VI. Metrische Hypothesen

Derweil sich die Stimmen des Opus 5 nach & nach in die Partitur fügten und die Phrasierungsbögen ihre vorgeschriebenen Positionen einnahmen, wollte sich mir eine Eigentümlichkeit zeigen, von der die einschlägige Forschung zwar seit langem spricht, die aber vornehmlich  an Juons späteren Werken festgemacht wird: die metrischen Reihen, die nach durch berechtiger Auffassung die variablen Metren Boris Blachers vorwegnehmen und die Thomas Badrutt häufig zum Gegenstand sprachrhythmischer Demonstrationen machte. Die Inkongruenz zwischen Taktstrichen und freiem Metrum wurde im Laufe der Jahre gewiß offensichtlicher; feststellbar ist sie jedoch schon früh, und unter Umständen nicht einmal auf Juons eigenem Acker gewachsen, sondern »nur« die individuelle Folgerung aus einer heute vergessenen Gewohnheit. Ich berufe mich da auf die Theorien des armenisch-amerikanischen Cellisten und Lehrers Diran Alexanian (1881-1954), der bei Friedrich Grützmacher studierte und eines Tages, als er die e-moll-Sonate von Johannes Brahms durchspielte, von kompetentester Seite korrigiert wurde – vom Komponisten selbst, der von ihm in den Takten 219 und 220 des ersten Satzes eine Phrasierung verlangte, die unserer landläufigen Ansicht völlig widerspricht:

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Alexanian ließ sich das eine Lehre sein, der er sich im Laufe seiner pädagogischen Tätigkeit mit großer Aufmerksamkeit widmete: die unorthodoxe Phrasierung, die zeitweilige Ablösung von den ehernen Gewichtsverteilungen innerhalb der Takte zum Zwecke einer ungewöhnlichen Balance zwischen Harmonik und Melodik, die Bildung instrumentaler Silben (!) – sollten das am Ende die Relikte einer ehedem stillschweigenden, weil selbstverständlichen Übereinkunft gewesen sein? Oder besser: ein konservatorischer Versuch, diese Art der linearen Anschauung, die für Brahms & Co. noch alltäglich war, für die Zukunft zu konservieren? Und wären Juons rhythmisch-metrische Eigentümlichkeiten bloß eine der Konsequenzen, die kreative Geister aus dieser historischen Gewohnheit gezogen haben? Warum zum Beispiel sollte das erste, hübsch geradtaktig notierte Thema im Kopfsatz des Opus 5 nicht so aussehen, wie es hier als Hypothese eingerichtet ist:

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