Neue Freie Presse vom 18. Mai 1930
Karl Goldmark
Zur Feier des 100. Geburtstages.
In Ungarn geboren, starb er in Wien, wo er volle siebzig von den ihm gegönnten fünfundachtzig Jahren wirkte. Den kleinen Mann mit den ehrwürdigen weißen Locken und mit dem scharfen, stets suchenden Blick hat bis zum Kriege hier jeder gekannt Und jeder wußte auch, daß dieser Mann einer von den ganz Großen war. Wenn trotzdem andere lauter gepriesen wurden, lärmendere Anhänger und Gemeinden fanden, so erklärt sich Goldmarks stillerer Ruhm zunächst aus der übergroßen Bescheidenheit seines Wesens. Und sein dem nur zu oft auf kaltem Wege erzeugten Wirbel des Tagesstreites längst entrücktes Werk war bloß noch als kostbarer und sicherer Besitz zu hüten.
Goldmarks Weltruhm datiert von der ersten Ausführung der »Königin von Saba«. Mit den magischen Klängen dieses Werkes erklomm er den höchsten ihm erreichbarcn Gipfel der Kunst; mit vierzehn Jahren war er, das achtzehnte von den einundzwanzig Kindern unbemittelter Eltern, von Keszthely nach Wien gewandert, um bei Jansa und Böhm Violine, bei Gottfried Preyer am Konservatorium Theorie zu studieren. Den Lebensunterhalt zu verdienen, nahm er eine Stelle im Orchester des Carl-Theaters an und quälte sich in seiner freien Zeit mit Klavierunterricht. Als Pianist Autodidakt, gab er dennoch Klavierstunden. Unter seinen Schülern war die nachmalige Kammersängerin Karoline Gomperz-Bettelheim die bedeutendste. Ihr gastliches Haus wurde dem armen Musiker, der im Sturm und Drang unbezähmbaren Kompositionsbedürfnisses Abend für Abend im Orchester sitzen und Hanswurstiaden und Couplets begleiten mußte, in Wahrheit ein Refugium. Karoline Bettelheim war es auch, die den verehrten Lehrer mit einem Trio und einer Suite als Komponist in die Oeffentlichkeit einführte. Ein Streichquartett in B erregte dann Aufsehen, und mit der berühmten Triole der »Sakuntala«-Ouvertüre kündigte sich die noch berühmtere der »Königin von Saba« an. An dieser Oper hat Goldmark volle zehn Jahre (nach einer anderen Version »bloß« sieben Jahre) gearbeitet. Immer wieder fand er etwas zu feilen, abzuändern. Dieses ewige Retouchieren an fertigen Werken ist charakteristisch für Goldmarks ferneres Schaffen geblieben, hat Otto Dessoff, der die »dissonanzenreiche« Saba-Ouvertüre in einem Philharmonischen Konzert vorführte, in einem Briefe an Anton Door zu der ironischen Fragestellung veranlaßt: »Sagen Sie, unter uns! Ist Goldmarks Oper wirklich fertig? Ganz fertig? Hat er nicht wenigstens ein Stück Ballett oder dergleichen nachzuliefern? Oder den Schlußakkord neu zu instrumentieren ? Und wie viele b sind in der Ouvertüre vorgezeichnet?« Als die »Königin von Saba« wirklich fertig war, begannen, trotzdem sich die Kapellmeister Herbeck und Dessoff für Goldmark einsetzten, dic Schwierigkeiten, die Oper auch zur Aufführung zu bringen. In der Wiener Hofoper, die damals noch ein mit kaiserlichen Mitteln dotiertes Institut war, schreckte man vor den Inszenierungskosten zurück, im Auslande mögen später auch die technischen Schwierigkeiten der Partitur (sie gilt selbst im Zeitalter Richard Strauß’ als heikel) zahlreichere[n] Aufführungen im Wege gestanden sein. In seiner Not wandte sich Goldmark an Hanslick. Das an den berühmten Kritiker gerichtete Schreiben ist zum ewigen Dokument allgemeinen Komponistenelends geworden. »Mir ist das große Unglück geschehen«, heißt es darin, »eine Oper zu komponieren … Die ganze Tiefe eines solchen Unglücks kann nur der ermessen, der eine solche Oper aufzuführen beabsichtigt. Und ich bin in diesem traurigen Fall; darum rufe ich zu Ihnen.« Die Premiere fand mit den Damen Wilt, Materna und Siegstädt, mit den Herren Walter, Rokitansky und Beck am 10. März 1875 statt, also in dem bedeutsamen Theaterjahre, in welchem auch die »Widerspenstige« von Götz und »Carmen« in Wien herauskamen. Ueber die Aufnahme, die das Werk fand, hat erst unlängst in einem lesenswerten Aufsatz Hofrat Ludwig Karpath berichtet, der in Goldmarkschen Belangen gewiß ein einwandfreier Zeuge ist, trotzdem oder weil er, der gründliche Kenner und beredte Anwalt Bayreuths, nicht unverwandt zu Karl Goldmark aufblickt.
