… ohne eigentlichen Fluß …

Neues Deutsches Theater.
»Die Kriegsgefangene, Oper in zwei Acten von Carl Goldmark.

Ich will von Atreus’ Söhnen –
von Kadmos will ich singen
doch meine Saiten tönen
nur – Liebe, im Erklingen.
F. Schubert »An die Leier.«

Genau nach diesem Texte ist es den Dichtern der »Kriegsgefangenen« ergangen. Abweichend vom ersten Verse der Iliade, in welchem die Göttin angefleht wird »den Groll des Peleiden Achilles« zu besingen, griffen sie zur Leier, die des antiken Helden Lieblingsinstrument eigentlich nicht war. Damit hat es in Goldmarks Oper folgendes Bewandtniß: Achilles schwört an der Aschenurne Patrokles’, den Tod des lieben Freundes blutig zu rächen. Er beharrt bei seinem Entschlusse trotz der Abmahnungen seiner göttlichen Mutter Thetis, die den Meereswogen enttaucht, um ihn zu besänftigen, und läßt Hector’s Leichnam um die Mauern Troja’s schleifen. Briseïs, seine Kriegsgefangene, wagt es, die verstümmelte Leiche in ein Linnen zu hüllen, wofür sie mit dem Tode bestraft werden soll. Bald ändert jedoch Achill seinen Sinn wieder und beschließt das Mädchen zu den ihrigen zurückzubringen. In der folgenden Nacht wird Achill von wilden Träumen geschreckt. Briseïs eilt an sein Lager, bereitet ihm einen Heiltrank und singt auf seinen Wunsch ein Lied, das des wilden Helden Herz bewegt. Würde dadurch Achilles’ Rachelust zum Schweigen gebracht, so könnte man wenigstens an eine Macht des ewig Weiblichen glauben. Dem Textdichter schien das jedoch nicht zu genügen. Er brauchte noch eine Rührscene und zauberte zu diesem Zwecke den alten König Priamos herbei, der um die Leiche seines Sohnes Hektor fleht. Erst als der greise Mann knieend die Füße Achill’s umklammert, wird seinen Bitten nachgegeben und die zwischen Achill und Briseïs unterbrochene Liebesscene wieder aufgenommen und beendet. Die noch anschließenden Kriegsrufe sind dramatisch nicht mehr motivirt und haben eine rein äußerliche Bühnenbedeutung.

Gisela von Ruttersheim (»Briseïs«)

Die Ehrung des Todes gefallener Helden und die Bestattung der Leichen solcher, denen sie verwehrt sein sollte, haben die Phantasie der antiken Dichter gar oft bewegt. Das Tragische dieses Conflictes liegt auf der Hand und ließe sich auch heute noch für dramatische Zwecke recht gut verwerthen. Dort freilich, wo die Aufmerksamkeit der Zuhörer auf eine so typische Heldengestalt, wie die des Achill, gerichtet ist, verliert das Thema seinen poetischen Reiz, vollends gar, wenn die Urgestalt des Helden in ein so schiefes Licht gerückt werden soll wie dies durch Einflechtung der Liebesepisode mit Briseïs geschieht. Wir, die wir mit den Helden der Iliade so zu sagen von der Schulbank her bekannt sind, empfinden es beinahe komisch, wenn wir den »schrecklichen« Eroberer bald beim Klange einer Lyra, bald in den Armen einer schönen Sclavin weich werden sehen, ganz abgesehen von der Untreue gegen die homerische Dichtung, die Briseïs als Freundin des Patrokles und nicht als die seines Feindes Hektor auftreten läßt.

Max Dawison (»Achilles«)

Noch bedenklicher erscheint uns die vielfach schwulstige poetische Form, mit welcher sich der pseudonyme Textdichter Emil Schlicht über die dramatischen Lücken seiner Handlung hinwegzuhelfen sucht. Mag es auch nicht leicht erscheinen, die plastische Sprache Homers in einen modernen Operntext umzusetzen, so wäre doch wenigstens ein Versuch dieser Art besser am Platze gewesen, statt an des Jammers jauchzenden Schwall anknüpfend – von »klingendem Muth und tönendem Glanz« zu faseln.

