Das Streichquintett op. 9 (Fortsetzung 1)

Da das gewiß schon ein Jahrzehnt alte Quintett Op. 9 m. W. bis jetzt nach keiner Seite eingehend gewürdigt und auch sehr selten zur Aufführung gekommen ist, fühle ich mich zu noch weiterer Betrachtung desselben gedrängt. Nachdem der bereits in der vorigen Nummer S. 445 &c. mitgetheilte erste Hauptgedanke in sattsamer Breite und Fülle ausgetönt, taucht ein Seitensatz zugleich milderer, ruhig-pathetischer Färbung als spannendes Gegenbild aus, und zwar um so nachdruckskräftiger, da derselbe im weiteren Tonstücksverfolge nicht blos als Zwischensatz, sondern als nothwendig integrirendes Moment des ganzen nun folgenden Tonstückes hervortritt.

Das nun sich Bahn ebnende eigentliche zweite Hauptthema dieses Eingangssatzes fesselt weit mehr durch das ihm eigene stramme Rhythmengepräge als durch seinen Melodieninhalt. Denn Anfangs tritt es lediglich fanfarenartig, oder nach Art eines sogenannten »Hornganges« auf und entpuppt sich erst um Vieles später zu einer aus sich selbst heraussingenden Tongestalt.

Erst nach dieser Stelle tritt es wieder – und zwar zuvörderst in die ungleich fülligere Phase des Quartettstyls, oder besser: der vierstimmigen Schreibart und läßt in der oberen Violoncellstimme ein durch sich selbst sprechendes Melisma vernehmen.

Nun übernimmt die erste Geige das Fortspinnen des gesanglichen Fadens. Breite, Kraft und vielsagende Stimmungsfülle eines fast schrittweise sich stachelnden Pathos läßt sich ohne Frage dieser hier angewandten Art des thematischen Entwickelns zuerkennen. Ja: sie wäre sogar eine der klappendsten Steigerungen des in Rede stehenden Tongebildes, machte sich im Gebiete der übrigen diesen Melos stützenden Organe nicht eine beträchtlich herabstimmende Leere des rein homophonen, zur kernigen Rede der Hauptstimmenführerin lediglich nur ein müssiges »Ja« sagenden, oder besser: lallenden Wesens bemerkbar. Man war bisher solche Trägheit von Goldmark, dem ebenso streng-logisch vorgehenden als schwungvollen Gedankengestaltens tiefkundigen Tonschöpfer, nicht gewöhnt. Ruhepunkte haben allerdings ihre Berechtigung; zumal in solchen Gebilden, als deren Psyche drangvolles Pathos sich kundgiebt, wie eben hier. Allein, es darf ein solches se laisser aller der Stimmenbewegung und Führung nur episodisch flüchtig in einem mehrstimmigen Tonwerke sich geltend machen; nicht aber, wie eben wieder an bemerkter Stelle, durch eine so lange Reihe von Takten, ja Perioden, festgehalten werden. Denn hier gilt es ja immer noch, durch die Exposition der später durch alle mögliche Art der Knotenschürzungskunst zu entwickelnden Gedanken den Hörer in regsamster Spannung zu erhalten. Ein solches Verfahren aber, das Goldmark hier (Seite 7, System 1, Schlußtakt der Partitur) zur Anwendung bringt, und selbem bis Seite 8, System 2, Takt 4 – also durch 27 Takte – eigensinnig treu bleibt, würde etwa der Weiterspinnungsepoche des sogenannten Wiederholungssatzes nicht wenig zu Statten gekommen sein, nimmermehr aber dein Momente der Stoffes-Exposition.

Fährt nun gleich der Componist auch im weiteren Verfolge seiner gedankenandeutenden Rede noch durch längere Zeit im Umklammern des wesentlich homophonen Gestaltungsprincips fort, so trägt er doch im Weiteren für das Einflechten mancher spannenderen Ausschreitung Sorge. Für die Wahrheit dieses Ausspruches giebt u. A. jene schwungvolle Art ein sattsam beredtes Zeugniß, mit der er dem von der zweiten Geige in anderer Tonart wiederholten zweiten Thema in erster Violine eine von bisherigem unabhängige breite Cantilene in Halbennoten-Schritte bei beigesellt, dieselbe Gesangsstelle nun, um eine Octave erniedrigt, von der zweiten Geige in gleichem Rhythmenschema secundiren läßt und unter diesen beiden Stimmen im ersten Violoncell einen Contrapunct rhythmisch bewegteren, im zweiten Vlcell aber eine Gegenstimme getragenen Charakters redend einführt; während die Bratsche sich theils begleitend, theils in rascherem Achtelnotenschritte figurirend, zu ihren Genossen stellt. Der Leser findet diesen breit ausgeführten, daher an dieser Stelle nicht so leicht erschöpfend mittheilbaren, schlagend wirksamen Passus auf Seite 3, System 2, Takt 4, von wo ab er sich bis Seite 9, System 2, Takt 4 der Partitur erstreckt. Aecht letztbeethovenartig wirkt ferner die kanonartige Motivdurchführung.

