Altmeister Gluck zum Vorbilde genommen …

Feuilleton.
Die Kriegsgefangene.
Oper von Karl Goldmark.*)

So oft Karl Goldmark mit einem neuen musikdramatischen Werke auf den die Welt bedeutenden Brettern erscheint, können wir sicher sein, daß wir einer bedeutsamen Darbietung gegenüberstehen werden. Der Componist der in ihrer Art classischen biblischen Oper »Die Königin von Saba« liebt es nicht, mit Unreifem vor das Publikum zu treten, er prüft selbst sorgfältig sein Opus, bevor er es in die große Oeffentlichkeit sendet. Und so können wir auch in der jüngsten Novität der Hofoper die Emanation eines hervorragenden Geistes, das Werk eines der bedeutendsten Componisten der Gegenwart freudig begrüßen, wenn es auch an Einheitlichkeit und Eigenart hinter dem oben genannten Meisterwerke des Tonsetzers zurücksteht.

Goldmark hat diesmal seinen Stoff dem alten trojanischen Heldensange Homer’s entnommen und zur Tragik der Patroklos-Episode die Briseïs-Episode als lyrisches Gegenstück gesellt. Freilich, der Achill der Goldmark’schen Oper ist – vorzüglich im zweiten Acte – nicht der Achill Homer’s, aber unsere moderne Zeit hat keinen Sinn mehr für attisches Heldenthum, und so mußte sich der Tonsetzer an der Hand eines Textes von Emil Schlicht**) ein Gemisch von classischem Heroismus und romantischem Liedesleben zusammenbrauen, um einen für unsere Tage halbwegs tauglichen Stoff für sein Werk zu gewinnen. Der erste Act setzt mit einer düsteren Todtenklage der Griechen um den gefallenen Patroklos ein – des von Hektor Getödteten Asche wird zur Ruhe bestattet, dann folgt ein kurzes Auflodern des Hasses und des Rachedurstes, und daraus wieder ein wildes Klagen Achilles’, dem auch die Erscheinung der Mutter des Helden, Thetis, kein Ziel setzen kann, in das aber das Erscheinen der, von Agamemnon dem Achill wieder gegebenen Kriegsgefangenen Briseïs ein erstes, leises Liebesweben einflicht. Im zweiten Acte bereitet Briseïs dem von des Schmerzes Größe und Jammer niedergedrückten, verzweifelnden Achill den Heiltrank; der Trank, den sie gemischt, lindert die physische Qual, und ihr holdes Wesen träufelt Achill Milde und Frieden in die Seele. Auf Briseïs’ Bitten, die sie mit jenen des Priamos vereinigt, gibt Achill den Leichnam Hektors frei. Aber auch Briseïs selbst hat der Held die Freiheit wiedergegeben, das königliche Schiff steht schon bereit, die Magd den heimathlichen Ufern zuzuführen. In der Stunde der Scheidung lodert aber in Achill mächtig die Liebe zu Briseïs empor und auch diese hat Achillen ihr Herz zu eigenen gegeben, und in wildem Aufjauchzen der Freude haben sich Beide gefunden. Und als die Sonne sich über den blitzenden Fluchen erhebt, als die Fürsten und Krieger zur letzten Schlacht gerüstet stehen, da liegt Briseïs selig an Achilles’ Brust – dem Feinde hat Achill eine Waffenruhe zur Bestattung der Leiche des Patroklos [recte: Hektor] gewährt und statt Mars tritt Aphrodite die Herrschaft an.

Neue Freie Presse vom 21.1.1899

 

Wie der Textdichter hat auch der Tonsetzer hauptsächlich zwei Farben auf seine Tonpalette gesetzt – das düstere Violett der Trauer und das leuchtende Roth der Liebe. Jenes herrscht im ersten Acte, dieses im zweiten, und zwischen den beiden Abschnitten der Handlung hat Goldmark ein Zwischenspiel gesetzt – wohl nachträglich componirt – das in kriegerischen Klängen einsetzend, dann in rührende Töne der Trauer übergehend, in eine Hymne der heißen, flammenden Liebe ausklingt und so den ganzen Stoff der Oper in ein gewaltiges musikalisches Tonbild zusammenfaßt. Die düsteren, ernsten Klageweisen des ersten Aktes haben sich Altmeister Gluck zum Vorbilde genommen, die bald milden, bald wildheißen Liebesweisen des zweiten Actes aber – gleich den dialogisierenden Stellen – R. Wagner’s Kunst zum Wegweiser erkoren; freilich ist es nicht ein Anempfinden, ein Anlehnen im eigentlichen Sinne des Wortes, das wir meinen, aber unwillkürlich gemahnt die Sprache Goldmark’s in seinem neuesten Opus an jene der genannten Meister – es ist derselbe Grundzug, der in beiden herrscht. Mächtig ergreifen die Klagen des Chores beim großen Todtenopfer, fiebernd heiß glühen durch die Adern die Liebesgesänge, da sich Herz zu Herz gefunden, und ein Zug heroischer Größe geht dabei durch das Ganze. Gar sittsam tönt im ersten Acte in das klagende Grundthema das erste Aufblitzen der Macht Aphroditens. – »Wie wundersam! Mir das ein Weib! Sie zwingt mir Zorn und Zweifel nieder!« so Achill, da er zum erstenmale der neugewonnenen Briseïs wieder in’s Auge geblickt – und nachdem die Magd ihm den Heiltrank bereitet und das glühend ausklingende Achill-Lied ihm gesungen, tönt dieses Liebesmotiv neu und kräftiger auf in dem Sange, da Achill sein Herz begreift – und dann hebt sich zum jubelnden Hymnus der Schluß des Achill-Liedes im letzten Liebessange der Vereinten: »Die Liebe zieht ein, Dein Lenz Dir blüht, es jauchzt beglückt mein Herz! Es glüht von ewiger Frühlingspracht. Die Liebe, die ewige Liebe!«

Die Darstellung der Novität in der Hofoper war eine glänzende, Frl. Renard schuf in der Briseïs schauspielerisch und sanglich wieder eine herrliche Gestatt aus einem Guße, und der Achill Reichmann’s stand zumindest gesanglich auf gleicher Höhe. Rührend war der Priamus des Herrn Hesch und wacker secundirten Herr Neidl als Agamemnon, Herr Pacalals Automedon und Frl. Walker als Thetis. Ausgezeichnet war das Orchester unter Director Mahler’s Leitung, prächtig die Ausstattung. Die Novität konnte sich im ersten Acte nur einen Achtungserfolg erringen; nach dem Vorspiele zum zweiten Acte und nach diesem selbst war der Erfolg zu einem vollgütigen geworden. Mz.

*) Zum erstenmale in der k. k. Hofoper ausgeführt am 17. Jänner 1889.
**) Das Textbuch nennt als Verfasser des Textes Emil Schlicht, der Theaterzettel bezeichnet als solchen Ernst Schlicht; in Wirklichkeit entstammt der Text der Feder des Wiener evang. Pastors A. Formey.

(Montags Zeitung vom 23. Januar 1899)