Musikalisches Wochenblatt vom 12. Mai 1910

Karl Goldmark.
Zu seinem 80. Geburtstage.
Von Dr. Egon Glaessner.

Am 18. Mai dieses Jahres feiert einer der ältesten und bedeutendsten unter den zeitgenössischen Opernkomponisten, feiert der größte unter Österreichs lebenden Tondichtern seinen 80. Geburtstag. – 80 Jahre! Wieviel Mühen und Sorgen, wieviel Enttäuschungen und Entbehrungen, wie manche Stunde aber auch des Glücks können sie schon für den »gewöhnlichen« Sterblichen bedeuten – um wieviel mehr für den schaffenden Musiker, der sich ja oft mit schwerer Mühe zur Anerkennung erst durchringen muß, der Ungunst der Verhältnisse, dem übelwollenden Urteil des obskursten Provinzblattkritikers oft wehrlos preisgegeben.

Wenn Goldmark, heute der Angesehensten einer im Reiche der Tonkunst, an Ruhm und Ehren reich, an seinem 80. Geburtstage im Buche seiner Erinnerungen blättert, so stößt er gewiß auch auf manch unerfreuliches Blatt…

Wir wollen ihm bei dieser interessanten Beschäftigung insgeheim ein wenig über die Schulter sehen und ein und das andere Blatt seines Lebensbuches zu entziffern suchen! – –

Karl Goldmark erblickte am 18. Mai 1830 – als 18. unter 21 Kindern – im südungarischen Städchen Keszthely das Licht der Welt. Ungarns heitere Sonne beschien seine Jugend; sie vielleicht hauchte ihm die leidenschaftliche Glut, die sommerliche Schwüle ein, die der Mehrzahl seiner Werke ihr eigenartiges Gepräge verleiht. – Seiner Neigung, sich ganz der Musik in die Arme zu werfen, war sein frühzeitig schon hervorgetretenes und anerkanntes Talent ein guter Fürsprecher; so durfte er denn, als Vierzehnjähriger, nach Wien ziehen, wo er von Jansa, später von Böhm, zu dessen Schülern auch Joachim zählte*), Violinunterricht erhielt. In Wien fand er seine zweite Heimat, die er, abgesehen von seinem Fester Aufenthalt (1858—1860), auf die Dauer nicht mehr verließ.

Sein 1847 erfolgter Eintritt ins Wiener Konservatorium war nur von kurzer Dauer, da dieses wegen der politischen Ereignisse des Jahres 1848 geschlossen werden mußte. So war er denn, aller Mittel entblößt, wieder auf das Selbststudium angewiesen und mußte zur Fristung seines Lebens als Orchesterspieler, später als Klavierlehrer Frohndienst leisten.

Im Jahre 1857 trat er in Wien zum ersten Male mit eigenen Kompositionen (Ouvertüre, Quartett, Lieder, Psalm) vor die Öffentlichkeit, Die »Wiener Zeitung« »traute ihm zwar gern zu, daß ihm in guter Stunde noch manches gelingen mag«, wußte aber im übrigen nicht viel Aufmunterndes zu sagen. Erst seit 1866, nach der Erstaufführung der »Sakuntala«-Ouvertüre, war sein Stern im Aufgehen
begriffen. Seither erstrahlt er in immer hellerem Glanz, den auch einige Allzukritische kaum zu trüben vermögen.

Trotz seiner magyarischen Abstammung tritt das spezifisch-ungarische Element, wie es bei vielen seiner Landsleute als Selbstverständlichkeit sich findet, bei Goldmark nirgends in Erscheinung; manchmal finden sich dafür Anklänge an Mendelssohn (in den beiden Orchester-Scherzis [!]), an Schubert (Symphonie in Es dur); auch Wagner-Epigonentum machte man ihm, wohl ganz mit Unrecht, zum Vorwurf. Wohl aber weisen zahlreiche seiner Schöpfungen auf den Orient hin; so vor allem die rasch berühmt gewordene Ouvertüre »Sakuntala« (op. 13), die zum ersten Male weitere Kreise auf den schon 35jährigen Komponisten aufmerksam machte (Erstaufführung Ende 1865 in Wien). Sie ist heute auf den Programmen der Wiener Orchestervereinigungen ein ständiger Gast. Frisch in der Erfindung, klar im Aufbau, verhilft ihr die echt Goldmarksche Farbenpracht im Verein mit ihrem quellenden Melodienreichtum zu packender Wirkung.