Nun taucht ein neues, also drittes selbstständiges Thema voll Innigkeit und melodischen Schmelzes auf, das vornehmlich deshalb schwer in die Waagschale fällt, weil selbes wie sich bald zeigen dürfte – als ein hochwichtiges Moment des eigentlichen Durchführungssatzes sich feststellen wird.

Mit einigen kurzen Strichen wird nun bald hieraus der erste Satztheil auf der Oberdominante der Haupttonart (E) abgeschlossen.

Der Durchführungssatz hebt mit einem kanonisch geformten Zertheilungsexperimente des Hauptthemas an, das ich wohl nicht mit Unrecht als einen vom Geiste der letzten Schöpfungsepoche Beethoven’s erfüllten, daher bedeutsamen Zug des ganzen Quintettes bezeichnet habe. Was aber im ersten Satzestheile nur episodisch angedeutet war, wächst nun zu gesättigt breiter Ausführung an und drängt eine Steigerung an die andere. Auf solche Art wird dann ein beinahe dramatisch zu nennender Lebenszug in das schon seiner ersten Anlage nach so schwunghaft ausgestattete Tongemälde verpflanzt.

Unläugbar liegt in der nun folgenden Themawendung manches lebhaft Spannende. Was aber die zu jenem an sich schönen und contrapunctischen Entwickeln ganz auserlesen zugänglichen Thema gesellte, dem zweiten Violoncell anvertraute Gegenstimme und deren Führung betrifft, so kann ich nicht umhin, selbe als bedenklich hart und holprig, theilweise auch als leerklingend gründlich zu vernehmen. Zur ersterwähnten Classe, also zu den empfindlichen Härten und holprigen oder stolpernden Tonschritten rechne ich z. B. die Stellung des A der zweiten zum gleichzeitig ertönenden H der ersten Violoncellstimme; ebenso jene des tiefen E unter den Linien (zweites Vlcell) zu dem gleichzeitig in der oberen Vcellstimme anklingenden Dis auf dritter Hauptlinie. Zur zweiten Reihe, also zu den bedenklich leer klingenden Fortschreitungen zählen aber für meine Ueberzeugung jene chromatisch abwärts schreitenden Terzengänge in den beiden Violoncellstimmen. Auch in der nun sich bahnbrechenden dreistimmigen Führung des mit diesem a tre vollkommen abgeschlossenen und wieder in freiere Gestaltungsformen sich umstellenden Fugato holpert und stolpert der Stimmengang nicht wenig.

Statt der vierten Wiederholungsstimme taucht nun in dem zu solchem Ende streng genommen berufen gewesenen Organe, der zweiten Geige nämlich, ein freies Melisma auf, das, dem Schumann’schen Geiste fein nachgefühlt, dem Componisten sattsam reichen Stoff zu spannenden Wendungen mannichfacher Art, wie auch zum Austönen ebenso vielverzweigter Seelenstimmungen hätte darbieten können. Ich meine hiermit das speciell einem der herrlichsten Schlußsatzthemen der Cdursymphonie Schumann’s sprechend verwandte und in letzter Richtung sogar auf einen der ergreifendsten Momente des Beethoven’schen »Liederkreises an die Entfernte unschwer zurückführbare, schöne, vielsagende Melisma:

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Leider war es dem sonst so frisch in das Zeug dringenden Gestaltungssinne des Componisten nicht vergönnt, aus diesem ungemein glücklich angelegten Neustoffe auch wirklich Spannendes zu bilden. Die Art, in der er hier gebracht wird, ähnelt in allen mit selbem unternommenen Schritten weit mehr einer bloßen Andeutung, als einer strengorganischen Entwicklung. Die ganze Episodenstelle krankt bedenklich an Stimmenführungs- wie an Stimmungs- und Charakterleere. Sie macht in All’ und Jedem den Eindruck eines bloßen Anlaufes, einer Episode in dieses Begriffes und Wortes mißliebigstem Sinne. Sie ist nichts mehr denn ein bloßes Füllsel. Auch der später wieder aufgegriffenen Verwerthung jenes seiner ersten sogenannten Durchführungsart nach schon früher besprochenen Fugatogedankens geht es um nicht Vieles besser; ebenso dessen taktweiser Verquickung mit dem kurz zuvor erwähnten Schumann-Beethoven’schen Wiederhalle. Es kommt zu keinem Vollergusse des doch so glücklich, ja geistvoll Angedeuteten, weder nach formellem, noch nach geistig-seelischem Anbetrachte. Erst nach langem Hin- und Herirren rafft sich das Tongemälde wieder zu kernigem Schwunge auf.

