Neue Freie Presse vom 18. Mai 1910

Erinnerungen an Karl Goldmark.
(Zum achtzigsten Geburtstage.)
Von Professor S
[igismund]. Bachrich.

Als ganz junger Bursche ging ich einmal durch die Komödiengasse, beim Orchestereingang des Carl-Theaters vorbei, da hörte ich, wie einer der dort versammelten Musiker in die Klage ausbrach: »Gott, wenn ich nur heute frei wäre, ich hätte soviel Wichtiges zu arbeiten!«

Ein anderer Musiker, der mich kannte, wies auf mich und meinte: »Der könnte für Sie vielleicht einspringen?« – »Wollen Sie das tun, junger Mann?« fragte mich der nach Freiheit dürstende Geiger.

»Aber ja, mit Wonne!« rief ich – und ich sprang ein. Dies war meine erste Begegnung mit Goldmark, welche uns später zu einer innigen Freundschfst verband. Wenn ich ihn dann öfters im Orchester ersetzen durfte, konnte er in seiner stillen Stube eifrig komponieren, und ich fand reichlich meinen Lohn darin, wenn er mir das anvertraute, womit ihn seine Muse während jener Abende beschenkt hatte.

Da begann er seine berühmte E-dur-Suite für Violine und Klavier zu schreiben, und wir beide entzifferten Stück für Stück aus seinen Skizzen, alle fünf Sätze. Wir hatten das prächtige Werk so inne, daß wir es einmal in einer Künstlergesellschaft in Budapest, vor dem Abbé Liszt, frei, aus dem Gedächtnis spielen konnten. Dies kleine Ereignis sollte auch später seine Wirkung ausüben. Aus Bewunderung für den Künstler und Liebe zu dem Menschen wurde ich Goldmarks getreuester Schildknappe, der immer dabei war, wenn es galt, bei neuen Siegen mitzuhelfen. Beim Streichquartett, Streichquintett, »Sakuntala«-Ouvertüre, bei der »Königin von Saba,« »Merlin«, »Heimchen am Herd«, den Ouvertüren, Symphonien etc., überall focht ich tapfer und begeistert mit.

Bei den Philharmonikern entschied von jeher die Annahme und Aufführung eines neuen Werkes die Stimmenmehrheit. Aber bei solchen Proben durfte kein Fremder, am allerwenigsten der Komponist der Novität, anwesend sein. Goldmark hatte seine »Sakuntala«-Ouvertüre eingereicht, und wir erfuhren Tag und Stunde der Probe, die damals im Theezimmer der Redoutensäle stattfand. Unsere Spannung über das Resultat dieser Probe war auf das Aeußerste gestiegen. Damals noch nicht Philharmoniker, schlich ich mich mit einer Art von Todesverachtung in den Saal und fand im Schatten einer großen Harfenkistr Deckung für meinen Frevel. Dessoff gab das Zeichen zum Beginne der Ouvertüre. Mein Herz klopfte so laut und ungestüm, daß ich fürchtete, ein Geräusch könnte mich verraten. Die Ouvertüre rauscht vorüber, und es ereignete sich der seltene Fall, daß die Philharmoniker in einen enthusiastischen Beifall ausbrachen. Ich hörte nur noch, wie Dessoff freudig erregt rief: »Ach nee! – ich dächte, dadrüber woll’n wer wohl nich abstimmen?«, und mit einer anderen Nüance von Todesverachtung stürzte ich davon, die Treppen hinab, durch die Stallburggasse, die Bräunerstraße über den Graben, stürmte in unser Stammcafé »zur Kaiserkrone« hinauf zu Goldmark, der mich in unruhvoller Sehnsucht erwartete. Ich bin in meinem ganzen Leben nicht so gelaufen wie damals, so zwar, daß, als ich Goldmarks ansichtig wurde, ich nicht im stande war, ein Wort hervorzubringen; ich nickte nur heftig mit dem Kopfe: Ja! – Ja! – Ja! – und er verstand mich vorzüglich. Als ich zu Atem kam, mußte ich ihm über verschiedene Instrumentationseffekte berichten, und als ich von dem Eindrucke erzählte, den der Schluß der Ouvertüre, der Eintritt des Hörnerunisonos, auf mich machte, da ersah ich zum erstenmal in seinen lieben, guten Zügen einen Schimmer von Neid vorüberhuschen, daß ich und nicht er seine »Sakuntala«-Ouvertüre zuerst gehört hatte.

