Goldmark: Pester Lloyd vom 3. Jänner 1915 (Pasticcio)
Theater, Kunst und Literatur.
Karl Goldmark.
Aus Wien wird uns telegraphiert: Karl Goldmark ist heute nachmittag um 4 Uhr in seiner Wohnung gestorben.
Ein großer Sohn unseres Landes ist dahingegangen. In diesem Jahre, da im großen Sterben der Einzelne so leise und fast unbemerkt versinkt, wird doch dem Meister Karl Goldmark ein wehmütiges Abschiednehmen hinüberfolgen in den ewigen Schlaf. Frei von jeder Selbstsucht ist diese Trauer, denn sie gilt nicht einem Schaffenden, aus dessen Hirn und Hand uns noch manches schöne Geschenk hätte werden können, sondern dem Vollendeten, dessen Lebenswerk abgeschlossen war, der uns ohne ein Mehr zu verheißen, mit Dankbarkeit erfüllte für das, was er einst gab. Im hohen Alter von 84 Jahren hat der Meister, neben Liszt der größte ungarische Musiker, das Zeitliche gesegnet. »Unser Leben währet siebenzig Jahre, und wenn es hoch kommt, so sind’s achtzig, und wenn es köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen.« Mühe und Arbeit ist auch Goldmarks Leben gewesen; in der ersten Hälfte ein herber Kampf ums tägliche Brot, in der zweiten die Arbeit des rastlos Schaffenden, der noch mit achtzig Jahren Zukunftswerke erwägt. Wir durften stolz auf ihn sein, weil er uns auch inmitten der reichen Anerkennung, die ihm im Auslande wurde, nie verleugnet hat«.
Zu seinem achtzigsten Geburtstag, da man sein Lebenswerk als abgeschlossen betrachten durfte, schrieb unser Mitarbeiter August Beer die folgende Würdigung des Meisters:
»Goldmark war wie im Leben auch in seiner Kunst ein Selbsthilfmann, hatte sich die Wege selbst zu bahnen. Ohne regelrechte Schule aufgewachsen, hat er alles Technische der Tonkunst nur durch eigene Studien sich zugänglich gemacht. Und auf einmal gab es ein großes Aufhorchen, als der Orchestergeiger mit einem ganzen Stoß seiner Kammermusik herausrückte, als die Klänge der ›Sakuntala‹-Ouvertüre mit ihrer heißen Glut und flimmernden Pracht aufrauschten. Schon in dieser orientalischen Studie erscheint eine selbstherrliche Künstlernatur auf dem Plan, mit neuen Tönen, neuen berückenden Orchesterfarben. Was sich hier eigenartig im kleinen Format ankündigte, ging dann strahlend in der ›Königin von Saba‹ auf – Goldmarks erste Oper, aber gleich ein Meisterwerk, die reife, vollschwellende Frucht seines Talents. Ein ganz besonderer Ausnahmefall in der Geschichte der Oper, dieser sieghafte Aufschwung zum Gipfel gleich beim ersten dramatischen Anlauf. Und deshalb nicht weniger erstaunlich, weil Goldmark in blühendem Mannesalter, schon als feste, in sich geschlossene Individualität zu dem großen Wurfe ausholte. Er konnte nur einem Musiker gelingen, der ganz erfüllt ist von eigenen Ideen, von starker dramatischer Leidenschaft, von den Gebilden einer schöpferischen Phantasie.
