… sehr vornehm und geschmackvoll gehalten

Hofoper. »Die Kriegsgefangene.« Oper in zwei Acten von Carl Goldmark, nach einem Text von Emil Schlicht. Erstaufführung am 17. Jänner 1899.

Der Ruhm, den sich Goldmark durch seine »Königin von Saba«, durch seinen »Merlin« und sein »Heimchen am Herd«, durch seine zahlreichen Orchesterwerke (darunter die berauschende Sakuntala-Ouverture und zwei Symphonien) und durch seine Kammermusikwerke errungen, wird durch die neue Oper »Die Kriegsgefangene« sicher nicht vergrößert werden. Goldmark zählt heute 67 Jahre, und in diesem Alter schafft man keine neuen epochemachenden Werke mehr. Zudem ist das Textbuch der neuen Oper ein sehr unglückliches. Es behandelt die Brisëis-Episode der Iliade. Achilles, der grimme und göttergleiche Held, hat seinen Freund Patroklus begraben und wüthet fürchterlich in seinem Zorne gegen die Troer und gegen den Leichnam des im Kampfe mit Patroklus gefallenen Hektar. Drei Tage schon schleift er den todten Hektor durch das Lager. Da tritt ihm die kriegsgefangene Brisëis entgegen, besänftigt Achilles, bewegt ihn dazu, den Leichnam an Priamus, den Vater des Patroklus, auszuliefern, und lehrt ihn – Liebe. Das ist die ganze Handlung einer zweistündigen Oper, zusammenhanglos, herausgerissen. Die Handlungsweise der Personen, besonders der Brisëis, bleibt ganz unmotivirt und daher unverständlich. Die Charaktere sind total verzeichnet; der Achilles des Herrn Schlicht (Pastor Formey) ist ein weinerlicher, sentimentaler Mann, aber nicht der eherne, kriegsgestählte Held der griechischen Sage. Wirkungsvolle Momente enthält bloß die Scene, in der Priamus um den Leichnam des Sohnes fleht, und die Schlußscene der Oper, in der Achill seine Liebe zu Brisëis entdeckt. Dieses Schlußduett zwischen Achill und Brisëis bildet auch musikalisch den Höhepunkt der Oper. Hier allein schlägt der Componist warme, unmittelbar zu Herzen gehende Töne an. Die ganze übrige Oper ist sehr vornehm und geschmackvoll gehalten, aber sie läßt den Hörer kalt. Goldmark verließ in der »Kriegsgefangenen« wieder den volksthümlichen Liederstyl des »Heimchens am Herd«; die Oper ist vielmehr mit Vermeidung geschlossener Gesangsformen »durchcomponirt«.

Wilhelm Hesch (»Priamus«)


Die Chöre haben kunstvollen, polyphonen Charakter; die erste (Chor-) Scene, in welcher Achilles seinen gefallenen Freund Patroklus begräbt, ist hiedurch sehr stimmungsvoll, wenn auch nur wenig originell. Hervorzuheben wäre außer dem Schlußduett nur mehr das glanzvolle orchestrale Zwischenspiel zwischen den beiden Acten und etwa noch die Scene zwischen Priamus und Achill. – Die Aufführung war eine vollkommene. Der nie erlahmende, Alles befeuernde Geist Mahler’s leitete die Vorstellung. Reichmann verschwendete all seine Kraft an den Achilles ; es war für ihn eine schwierige und undankbare Aufgabe. Fräulein Renard versuchte mit Erfolg, durch ihre Schönheit an der Brisëis gutzumachen, was der Librettist an ihr verbrochen hatte. Hesch holte aus der kleinen Rolle des Priamus gesanglich und schauspielerisch schier mehr heraus, als sie eigentlich zu enthalten schien. Die Oper errang bei der Premiere einen bloßen Achtungserfolg, der sich nur wegen der bedeutenden Leistungen der Sänger und in Hinblick auf den anwesenden Componisten wärmer gestaltete. – Der Abend wurde ausgefüllt durch die »Melusine«, ein sehr verblaßtes Ballet; es war für jenen Theil des Publicums, der muthig bis zum Schluß ausharrte, schwer zu entscheiden, ob die bis auf zwei oder drei Nummern ganz unbedeutende Musik Doppler’s oder die verstaubten Decorationen oder die saloppe Aufführung an der gähnenden Langeweile schuld war, die sich während des Ballets gleichmäßig über das Haus verbreitete.

(Danzers Armee-Zeitung vom 19. Januar 1899)