Vorläufer dieser Richtung, die später in der »Königin von Saba« ihren Höhepunkt erreichen sollte, finden sich schon frühzeitig; so in dem klanglich ganz wundervollen Streichquintett op. 9 (von Rosé und Genossen oft zum Siege geführt) und mehr noch in der lebensfrischen, prächtigen Suite op. 11 für Klavier und Violine. Aus ihr spricht echtester, unverkennbarer Goldmark; bald strömt es dahin wie schwerer, edler Wein, bald hüpft es im 3/ 4 Takt, munter scherzend, wie ein Waldquell, der (am Ende des letzten Satzes) wie in tausend glitzernde Tropfen versprüht, so den effektvollsten Abschluß bildend.

Hatte schon Goldmarks zweites größeres Orchesterwerk, das E moll-Scherzo (op. 19), das sich allerdings von Mendelsohnschem Einfluß nicht ganz frei hält, ebenso wie die »Sakuntala«-Ouvertüre Aufsehen erregt, so feierte der Meister mit seiner ersten Oper, der allbekannten »Königin von Saba« einen vollen Triumph. Sie hat, nach endlosen Schwierigkeiten 1875 am Wiener Hoftheater aufgeführt, ihren Siegeszug über die weltbedeutenden Bretter auch heute noch nicht beendet. Sie zeigt am deutlichsten Goldmarks Eigenart; tief taucht er den Pinsel in die farbenschillernde Pracht des Morgenlandes, schier unerschöpflich ist die Melodienfülle, alles ist in leidenschaftlich-schwüle Glut getaucht. Assads Erzählung im ersten, das Ballet (Bienentanz) am Beginne des dritten Aktes sind von hinreißender Schönheit. – In Wien wurde das Werk schon 1897 zum 100. Male gegeben.

Auf die weiteren Opern des Meisters auch nur mit einem Wort einzugehen, fehlt es hier leider an Raum; sie haben übrigens den Erfolg der »„Königin von Saba« nicht erreicht. Es sind: »Merlin«, deren Stoff der Artussage entnommen worden ist, Wien 1886; das »Heimchen am Herd«, das in völliger Abkehr von allem Orientalismus Dickens’ gleichnamige Märchendichtung in einer Bearbeitung von Willmers gemütvoll musikalisch illustriert, den Komponisten dabei von einer neuen, überraschenden Seite zeigend (Wien 1896); weiter »Die Kriegsgefangene« (Wien 1899, nach gänzlich unzulänglichem Buch).

Hierzu gesellten sich im letzten Jahrzehnt 2 weitere Opern: die »Szenen aus Götz von Berlichingen« und das »Wintermärchen«. Das letzte Wort über beide Werke ist noch nicht gesprochen. Wir hätten es ja wohl lieber gesehen, wenn die Benützung Goethes für Opernzwecke den Ausländern überlassen geblieben wäre, die ja in solchen Dingen schon Erfahrung haben (»Mignon«, »Werther«, »Faust«). Doch hat wohl die imposante Persönlichkeit des Ritters mit der eisernen Hand Goldmarks musikalische Gestaltungskraft besonders stark angeregt und ihn dazu gedrängt, einzelne »Szenen« aus Götz (so lautet der Titel der Oper) nach einem verwässerten Libretto in Musik zu setzen. Wegen einer Spannung zwischen Goldmark und dem damals allmächtigen Hofoperndirektor Mahler ist »Götz«, im Gegensatz zu allen seinen Vorgängern, an der Wiener Hofoper bisher nicht zu Wort gekommen; seine Uraufführung fand in Budapest statt.