Die Glut und Farbenpracht des Orients hat außer Verdi kein anderer in so reicher Fülle über die Opernbühne ausgebreitet wie Karl Goldmark. Aber während die »Aida« ihre Entstehung dem außerordentlichen Anpassungsvermögen des italienischen Meisters verdankt, erscheint die »Königin von Saba« ungleich bodenständiger, als üppiges Gewächs, wie es nur unter dem lichtdurchfluteten Himmel des Morgenlandes sprießt, seinen natürlichen, exotischen Duft ausströmt gleich den glühenden Purpurrosen vom Jordangelände. Verdi hat sich mit erstaunlicher Selbstsuggestion in das Pharaonenschloß zu Memphis hineinversetzt, Goldmark bewegt sich im Palast und Garten des Königs Salomo mit der Sicherheit und Freiheit des Rassenmenschen. Daher die Frische und Unmittelbarkeit seiner Sabamusik, weil sie wurzelecht ist, tief und rein hervorströmt aus innerstem Empfinden. Diese Oper ist die wirkliche Einfallspforte zum musikalischen Orient geworden, ist es geblieben bis zum heutigen Tage. Auf dem Zuge ins Morgenland können sie die Späterkommenden kaum umgehen. Aber das, was der Oper besonderes Gepräge ist, haftet nicht an der Farbe allein, nicht bloß, an der Leuchtkraft, an der tiefen Macht des Kolorits. Nur ihm zugehörig ist die eigenartige, breit und voll ausströmende Melodik, die Mischung von heiß auflodernder Leidenschaft und zartem Empfinden, die Meisterschaft im Ausmalen weicher, träumerischer Stimmungen und glühender Erotik. Echt Goldmarkisch ist jedes kleinste Detail des Ausbruches, jede Wendung seiner buntbewegten Harmonik. Und sein edles Meisterzeichen tragen vollends alle dramatischen und lyrischen Teile der Sabamusik: die Tempelszene mit dem stürmischen Aufruhr der Chorstretta, wohl eine der gewaltigsten Gipfelungen dramatischer Musik. Dazu als edles Gegenstück das herrliche, mächtig ausgreifende Septett, zugleich ein Meisterstück polyphonen Aufbaues. Dann lyrische Juwelen wie die keuschen, reizvoll ausblühenden Brautlieder Sulamiths, die tiefbewegte, in merkwürdiges, träumerisches Zwielicht getauchte Erzählung Assads, die Gartenszene mit ihrem heißen Sinnenrausch. Doch das sind nur einzeln hervorstechende Momente in der Fülle von Schönheit und geistvollster Charakteristik in Goldmarks dramatischem Erstling.
Die »Königin von Saba« steht obenan, als die unmittelbarste und kraftvollste seiner Bühnenschöpfungen. Nach dieser großartigen Gipfelung führt uns aber der Meister auch weiterhin zu ragenden Höhen, stellt uns immer wieder vor neue und überraschende Aussichtspunkte. Im »Merlin« hat er seinen berühmten »Zug nach Westen« angetreten, die Zweifler bald zum Schweigen gebracht, die da glaubten, daß sein Talent nur im Gluthauch des Orients gedeihen könne. Es trieb auch farbige Blüten in den höheren Breiten, wohin ihn, der Schauplatz seiner Oper führte. Es war im Grunde genommen ein Triumph des Komponisten über die unzulängliche Textdichtung, die nur ein schwaches dramatisches Gerüst darbot, behängt mit klingendem Vers und Reim.
Es war ein glänzender Beweis für Goldmarks geniale Begabung, daß es ihm gelingen konnte, mit seiner Musik Mattes zu heben, Grelles zu veredeln, mancher schattenhaften Gestalt lebendigen Odem einzuhauchen und über das Ganze einen verklärenden Schimmer zu breiten. Goldmark ist auch hier derselbe geblieben, reich an melodischer Empfindung, an tiefem seelischen Ausdruck. Nur der Schauplatz hatte sich geändert und mit diesem auch der Grundton seiner Musik. Die große, heldenhafte Gebärde herrscht vor, der ritterliche Schwung, und bei den Zauberkünsten der Fee Morgana nimmt die Musik einen feinen Zug ins Phantastische. Wie nach der »Saba«, ist Goldmark auch nach dem »Merlin« länger als ein Jahrzehnt der Bühne ferngeblieben, um sich plötzlich dem liebenswürdigen Zauber des »Heimchens« gefangen zu geben. Das war eine neue Ueberraschung für die musikalische Welt.
