IV. Zwischen Intimität und Keilerei …
Doch soll die Klappe vorerst ruhig offen bleiben, damit wir bei der analytischen Beschau der vier Streichquartette (über) die Bauklötze staunen können, die in Juons Partituren generell eine außergewöhnliche Rolle spielen. Wer’s nicht glaubt, der sei auf die schon mehrfach erwähnten Litaniae op. 70 für Klaviertrio verwiesen, zu deren Konstruktionsprinzip Claus-Christian Schuster schrieb, daß »alle Themen […] aus knapp einer Handvoll archetypischer Kleinmotive gewonnen und auf komplizierte Weise miteinander verknüpft« sind. Dem Mutigen wäre ferner eine Reise nach Jotunheim empfohlen, in das »rauhe nordische Bergland«, wo die »Frost- und Reifriesen« daheim sind: Wie da, in den Tiefen des höchsten norwegischen Gebirges, Zweie von Fafners und Fasolts Art aufeinander eindreschen, sich die Gesteinsbrocken gegenseitig um die Ohren hauen, mit ihren ungehobelten Pratzen polternde Dreiklangsrückungen, wüste Cluster und klirrende Sechzehntelketten im dreifachen forte exekutieren, das allgemeine Dröhnen noch durch »starkes Hämmern« bis zur Unerträglichkeit steigern, dann aber (»welch eine schöne Prügelei war diese«) im Mittelteil ein liebreizendes Menuett versuchen – das ist von einer derartigen Radikalität, daß wir ernsthaft über eine neue Definition des Begriffes »Ton=Dichtung« nachdenken und zugleich voller Antheilnahme überlegen sollten, was denn wohl eher da war: das Ballet mécanique oder Jotunheimen.
Schreckhafteren Gemütern, die künstlerische Eigenarten eher in poetischen Miniaturen finden möchten, sei die oben angesprochene Sammlung Den Kindern zu Lauschen ans Herz gelegt, die Robert Lienau 1907 in Berlin herausbrachte. Darin gibt es neben mehreren kleinen Märchen und Stimmungsbildchen drei Stücke, die Paul Juon ausdrücklich als Steinbaukasten überschrieben hat. Die Bauwerke – eine Burg, eine Villa und ein Dom – bestehen aus zwei Fughetten und einer Doppelfuge (»mit zwei Türmen«) und sind aus den sieben »Steinen« errichtet, die vor dem ersten Sätzchen abgedruckt wurden.
Ihr wörtliches Auftreten und ihre Ableitungen werden nachher im musikalischen Verlauf sorgsam markiert – und gleich geht einem die Phantasie schon wieder durch: Weil Juon die Inhalte des Heftes immer auf den 22. März datierte und das abschließende Wiegenliedchen (»an einer wirklichen Wiegen zu spielen«) aus dem Jahre 1903 stammt, liegt die Vermutung nahe, daß es sich um »progressive« Gaben für den kleinen Ralf handelte, der dann an seinem vierten Geburtstag (1907) die Fugenkiste auspacken durfte.
Vom Baumeister selbst dürfen wir nichts erwarten. Er hielt sich, was seine Musik betraf, grundsätzlich bedeckt: »Meine Werke zu charakterisieren geziemt mir eigentlich nicht. Nur ganz kurz kann ich sagen, dass sie fast durchweg ziemlich herb und von düsterem nordischem Kolorit sind. Bekanntlich sind die Eindrücke, die man in der Jugend empfängt, die stärksten, darum sind hauptsächlich Einflüsse der russischen Volksmusik (die ich, übrigens, sehr liebe) in meinen Werken vertreten«, schrieb er 1923 an Ernst Schweri, den Musikdirektor von Chur, der sich hoffentlich durch diese bescheidene Simplifizierung ebensowenig hat von der persönlichen Inspektion der Werke hat abbringen lassen wie der Musikwissenschaftler und -pädagoge Eberhard Preußner (1899-1964), der 1926 in der Allgemeinen Musikzeitung Berlin erkannte: »Juons Musik ist ganz und gar nicht leicht eingehend. Für sie kann man mit Recht Busonis treffende Worte geltend machen: ›Denn das weiß das Publikum nicht und mag es nicht wissen, daß, um ein Kunstwerk zu empfangen, die halbe Arbeit an demselben vom Empfänger selbst verrichtet werden muß.‹ Diese Arbeit ist gerade bei Juons Musik nicht leicht. Denn sie ist im allgemeinen weder rein sinnlich ansprechend noch in ihrem eigentlichen Wert beim ersten Hören erfaßbar […], sondern formell so durchgearbeitet, daß ein untätiges Publikum die Größe der Form nicht begreifen kann.«