Achilleshektografie nach dem 100. Abzuge

Wiener Hofoper.

Am 17. 1. gelangte die neue Oper: »Die Kriegsgefangene« Text von Ernst Schlicht, d. i. Alf. Formey, Musik von K. Goldmark zur ersten Aufführung. Dieses Werk und seine Aufführung bedeuten weder einen Fortschritt auf dem Gebiete der Oper noch einen solchen des musikalischen Werkmeisters für sich selber, auch keinen der Hofoper. Diese »Kriegsgefangene« mag in der Durchschnittsverkehrssprache gesprochen – als sogenannte »anständige« Leistung eines Musikers von Ruf und Erfahrung gelten; etwas Großes, Mustergebendes ist sie nicht. Die Wahl der altgriechischen Vorlage sagt uns gewiß zu. Doch sie erscheint von Vornherein als eine zu gewagte Sache. Die gewaltigen Gestalten Homers und seiner Ilias verlangen eine großangelegte Kunstbehandlung. Diese fehlt hier. Der Text schon ist mißrathen. Er verleitet durch moderne Umfärbungen zu Vorstellungen, die mit der Zeit Homers nicht stimmen und daher die vielen jener Griechenwerke Kundigen – verstimmen. Und wie sanft und matt sind diese Helden abgetönt, die bei Homer es vermögen, so laut wie 10.000 Männer zu schreien oder wie Stiere zu brüllen! Wir verlangen das in der Oper beileibe nicht, aber doch bei weitem mehr männliche Kraft und Größe und nicht diese abgemessene Förmlichkeit. Die Musik Goldmark’s gibt sich damit zufrieden, zwischen den Laufbändchen dieses Textes leidlich einherzugleiten. Ihr fehlt die Schärfe der Charakterisirung, die Stärke des Ausdruckes, von anderen Dingen gar nicht zu reden. Die langen dürren Recitativen dürften besonders bei nicht so ausgezeichneter Besetzung, wie hier, leicht langweilen. Scenenführung und Musik sind, wie ein der Oper sehr lobreich zugeneigter Wiener Beurtheiler am a. O. schreibt, zum Theile so wenig verständlich, »daß die Zuschauer nicht recht wußten, was sie aus den befremdenden Vorgängen machen sollten«!! Auch betreffs der Einzelnheiten ist die Ausbeute schwierig.

Deutsches Volksblatt vom 5.2.1899

 

Der »Kriegschor« ist kurz und wenig gewählt in der Erfindung. Die Nereiden-Gesänge sprachen an, wenn gewisse Declamationsschwächen überhört wurden. Zum Besten der Oper gehört das Orchesterstück inmitten des 1. und 2. Auszuges. Nur spricht es mehr aus der Vergangenheit, denn aus der Gegenwart oder gar Zukunft. Poetisch und musikalisch wohl am meisten anmuthend ist die Scene, in welcher Briseïs »Die Kriegsgefangene«, welche den tief grollenden und trauernden Achill in Liebe zur Liebe versöhnen und neu beleben soll, fraulich-traulich am Herde wallet und den Heiltrank bereitet. Frl. Renard verstand es wie so oft schon auch dieser Rolle äußere Anmuth und innerliches Leben zu verleihen. Herr Reichmann fand sich mit der verblaßten »Achilleshektografie nach dem 100. Abzuge« immerhin erträglich und als Sänger sogar trefflich ab. Die übrigen Rollen sind nicht von Belang. Das Hofopernorchester unter Mahler’s Leitung spielte mit bekannter Vorzüglichkeit. – a –

(Die Lyra vom 1. Februar 1899)