aus des Hohenpriesters asketischen Klängen ebenso sprechend analoge als verselbstständigte, vom Schwunge eines ursprünglich reichen und durch vielfaches Beobachten und Combiniren hochemporgereiften Eigenselbsts gestützte, getragene und vor jedem Verkommen im Nachbildnernetze streng be- und gewahrte Mahnungen und Beziehungen auf die Kerngestalten eines »König Heinrich« oder eines »Landgrafen«, also wieder auf specifisch Wagner’sche Typen, entgegen. Assad steht ferner nach Seite aller musikalischen Offenbarungsarten seines erotisch gefärbten Schwärmer und Träumerlebens in einem gar nicht so fernen Bezuge zu einem Erik, Tannhäuser, Lohengrin, Tristan oder Walther Stolzing. Gleichwohl kann und darf hingegen auch hier logisch und psychologisch gerechterweise wohl nur von einem ganz eigenem Selbstschöpferdrange überlieferten Hingeben an vorausgegangene Machteindrücke mit eben demselben Rechte gesprochen werden. Auch Baal-Hanan nimmt bei Goldmark – nicht bei Mosenthal – jene ganz ehrenfeste Stellung ein, die – ungefähr mit ähnlicher Tonfärbung – etwa einem ».Heerrufer«, ja, vielleicht sogar einem Telramund bei Wagner eingeräumt ist. Auch er zeigt und bekennt die ganze Partitur hindurch, so oft diese ihn zu beschäftigen Anlaß nimmt, die sogleich bei seinem ersten Auftreten sich kundgebende Farbe oder Prägung eines auf eigenen Geistesstützen ruhenden Selbstes, und wahrt seine Stellung bis zu seinem in erster Scene des letzten Aufzuges gesprochenen inhaltsschweren und musikalisch ebenso erschütternd illustrirten Schlußausrufe: »Tod!« Auch Astaroth ist, derjenigen Art nach, in der sie der Tondichter hingestellt hat, keine leere Staffagengestalt. Auch aus ihrem Sklavenblute strömt Geist und Gemüth, und wäre es auch nur der oder das einer unbedingten Liebe und Hingabe an ihre Herrin und Königin, für welche Regung Goldmark der analogen Klänge fürwahr nicht wenige gefunden hat. –

Das in engster Bedeutung des Wortes ariose Element ist im Laufe der ganzen Opernpartitur Goldmark’s vollständig umgangen worden. Wie genau der Componist durch dieses Absehen von solcher Form den auf musikdramatisches Gestalten hingewandten innersten Kern unseres Zeitwillens getroffen, liegt klar am Tage. Alles in dieser Oper vorkommende Homophone, seinem engsten Wort- und Begriffssinne nach erfaßt, ist entweder – nach dem Vorgange R. Wagner’s – recitativisch deklamirend, oder aber als ganz freier Erguß einer musikalisch liedhaft waltenden und gestaltenden Psyche durch Goldmark hingestellt worden.

Vom Duette ab bis hinauf zur höchsten Spitze polyphoner Denk- und Satzart, also bis zum orchestrirten Chore, finden in diesem, musikdramatischen Werke Goldmarks alle von altersher bis in die jüngste Zeit landläufigen und zugkräftigen Formen des mehrstimmigen Satzes ihre ganz gewiegten Sinnes voll eingenommene Stelle. Und eben diese vom Zwiegesange bis zum bald ein- bald mehrfach gegliederten Chore emporklimmenden polyphonen Einzelnpartien bilden denn auch den eigentlichen, Glanz- und Schwerpunkt des ganzen Werkes. Ich möchte den musikalischen Gehalt dieser mehr- und vielstimmigen Partien des Goldmark’schen Opernwerkes nach Seite ihrer rein orchestralen Färbung und Geltung sogar auf diejenige Höhe stellen, daß ich mir dieselben in gar manchen, ja in den meisten Fällen ganz selbstständig, also völlig unabhängig vom gesanglichen Theile, wirkungsvoll und eindruckssicher dargestellt denken könnte. Eben dieselbe Berechtigung möchte ich – wenigstens der Hauptsache nach – dem mehrstimmig vocal gehaltenen Theile dieser Opernpartitur zuerkennen. Gleichwohl erweisen sich aber auch wieder beide Elemente einander der Art fügsam und so strenglogisch durch die vom Textbuche ihnen unterlegte Situation bedingt, daß mir – im vollständigen Gegenhalte zu dem eben unmittelbar Vorangestellten – ihre von einander getrennte Betrachtung und Würdigung als ein ebenso logisch musikalischer Un- und Widersinn, wie als ein gründliches Verkennen ihres wesentlich dramatisch-musikalischen Bedeutens erschiene. –

Es kann und darf durchaus nicht der Zweck dieses Aufsatzes sein, eine 332 Folioseiten umfassende enggedruckte Partitur Stelle für Stelle zu zergliedern. Ebenso unstatthaft wäre – freilich aus ganz anderem Grunde – ein derartiges an solchem todtgebornen Texte, wie es der Mosenthal’sche, geübtes Verfahren. Haben doch beide künstlerische Vorlagen schon längst die Runde durch alle irgend bedeutenden Bühnen deutscher Erde gemacht!* Es hat daher die nach gewisser Richtung hin durchaus nicht zu unterschätzende allgemeine Weltstimme, oder – richtiger und würdiger vielleicht mit den vielsagenden Worten des gewiegtesten Denkers neuester Tage ausgedrückt – der »objective Weltgeist« – schon längst seinen Richterspruch gefällt sowohl über die Mosenthal’sche Halbheit oder Niete, als über die durchweg als gewandt und geistvoll, stellenweise sogar als urwüchsig und bahnbrechensfähig hinzustellende That Goldmark’s. Selbst kein Freund lange und spät nachhinkender Boten, setze ich denn eine ähnlichgeartete Abneigung wohl auch nicht so folgeunrichtig bei den Lesern d. Bl. voraus, denen eine Darlegung der allgemeinen Gesichtspunkte, von welchen Goldmark dieses jüngste Werk seiner Muse schaffend, ausgegangen, und die ich in Vorstehendem zu geben bemüht gewesen, vielleicht am Meisten genügen oder zum Mindesten ihnen geringere Langeweile verhängen dürfte, denn eine post festum angerückt kommende Einzelnbetrachtung über ein längst in deutsches Volkvollblut gedrungenes Kunstwerk. –

*War, bisher wenigstens, vielmehr leider noch nicht der Fall. (D.R.)