Wir sehen den Meister auf seinem Wege vom Königspalast Salomos, von der Tafelrunde am Artushofe in der traulichen Hütte der braven Frau Dot und des biederen John Peerbingle einkehren. Man weiß, wie gemütlich und poetisch zugleich sich Goldmark hier eingerichtet hat. Mit solchem jähen Wohnungswechsel war natürlich auch eine durchgreifende Stilwandlung verbunden. Erstaunlich, wie frei und leicht er den Ton der Spieloper anschlägt, sich mit Grazie in die knappen, volkstümlichen Formen findet, seine »Heimchen«-Musik, mit Ariette, Strophenlied, Tanz durchweht, mit allen Feierlichkeiten orchestraler Kleinkunst schmückt. Und auch dieses intime Familienbild ein richtiger Goldmark, echtfarbig in der Melodienbildung, im Gefühlsausdrucke, in der ihm eigentümlichen Harmonik, die gern so scharf um die Ecke biegt. Es ist die herzlich anmutende Idylle zwischen den großen dramatischen Gebilden des früheren und des späteren Goldmark. Schon folgte ihr die »Briseis«, die strenge, ernste Antike mit ihrem feierlichen Faltenwurfe. Aus der Welt Homers, vom klassischen Boden des alten Hellas, sehen wir Goldmark, den Siebziger, rüstig in das mittelalterliche Franken weiterschreiten, wo er dem Ritter mit der eisernen Hand, dem tapferen Haudegen Götz von Berlichingen, ein musikalisches Denkmal aufrichtet. W[i]eder ein anderer Akkord aus der reichen Goldmark-Skala, so bunt zusammengesetzt, wie diese ›Szenen‹ aus Goethes dramatisiertem Zeit- und Lebensbilde. Schlichter, markiger Ausdruck, warme Gemütslaune wechseln hier mit glühender, aus einem erstaunlich jungen Herzen nachgefühlter Liebeschwärmereim die Schauer der Feme mit volkstümlichem und pikant gewürztem Humor. Und der Unermüdliche schenkte uns noch das »Wintermärchen«, bezeichnend schon im Titel, der so rührend aus das wundersame Märchen des eigenen Lebenswinters anspielt. Lauter edle, herzenswarme Musik, die überall seine charakteristische Handschrift zeigt, gleichsam drei Goldmarksche Haupttöne harmonisch miteinander vereinigt: tragische Leidenschaft, heitere Idylle, sanfte Elegie.
Wie die Bühnen, klingen auch alle Konzertsäle von der Musik Goldmarks. Unter den großen Meistern der Neuzeit weist ihm seine Universalität einen ganz besonderen Rang zu als einem glänzenden, Dramatiker und einem der bedeutendsten Vertreter der absoluten Musik. Auf diesem Gebiete gibt es kaum eine Kunstgattung, die er nicht durch eigenartige, hoch über den wechselnden Tagesgeschmack emporragende Werke bereichert hätte. In der Vielseitigkeit des Schaffens übertrifft er seine berühmtesten Zeitgenossen, Wagner, dessen gewaltiges Genie nur
im Musikdrama wurzelt, Brahms und Bruckner, die Fortentwickler der reinen Instrumentalmusik. Der klassische Geist des einen, das romantische Empfinden des andern verschmelzen zu ganz eigener interessanter Mischung in seinen Instrumentalkompositionen, durch die
außer der ganz spezifischen Goldmarknote auch die ungarische Note klingt, die nationalen Rhythmen vornehmlich pochen. Frisch und lebendig, mit unberührtem Reize ziehen seine Hauptwerke, die er für Konzertsaal und Kammer geschrieben, immer wieder an uns vorüber. Sie
aufzählen, heißt sie zugleich preisen. Da ist die ›Ländliche Hochzeit‹, dieses anmutige, von schöner Volkstümlichkeit durchwehte Tongemälde, die romantische Es-Dur-Sinfonie, da sind seine farbensatten hochcharakteristischen Ouvertüren, voran jene zur ›Sakuntala‹ und die Frühlingsouvertüre, ein blütenschwerer Lenz in Tönen. Und dann das Violinkonzert mit dem wundervollen Gesang des ›Air‹, die Violinsuiten, sein vieledles Klavierquintett, wohl das schönste, was die neuere Kammermusik in dieser Gattung an, melodischem Reiz und seinem Zusammenklang der fünf Instrumente zu bieten hat.
Nichts spricht deutlicher für die Echtheit und den inneren Wert seiner Musik, als daß sie im Laude der Zeit weder überholt noch verdrängt wurde, sich inmitten der neuesten Strömungen ruhig und sicher ihre volle
Lebenskraft bewahrt hat. Zur Höhe seines Ruhmes ist Karl Goldmark einzig und allein durch seine Kunst emporgestiegen. Ansehen und Geltung, Bewunderung und Verehrung hat er nur seinem eigenen Schaffen zu verdanken. Der Aufstieg ist ihm nicht leicht geworden, gar
manche Strecken des langen Lebens mußten erst in heißem Ringen freigelegt, mit zäher Ausdauer verteidigt werden. Aber die Kämpfe der Jugend und der Mannesjahre haben ihn nur gestählt, die Begeisterung für die Kunst nur noch heller angefacht.«