Aus dem Wiederholungssatze selbst möchte ich vor Allem eine durch 62 Takte hindurchgeschleppte Kette von rosalienhaften, das Gedankenleben des sonst so schönen Ganzen in keinem Bezüge fördernden, sondern es im Gegentheile empfindlich störenden Redensarten hinweggetilgt wünschen. Es hielte nun freilich in solchem Weglassungsfalle etwas schwer, die Brücke von Gmoll, der Anfangstonart dieser in Rede stehenden Stelle, zum Dominantendreiklange von Adur, mit welchem Accorde diese lange müssige Periode endlich abschließt, zu finden, und vielleicht aus diese Art einer irgendwie musiklogischen Wiedereinführung des zweiten Hauptthemas, früher in Gdur aufgetaucht, jetzt aber in Adur neuerdings erscheinend, die Stelle zu räumen. Allein am Ende hätte ein Genius von der Begabung Goldmark’s denn doch vielleicht einen kürzeren und ergiebigeren Weg gefunden, um zu eben bemerktem Ziele zu gelangen. Er hätte dies letztere auch dann erreicht, wäre er einfach jenem Verfahren streng getreu geblieben, das er, den ersten Satztheil seines Quintettes schaffend, befolgt hatte. Dieses Verfahren bestand darin, beide Themen nach einander Revue passiren zu lassen. Es hätte da nur einiger gedrängter Striche und etwa einer ebenso knapp gehaltenen modulatorischen Umstellung des beide Themen theils trennenden, theils verbindenden Seiten- oder Zwischensatzes bedurft. Allein eben das im ersten Satztheile so glücklich angelegte und so schlagend wirksam seiner Ausmündung zugeführte Seitenthema ist es, welches Goldmark aus unerklärbaren Gründen so abspannend breittritt. Er bildet solchergestalt aus einem blos nebensächlichen Momente ein Hauptagens des Ganzen. Gegen eine Formumgestaltung, beziehungsweise Formerweiterung solcher Art wäre im Allgemeinen kein irgendwie giltiger Einwand zu machen. Diesen Fall indeß angenommen, müßte aber das Ganze auch gedanklich weiter gehen; nicht aber, wie hier, blos modulatorisch und figurativ immer weiter geschoben werden, ideell aber vollständig stagniren. Man prüfe zur Controle dieses abfälligen Urtheils die auf Seite 22, letztes System anhebende und erst mit dem 8. Takte des 3. Systems der 24. Partiturseite ihrem Abschlusse zugeführte Stelle.

Selbst die im Verlause dieser langgestreckten Periode sich zu Zeiten wirkungsvoll, ja in hohem Grade geistreich geltend machende Benutzung der Enharmonik (siehe z. B. S. 28, System 2 die nicht wenig spannende Führung des der ersten Geige überantworteten gesanglichen Wesens) vermag deshalb durchaus nicht schadlos zu halten für den Abgang all und jeder ächt polyphonen Schreibart, weil alle übrigen Organe zu diesem von der ersten Geige unternommenen ohne Frage höchst klangreizvollen Wechselspiele melodischer Intervalle unter einander lediglich unselbständig stützend, nur begleitend, also durchaus nicht aus ihnen selbst Hervorgegangenes uns sagend, sich verhalten. Erst später (S. 29, System 2 bis etwa zum Schlusse der 30. Partiturseite) wird theils durch Vermittlung der die reingesangliche an innerer Regsamkeit hoch überflügelnden contrapunctischen Stimmenführung, theils wieder durch Anwendung einer sich bahnbrechenden strammen, ich möchte sagen: einer tonplastischen Rhythmik, wie endlich durch Zuhilfenahme einer Schlag aus Schlag wechselvollen Harmonik neuerdings frisches Leben in das Tongemälde verpflanzt. Von diesem Kerngeiste beseelt, strömt der Satz – einen einzigen Rückfall in das homophone Redensartenthum abgerechnet ,S. 30, Schlußtact bis Seite 31, letztes System, Takt 6, muthig dahin bis zu seinem vollkommenen Abschlusse und hinterläßt sonach einen wenigstens in der Hauptsache zündenden Eindruck. –

(Fortsetzung folgt)