Aus Gmunden sandte mir Goldmark seine endlich festgestellte Partitur der »Königin von Saba« ein, die ich in fliegender Eile an der k. k. Hofoper für ihn einreichte. Aber die damalige Direktion hatte gar keine so große Eile damit. Die Oper verblieb unheimlich lange im Archiv liegen, bis Liszt, unter der Patronessenschaft der Fürstin Hohenlohe, ein Konzert in Bewegung setzte, in welchem Fragmente aus der Oper vorgeführt wurden, von Dessoff dirigiert. Nur der mächtige Erfolg dieser
Bruchstücke konnte die endliche Aufführung an der Hofoper nicht länger hintanhalten. Wir bildeten in Wien eine kleine, aber äußerst heitere Künstlergenossenschaft von Musikanten und Musikantinnen, welche sich alljährlich am 1. Juli in Salzburg traf, um von da aus in die grüne Fusch zu wandem. Dort waren wir sorglos, frei und fröhlich wie Kinder, die der Schule entronnen waren. Wenn Goldmark mit uns die Fusch betrat, erwachte in seiner Brust ein mächtiges Gefühl von Glückseligkeit, welches sich nur durch eine große Heldentat auslösen korrnte. Sein erster Waffengang war der, daß er den alten Rumpelkasten, den sie dort irrtümlicherweise »das Glawier« nannten, absperrte und den Schlüssel in rätselhafter Weise dermaßen verlor, daß er ihn nur am Tage seiner Abreise, in derselben unbegreiflichen Art, wieder fand. Wir machten Ausflüge auf die Reiteralm, erstiegen den Kühkar, wir stampften tapfer durch den Schnee der Pfandelscharte, Goldmark in seinem grauen Lodenröcklein überall voran. Wir schoben Kegel, wobei seine Spezialität, die hintere linke Dame treffsicher zu erlegen, Sensation erregte. An Regentagen suchten wir Trost im Tarock, und wenn ihm ein tiefdurchdachter Pagatultimo gelang, dann leuchteten seine Augen in vernichtendem Triumphe!

Die lebenden Bilder, die wir stellten, die Maskenredouten, die Picknicks und ach! die venezianischen Nächte mit Regatta (im Gebirge!) waren voll Lust und jugendlicher Tollheit, und unser geliebter Meister tat überall mit. Unvergeßlich ist mir das Potpourri aus den »Hugenotten«, welches Goldmark und ich ausführten. Um »das Glawier« aus seinem Scheintode nicht zu erwecken, nahm er die Gitarre vom Knechte Hiesel und ich die Zither von der Magd Burgei zur Hand. Hätte uns Meyerbeer zugehört, so würde er überhaupt die ganze Oper nur für diese beiden Instrumente gesetzt haben. Wie wäre ich heute glücklich, wenn ich zaubern könnte, um durch meinen Wunsch dem geliebten Freunde Goldmark zu seinem achtzigsten Geburtstage die Freude zu bereiten, daß er noch einmal die sonnigen Tage unserer alten Fusch genießen könnte! Da mir aber zu einem »Merlin« alles mögliche fehlt, dann mögen, wenn »Im Frühling« das »Heimchen am Herde« zirpt, diese »Suite« von Jugenderinnerungen
an sein Ohr, gleich einem »Wintermärchen«, klingen.

(Neue Freie Presse vom 18. Mai 1910)