Was Goldmark, den Stimmung und Farben Liebenden, zu diesem, im Grunde genommen dramatisch ganz ungewöhnlich langweiligen Textbuche hingezogen haben mag, ist schwer zu enträthseln. Daß er einen Mißgriff gethan hatte, darüber belehrt uns seine Musik gar bald, indem sie alles aufbietet, um sich der seltenen Sprödigkeit der Handlung logisch anzupassen. Im Verlaufe des ganzen ersten Aufzuges gibt es keine einzige Stelle, in welcher der musikalische Gedanken zu freiem Aufathmen gelangte. Mühsam bewegt sich die fast ausschließlich recitativische Form vorwärts, ohne eigentlichen Fluß, ja selbst ohne beachtenswerthe motivische Eingebungen. Nicht einmal das Erscheinen der Briseïs, der eigentlichen Liebesheldin der Dichtung, vermag eine größere Bewegung in die musikalischen Ereignisse zu bringen. Wie schon im Vorberichte erwähnt worden, bringt erst der zweite Act eine glücklichere Wendung zur Besserung der trostlosen Stimmung. Schon das orchestrale Zwischenspiel, in welchem Heldenthum und Liebe unter glänzenden instrumentalen Kombinationen zu beredtestem Ausdrucke gelangen, übt trotz seiner beinahe nervösen Modulation einen überaus gefälligen Eindruck. Die nachfolgenden Zweigesänge des Achill und der Briseïs lassen warme, wenn auch nicht jugendlich frische Gedanken vernehmen; noch stimmungsvoller wirkt das Liedchen der Briseïs mit Harfenbegleitung, dessen halbe recitativische, halb in geschlossener Form einherschreitende Melodie, nur noch von der Schwerfälligkeit der Rhythmik getrübt wird. Dramatisch packend und musikalisch am glücklichsten gerathen ist die Bittscene des Priamos, in welcher sich die bewährte Hand eines großen, mit den Geheimnissen der Bühnenmusik wohlvertrauten sofort verräth. Das Liebesduett am Schluße der Oper, eine beinahe reactionäre Eingebung in Bezug auf Form und Ausdruck, reizt das Ohr des Musikers, ohne es zu befriedigen.

Die Aufführung des neuen Werkes, für dessen Gewinnung wir schon vom historischen Standpunkt sehr dankbar sein müssen, war eine in jeder Beziehung vollendete. Herr Max Dawison als Träger der Achillesrolle, bot seinen ganzen künstlerischen Geschmack aufs, um die arg verzeichnete Heldengestalt vor Mißverständnissen zu retten. Seinem Achilles muthet der Hörer jedenfalls mehr Heldenthum zu, als Dichter und Komponist erwarten konnten. Stimmliche Wiedergabe wie Darstellung vereinigten sich da zu einem vornehmen Ganzen. Auch Frl. v. Ruttersheim, von der wir antike Bühnengestalten stets gerne dargestellt sehen, führte sich durch ruhige Plastik des Ausdrucks sehr günstig ein. Herr Magnus Dawison verwendete an den Priamos viel Mühe, ohne gleichzeitig auch die Wärme für seine dankbare Scene zu finden. Hoffentlich werden weitere Reprisen dem strebsamen jungen Sänger neue Anhaltspunkte gewähren. In kleineren Rollen wirkten Herr Haydter (Agamemnon), Laubner (Automedon) und Frl. Carmasini (Thetis) dankenswerth mit.

Die Leitung der Oper durch Capellmeister Markus verdient alles Lob.

Nicht unerwähnt darf ein drolliger Schnitzer bleiben, den sich die Regie zu schulden kommen ließ. Dem mit der Geschichte des Alterthums vertrauten Publicum – und zu diesem zählt ja auch die zumeist in reicher Anzahl im Theater vertretene Studentenwelt – mußte es mehr als befremdlich erscheinen, daß die griechischen Kämpen mit römischen Feldzeichen in das Zelt Achill’s stürzten, auf welchen in großen Lettern das berühmte »S.P.Q.R.« (Senatus Populusque Romanus) zu lesen war. Noch drolliger wirkt dieser Mißgriff, wenn man sich erinnert, daß bei der Premiere der »Kriegsgefangenen« in der Wiener Hofoper dasselbe Versehen unterlief. Zweifellos galt die Inszenierung am Wiener Institute der hiesigen als Vorbild und so dürften auch die römischen Standarten skrupellos mit herübergenommen worden sein.

Der »Kriegsgefangenen» folgte die erste Wiederholung von Freih. v. Prochazka’s »Glück«, über dessen Erstaufführung erst kürzlich eingehend berichtet worden ist. […] Dr. v. B.

(Prager Tagblatt vom 5. März 1899)