Ein voller Erfolg dagegen, der seinen Anfang diesmal wiederum von Wien aus nahm, war dem »Wintermärchen« beschieden. Wenn auch nicht immer neuer Goldmark, ist die Musik dieser Oper in ihrer Frische und Lebenswärme eine erstaunliche Tat des damals 78jährigen; »Shakespeareschen Geistes hab’ ich drin manchen Hauch gespürt«, könnte man mit Bezug auf sie ein Dichterwort umändern. Eine andere Gruppe von Schöpfungen zeigt uns Goldmarks Eigenart in ganz anderem, fast möchte ich sagen deutschem Gewände. Hierher könnte man die »Prometheus«-Ouvertüre (auf die erste von Aischylos gewaltigen 7 Tragödien) und die vielgespielte Ouvertüre »Im Frühling« zählen, die den deutschen Frühling in seiner ganzen Pracht wiedergibt; endlich wohl auch das zweite Orchester-Scherzo (op. 45). Die Ouvertüre zu Kleists »Penthesilea«, die Goldmark den Namen des »Dissonanzenkönigs« eintrug (interessanter Vergleich mit Hugo Wolffs [!] den gleichen Stoff behandelnden symphonischen Dichtung!) zeigt wieder andere Züge; die Ouvertüre zu »Sappho« (op. 44) hat wiederum stärkeren orientalischen Einschlag. Italienisches Leben schildert uns der Altmeister (wie Rich. Strauß) in der Ouvertüre »In Italien« (op. 49), die schon dem jüngsten Jahrzehnt angehört; ein reizendes Idyll aus dem Bauernleben schenkte er uns in der Symphonie (richtiger vielleicht symphonischen Dichtung) »Ländliche Hochzeit« (op. 26). Obwohl Programm-Musik, hat sie doch den Vorteil, auch ohne Programm leicht verständlich zu sein. Ihr fein abgetönter Hochzeitsmarsch (mit Variationen), das Brautlied, die Serenade (ein entzückendes Scherzo), »Im Garten« und »Tanz« reihen sich würdig dem Besten an, was Goldmark geschrieben.

Die 2. Symphonie in Es dur (gern die »Gmundener« genannt) verzichtet auf die aparten, für Goldmark so charakteristischen Farbenmischungen; sie hält sich mehr an klassische Muster (Schubert), denen sie mit Glück nachstrebt. Auch hier wirkt das Scherzo, dessen Trio – vor Mahler! – durch eine bei letzterem nicht seltene Fanfarenmelodie überrascht, am unmittelbarsten.

Der »ländlichen Hochzeit« folgte im Schaffen das Violinkonzert (op. 28), früher leider sehr vernachlässigt; das Hauptthema des ersten Satzes kraftvoll, mit Fugentendenz, die dann auch wirklich im Tutti des Orchesters zu einer gewaltigen Fuge führt (meines Wissens in einem Violinkonzert der einzige Fall!), wunderbar schwärmerisch verklärt und gesangreich die Seitenthemen; voll edlen Feuers und großzügig gesteigert der 2. Satz (Air), dankbar mit großer, an Bach gemahnender Solokadenz der letzte Satz. Das Violinkonzert führt uns zu weiteren Werken, in denen die Violine ebenfalls eine wichtige Rolle spielt: Streichquartett op. 8, Sonate für Klavier und Violine op. 25 (einfach im Stil), 2. Suite für dieselben Instrumente in Es dur (op. 43), Klaviertrio op. 33 und zu dem klangreichen, wirkungsvollen Klavierquintett in B dur op. 30. Auf die Lieder für eine Singstimme mit Klavier, auf die Chorlieder, insbesondere auf das prächtige »Frühlingsnetz« für Männerchor, Klavier und 4 Waldhörner, auf die Klavierwerke (op. 5 »Sturm und Drang«, op. 29 Novelletten, Prälud. u. Fuge) sowie auf die Cello-Sonate sei hier nur hingewiesen. Noch zeigt Goldmarks Schaffenskraft nicht die geringste Einbuße. Wir können es nur freudig begrüßen: eines ist er uns ja noch schuldig geblieben, das der große Verdi in noch höherem Alter erst der Welt in seinem »Falstaff« gegeben: eine komische Oper. Vielleicht macht der Meister sie uns – und sich zu seinem 80. Geburtstage zum Geschenk?! Wir wollen es von ganzem Herzen wünschen und hoffen. (Musikalisches Wochenblatt vom 12. Mai 1910)

*) Vergl. das interessante Buch »Joseph Joachim, ein Lebensbild« von Prof. Moser, Berlin, im Verlag Behr.