In Merlins »Zaubergarten« bannte Goldmark den größten Magier der Oper – Richard Wagner –, um sich dann für immer von ihm zu scheiden. Hermann Winkelmann, der beste Wiener Assad vor dem stimmgewaltigen Leo Slezak, kreierte die Tenorpartie in »Merlin«, dessen neue Bearbeitung, merkwürdig genug, niemals erprobt wurde. Dominierte hier neben volkstümlich schlichten Gesängen noch das Pathos der Wagner-Phrase, so überraschte Goldmark schon in seinem dritten Bühnenwerk mit einem lyrisch-idyllischen Stoff. Nach dem auf das anmutigste zirpenden »Heimchen am Herd« schlug die »Kriegsgefangene« beinahe Glucksche Töne an, und die kleine Spannung zwischen Goldmark und dem Operntheater, hervorgerufen durch die Ablehnung des »Götz von Berlichingen« (dem Weingartner dann die Pforten öffnete), schwand schnell nach der freundlichen Aufnahme, die das «Wintermärchen« fand. Die Rechte der Gesangsmelodie in der Oper sind unantastbar, sie gehen aller Orchesterpolyphonie voran. So dekretierte Goldmark und so durfte – im Gegensatz zu jenen, denen niemals eine wirkliche Melodie, ein lebensfähiges Themia eingefallen ist – ein Meister der Instrumentation sprechen, der neben einer Fülle gewaltig aufrauschender und in echter Volkstümlichkeit lächelnder Opernmusik Assads erschütternden »letzten Gruß«, das Violinkonzert, die Sakuntala-Ouvertüre, die »Ländliche Hochzeit« und die Klavierquintette in B-Dur und Cis-Moll geschrieben hat.
»Es ist für die jungen Leute sehr schwer«, hat Brahms zu Anton Door gesagt. »Da gibt’s nur eins, man muß seine eigene Handschrift schreiben. Wer dies nicht kann, der verschwindet von der Oberfläche und geht rettungslos unter.« Gleich die »Königin von Saba« zeigt Goldmarks eigene Handschrift: das Geistreiche mit nationalem Einschlag, die kühne Harmonik und die von einem kräftigen Ostwind zu ungeahntem Leuchten angefachte Glut der Farbe; alles in allem eine Erotik, die zuerst befremden mußte, Goldmark den schmeichelhaften Titel eines Dissonanzenkönigs eintrug. Aber das befremdende Neue war nur Würze, nicht Essentielles, und es beeinträchtigte nicht die urgesunde Kraft des Erfindens und Gestaltens. Niemals trat die Konstruktion selbstgefällig an die Stelle der Inspiration. Der Kopf besorgte gleichsam nur die Exekutive für die dem Schaffenden selbst ewig rätselhaft bleibende Legislative des Genies. In seiner grundlegenden Arbeit über Goldmark (»Neue österreichische Biographie«, Amalthea-Verlag) fand Julius Korngold folgende endgültige Formulierung: »Man könnte Goldmark der Nachromantik zuzählen, die nach Mendelssohn, Schubert und Schumann kam, dort etwa, wie sie bereits in die Wagnersche Moderne zu modulieren begann, wobei man ihm freilich in so undramatischer Gegend als gebornem Dramatiker und Theatermusiker eine Sonderstelle anweisen müßte. Für diese Eingliederung stellt das exotische Element seiner Musik kein Hemmnis dar, im Gegenteil … Er selbst bekannte sich zu einer eigentümlichen Disposition seiner Phantasie, die ihn eine im Grunde gar nicht existierende Tonwelt nachempfinden und nachschaffen hieß. Während aber, um den Fall an einem Beispiel, etwa an Schumanns ›Bilder[n] aus dem Osten‹, klar zu machen, in diesen Stücken das Exotische die lang ausgeprägte Schumannsche Ausdrucksweise nur leicht in der Grundstimmung färbt, bezieht Goldmark aus seinem selbstgeschaffenen Orient gerade die stärksten, originellsten, auch für die Angelegenheiten des Okzidents brauchbaren melodischen Eingebungen, gewinnt hauptsächlich erst dadurch die ihm eigene, die Goldmarksche Ausdrucksweise.«
Karl Goldmarks Hauptwerke leben. Diese Feststellung wiegt schwerer als jede noch so pompöse Fest- und Gedenkrede. Noch lebt auch körperlich der Schöpfer der »Königin von Saba« so in unserer Erinnerung, wie ihn Ferdinand Schmutzers Radierung festgehalten. Aus seinen Augen strahlte die Seele, in seinem Herzen brannte die allumfassende Liebe des von der Gottheit geadelten Menschen. Zum Schluß machte ihn sein patriarchalisches Alter ehrwürdig. Aber ehrwürdig war auch die Kraft, mit der er, der zwei Generationen kommen und gehen sah, die Straße suchte und fand, die von unserer Erde weg zur Unsterblichkeit führt. Josef Reitler
(Neue Freie Presse vom 18. Mai 1930)